Das Sanremo-Syndrom

Am 5. Februar fand das große Finale des jährlichen Sanremo-Festivals statt, das nach seinem ligurischen Austragungsort benannt ist. Das populäre „Festival des italienischen Liedes“ (so die offizielle Bezeichnung) blickt auf eine einundsiebzigjährige Geschichte zurück, mit wechselndem „Konzept“ und Publikumserfolg. Zunächst wurde es im Radio übertragen, dann im Fernsehen ausgestrahlt.

Seitdem meine Familie über einen Fernsehen verfügte, war es während des mehrtägigen Festivals auch für uns klar: „Heute Abend gibt es Sanremo“ (Ausnahme: unser Vater, der Richter, der sich lieber in seinem Arbeitszimmer verschanzte, um Gerichtsurteile zu schreiben). Als Kind fand ich es toll, weniger wegen der Sänger und deren Lieder, die an mir vorbeirauschten, als wegen der Möglichkeit, länger aufzubleiben und gemeinsam mit den großen Schwestern „gucken“ zu dürfen. Später hing meine Begeisterung davon ab, ob Musikangebot und Interpreten meinem Geschmack entsprachen: Waren Celentano und Mina dabei, saß ich vor der Glotze. Auch Modugno fand bei mir Gnade. Trat Claudio Villa auf, dessen Qualität ich erst viel später erkannte, oder zwitscherte Gigliola Cinquetti „Non ho l’ età per amarti …“, machte ich mich davon. Und nach meiner Auswanderung nach Deutschland zu Beginn der 70er Jahre verschwand „Sanremo“ aus meinem Leben, ohne dass ich es gemerkt, geschweige denn vermisst hätte.

Zelebrierte Mittelmäßigkeit

Das diesjährige Festival wurde im Staatssender RAI 1, der auch Veranstalter war, von mehr als 13 Millionen Italienerinnen und Italienern verfolgt, was in etwa einem Sechstel der italienischen Bevölkerung entspricht. Das ist zwar viel, aber weit weg von der Mehrheit. Überproportional war demgegenüber das öffentliche Echo, sowohl in den Medien als auch in den sozialen Netzwerken.

Der Moderator mit den Gewinnern Blanco und Mahmood

Fünf Tage lang dauerte das Mega-Event, bei dem 25 Sänger vor bombastischer Kulisse neue Songs präsentierten. Der beliebte Moderator Amadeus, der sich im Zustand permanenter Verzückung befindet, verteilte charmant Handküsse und Schulterklopfen und zelebrierte jeden einzelnen Auftritt wie ein kulturelles Jahrhundertereignis.

Ich selbst saß nur an einem Abend für die Dauer von 30-40 Minuten (Gesamtdauer des jeweiligen Abends: 4 Stunden) vor dem Fernsehen. Mehr habe ich nicht geschafft. Einige Ausschnitte habe ich mir dann später im Internet angeschaut bzw. angehört. Was ich sah bzw. hörte, fand ich ernüchternd: Musik und Interpreten (bestenfalls) mittelmäßig, die Texte banal oder „pseudo-poetisch“, manchmal schlicht blöd. Nicht einmal die bewährten Altstars der italienischen „musica leggera“ – Gianni Morandi, Massimo Ranieri, Iva Zanicchi – konnten die Lage retten, ihre Stimmen haben, was kein Wunder ist, an Kraft verloren. Auch ihre Beiträge waren enttäuschend (wenn auch manchmal gut gemeint wie Ranieris Lied „Lettera al di là del mare“, das sich auf die Flüchtlingstragödien im Mittelmeer bezieht).

Na und? könnte man sagen, letztlich unwichtig. Unterhaltungsveranstaltungen dieser Art gibt es überall in reichlicher Anzahl. Spuren hinterlassen sie nicht. Was in diesem Fall den Unterschied macht, ist der Ausmaß des Medienechos, das ein zweitklassiges Musikspektakel zu einem kulturellen Ereignis von nationaler Bedeutung hochstilisiert. Tageszeitungen, Fernsehen und social media widmeten sich dem Thema mit einer Intensität und einer Begeisterung, die mir unbegreiflich sind (vielleicht weil ich schon so lange in Deutschland lebe).

Das Festival habe den Italienern wieder die Lebensfreude (Amadeus nannte es „Festival della gioia“) und Zuversicht zurückgegeben, und mutig dem gesellschaftlichen Wandel Raum und Ausdruck geboten. So der Tenor der meisten medialen Reaktionen. Letzteres bezog sich vor allem darauf, dass die ganze Veranstaltung im Zeichen von politischen Korrektheit, Gender-Mainstreaming und Geschlechterdiversität stand, was sich in der Auswahl der Interpreten sowie der musikalischen und auch sonstigen Beiträge von Gästen und Moderatoren ausdrückte, von dem „genderkonformen“ Auftritt der Ko-Moderatorin Drusilla Foers (alias Gianluca Gori) bis zum Monolog von Roberto Saviano anlässlich des 30. Jahrestages der Ermordung des Antimafia-Richters Giovanni Falcone.

Eine (negative) Ausnahme stellte die Performance des Sängers Achille Lauro dar, der im Anschluss an sein grottenschlechtes Lied „Domenica“ – vorgeführt mit nacktem tätowiertem Oberkörper und eindeutigen Gesten à la Michael Jackson – eine Art Taufszene inszenierte, bei dem er sich, mit den Hüften kreisend, aus einer Schale Wasser über den Kopf goss. Der empörte Ruf „Blasphemie“, der prompt aus katholischen Kreisen kam, ist natürlich Unsinn, allerdings genauso unsinnig wie die Performance selbst, entstanden aus der Absicht, sich mit einem billigen Tabubruch mediale Aufmerksamkeit zu verschaffen.

Kollektive Psychotherapie“ der Nation?

Der leitende Direktor von RAI 1, Stefano Coletta, war – nicht überraschend – über den Erfolg, die Medienresonanz und die hohen Zuschauerquoten (58,4% im Durchschnitt, das beste Ergebnis seit 1997) begeistert. Durch die „Eventisierung“ des Festivals und dank der „Fluidität und Offenheit“ des Konzeptes sei es gelungen, die Menschen anzusprechen und einzubeziehen, insbesondere die Jugend. Das hohe Ziel, „alle gemeinsam Spaß zu haben“, sei in und außerhalb des Ariston-Theaters erreicht worden. Mehr noch: „Sanremo war eine kollektive Psychotherapie, die wir alle gebraucht haben“, setzte er hinzu. Eine Diagnose, die schon allein deswegen daneben liegt, weil die über 13 Millionen Italiener, die sich der „Sanremo-Therapie“ unterzogen haben, zwar viele, aber nicht „wir alle“ sind. Zum Glück.

Bleibt das Staunen, warum einem solchen Ereignis in Italien – anders als in den übrigen Ländern Europas, soviel ich weiß – eine derartige Bedeutung beigemessen wird. Nicht allein seitens der Popmusik-Liebhaber und Unterhaltungsmedien, sondern auch von der „seriösen“ Presse und nicht zuletzt der Politik: Etliche bekannte Politiker des Landes, und zwar aus allen Lagern, ließen es sich nicht nehmen, die Auftritte von Sängern, Moderatoren und Gästen in den sozialen Netzwerken zu bewerten und zu kommentieren.

Sogar der Staatspräsident bringt sich ein

Sogar der stets zurückhaltende Staatspräsident Mattarella mischte sich ein, indem er höchstpersönlich auf eine „Hommage“ des Moderators Amadeus reagierte. Dieser hatte ihm am dritten Abend überschwänglich für seine Bereitschaft gedankt, sein zweites Mandat anzunehmen, und ließ ihm zu Ehren das Lied von der einstigen Popikone Mina „Grande, grande, grande“ vom Orchester aufspielen. Am nächsten Tag teilte der Moderator tief bewegt und mit Tränen in den Augen bei einer Pressekonferenz (!) mit, der Staatspräsident höchstpersönlich habe ihn angerufen, um sich zu bedanken und zu sagen, dass er „gerührt“ über die Ehrung gewesen sei, wobei er sich als großer Fan von Mina geoutet habe (womit er wenigstens guten Geschmack bewies, MH). Da fehlten nur noch eine Videobotschaft von Ministerpräsident Draghi hinter seinem Schreibtisch im Palazzo Chigi oder vom Papst aus dem Vatikan.

Mit meiner Laienmeinung über die niedrige Qualität des „Festivals della gioia“ stehe ich übrigens nicht allein. An meiner Seite steht auch mein einstiger gymnasialer Italienischlehrer, ein profunder Kenner nicht nur der Literatur, sondern auch der Musik in allen ihren Ausdrucksformen, der trotz seines hohen Alters gerne auf Facebook unterwegs ist. Dort hat er über das Ganze ein vernichtendes Urteil gefällt: „Von deprimierender Banalität und musikalischer Armut. Dies mag unwichtig erscheinen, da es ‚nur um canzonette‘ geht, doch das kulturelle Niveau einer Bevölkerung kann man auch an der Art und Weise messen, wie sie sich amüsiert“. Es gäbe sehr wohl in Italien Interpreten und „musica leggera“ von hoher Qualität – aber nicht beim Sanremo-Festival. Dies sei vielmehr „der Spiegel eines kulturellen Niedergangs“. Magister docet.

PS: Ich hatte vergessen, die glücklichen Gewinner des Festivals zu erwähnen: es sind Blanco und Mahmood, ein junges Duo, dessen Lied „Brividi“ („Schauder“) sowohl die Jury als auch die Teilnehmer am „Televoting“ begeisterte. Bei mir haben weder Song noch Gesangleistung freudige Schauder verursacht, eher das Gegenteil (besonders bei den Passagen im Falsett) . Wer mag, kann sich bei Youtube seine persönliche Meinung bilden.

3 Kommentare

  • Pico Jordan

    Naja, zu Schlagern kann man stehen wie man will. Ich bin da sehr pluralistisch. Neben einer Schlagersammlung bin ich auch in allen Genres unterwegs. Und der italienische Schlager ist eben der Urschleim des Schlagers. Und wenn aus diesem Urschleim ein Lied in San Remo gewinnt, welches über eine homosexuelle Liebe erzählt, ist vielleicht das schon die gute Nachricht in einem Italien, welches von den Salvinies und Berlusconis kulturell fast verwüstet worden ist. Früher habe die Schlagerstars und Sternchen eine vom Mainstream abweichende sexuelle Einstellung verschweigen müssen, heute können sie damit Preise gewinnen!
    Bella Italia!
    Pico Jordan

  • Jürgen Koch

    Erfreuen wir uns an den großartigen canzoni, die uns etwa der San-Remo-Gewinner Domenico Modugno in den Jahren 1958 („Nel blù dipinto di blù“, weltweit erfolgreich und bekannt als „Volare“) und 1959 („Piove“, vielen Menschen als „Ciao, ciao bambina“ im Ohr), als unvergänglich beschert hat.
    Die Zeit der großen italienischen Cantautori hat spätestens in den 80ern des vergangenen Jahrhunderts ein Ende gefunden; ähnlich war die Entwicklung m.E. in Deutschland und Frankreich.
    Was uns bleibt, ist die wunderbare Erinnerung, verbunden mit dem Gefühl „romantisierender Nostalgie“. Und dazu braucht man kein jährliches San Remo-Festival mit all‘ seinen Absurditäten…
    Ciao belle canzoni!

  • Marcella Heine

    Es geht mir nicht darum, dass es ein Schlager-Festival war (habe ebenfalls nichts gegen Schlager „an sich“, ich dachte, das sei deutlich geworden) – sondern um die niedrige Qualität des Angebots (natürlich aus meiner persönlichen Sicht) und um das absurde medial-politische Brimborium, das dazu in keinem Verhältnis stand. Dass dort auch die homosexuelle Liebe besungen wurde: wunderbar! Aber: was hat das mit der Frage der Qualität von Musik und Gesang zu tun?

    Und ja, ich gestehe: auch ich bin Nostalgikerin der goldenen Zeiten der italienischen „cantautori“ – nach Modugno noch so viele: Gaber, Paoli, Tenco, Endrigo … und von deren wunderbaren Interpreten (evviva Mina!).

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