Italien am Rubikon?

Wenn man den Umfragen glauben kann, würde Italien, wenn jetzt Wahlen wären, ein Sprung ins Dunkle bevorstehen. Denn aus ihnen könnte die 5-Sterne-Bewegung erstmals als Sieger hervorgehen. Im ersten Wahlgang würden mit hoher Wahrscheinlichkeit Renzis PD und Grillos 5-Sterne-Bewegung zu den zwei stärksten Parteien, vielleicht mit einem leichten Vorsprung der PD (auch gemeinsam würden Berlusconis Forza Italia und Salvinis Lega nur Dritte). Die folgende Stichwahl könnten die Grillini knapp gewinnen. Um dann mit der „Mehrheitsprämie“ 5 Jahre lang über eine parlamentarische 60 %-Mehrheit zu verfügen.

Das Undenkbare denken

Dies ist eine Momentaufnahme, Neuwahlen müsste es in Italien eigentlich erst im Frühjahr 2018 geben. Bis dahin kann noch viel geschehen. Trotzdem sollte man sich fragen, was ein solches Ergebnis für Italien bedeuten würde.

Zunächst das Positive: Gegen das Grundübel Italiens, die Korruption, könnte es einen Durchbruch bedeuten, zu dem offenbar alle anderen politischen Kräfte – Renzis PD eingeschlossen – unfähig sind. Auch in der Umwelt- und Sozialpolitik könnte es ein paar Fortschritte geben.

Das Negative: Unklar ist, wie sich die 5-Sterne-Bewegung zum Flüchtlingsproblem verhalten würde. Grillo hat schon gezeigt, dass er hier für rechtspopulistische Rezepte durchaus empfänglich ist. Auch die institutionelle Krise der italienischen Demokratie könnte sein Wahlsieg verschärfen. Casaleggios Phantasien einer direkten parteilosen Demokratie, in der sich die Abgeordneten dem imperativen Mandat des Netzes unterwerfen, sind nicht aus der Welt. Die außenpolitischen Vorstellungen irrlichtern zwischen naivem Pazifismus („mit dem IS verhandeln!“), wilden Verschwörungstheorien und wechselnden Feindbildern. Vor allem könnte es zu Italiens Austritt aus der Eurozone führen – ein Rückschritt mit möglicherweise katastrophalen Konsequenzen für ganz Europa.

Renzis sinkender Stern

Es würde also nicht nur für Italien, sondern für ganz Europa zu einem Vabanquespiel. Wie konnte es dazu kommen? Vor anderthalb Jahren war Renzi noch der Hoffnungsträger. Er versprach, alles umzukrempeln, die Institutionen und die eigene Partei, und die stagnierende Wirtschaft anzukurbeln. Man kann ihm nicht vorwerfen, sein Wort gebrochen zu haben, auch wenn man jetzt sieht, dass die Verpackung seiner Reformpläne glänzender war als ihr Inhalt. Dass der „perfekte Bikameralismus“ abgeschafft wird, ist ein Fortschritt, auch wenn die verbleibende Kammer die politischen Kräfteverhältnisse nur noch verzerrt repräsentieren wird. Die Wirtschaft, der Renzi sozialpolitisch einiges opferte, scheint sich zu erholen, wenn auch nur langsam. Den Dauerstreit mit Brüssel um die Sparpolitik ist halbwegs entschärft. Insgesamt kam Renzi mit den Reformen langsamer voran als angekündigt, aber er zeigte dabei eine neue Tugend: Zähigkeit. Dass „er etwas tut“, bleibt sein Pluspunkt im Lande.

Auch was im rechten Lager geschieht, müsste ihm eigentlich in die Hände arbeiten. Dass sich dort die Gewichte Richtung Salvini verlagern, macht jene früheren Wähler Berlusconis heimatlos, die als „moderat“ einzustufen sind. Renzis Bestreben, mit einer zur „Partei der Nation“ gewandelten PD das Zentrum zu besetzen, müsste es eigentlich entgegenkommen.

Warum gibt es trotzdem die reale Möglichkeit, dass Renzi die nächste Wahl verliert?

Korruption in der PD

Ich sehe zwei Gründe, für die er selbst ein gutes Stück Verantwortung trägt. Der eine ist sein Unvermögen, die PD zu reformieren. Alle Umfragen zeigen, dass sich die Kluft zwischen Renzis persönlichem Ansehen und dem seiner Partei zunehmend vertieft. Renzi gilt als „sauber“, aber die nicht endenden Skandale, in die auch PD-Politiker verwickelt sind, zeigen Wirkung: Auf die Frage, welche politische Kraft Italiens glaubhaft die Korruption bekämpft, antworten 40 % der Befragten, dass es überhaupt keine solche Kraft gibt, 30 % nennen die 5-Sterne-Bewegung und nur 10 % die PD (von Berlusconis Forza Italia erwartet es sowieso niemand). Zwar steckt in diesen Daten auch Heuchelei, weil sich der Zorn über die korrupten „Politiker“ oft sehr gut mit der eigenen alltäglichen Steuerschummelei verträgt. Solange daran niemand rührt, kann man den Zorn sogar echt nennen.

Reicht Renzis persönliches Ansehen, um den Ansehensverlust der PD zu kompensieren? Oder wie kürzlich der Politologe Diamanti fragte: „Kann ein Premier ohne Partei eine Zukunft haben?“ Wer Renzi wählen will, muss noch sein Kreuz bei der PD machen, und immer mehr Leuten fällt dabei der Kugelschreiber aus der Hand Bei den letzten Kommunal- und Regionalwahlen weigerte sich die Hälfte aller Wahlberechtigten, überhaupt abzustimmen, darunter viele bisherige Stammwähler der PD.

In Wahrheit sinkt auch Renzis Ansehen, allerdings langsamer als das seiner Partei. Immerhin ist er ihr Generalsekretär. Beim kürzlichen Sturz des römischen Bürgermeisters versagte vor allem die Parteiführung – dort steht nun die PD vor einem Trümmerhaufen. Ein weiteres Beispiel ist die Nonchalance, mit der die Führung die „Primarie“ (Vorwahlen) herunterwirtschaftete, obwohl ihnen Renzi auch den eigenen Aufstieg verdankt. Einmal gehörten sie zum demokratischen Tafelsilber der PD.

Renzis Umgang mit der eigenen Linken

Es ist wahr, die linke Szene Italiens neigt zum Sektierertum: Prinzipienfestigkeit ist wichtiger als Veränderung, Kompromiss ist Verrat, mein Hauptfeind ist der Halblinke neben mir. Aber Renzi schüttet das Kind mit dem Bade aus, wenn er jeden parteiinternen Kritiker (Bersani) mit demonstrativer Verachtung straft. Die PD wird personell entkernt, wenn es in ihr nur profillose Nickemänner und –frauen geben darf. Die Zahl derer wächst, die darin nicht nur eine Führungs-, sondern auch Charakterschwäche Renzis sehen.

Immer offener droht jetzt ein Teil des linken PD-Flügels, mit der SEL eine neue linke Partei zu gründen. Die Gruppe hat schon mal angekündigt, bei der Wahl des nächsten römischen Stadtrats vielleicht die 5-Sterne-Bewegung zu unterstützen – auch gegen die PD. Ist das schon ein Probelauf für die nächsten nationalen Wahlen? Da die Mehrheiten knapper werden, können ein paar Prozente mehr oder weniger alles verschieben.

Das Direktorium: 5 Sterne

Das Direktorium: 5 Sterne

Renzi hoffte lange, dass seine Rechnung trotzdem aufgeht, d. h. dass er mitterechts doppelt gewinnt, was er links verliert. Aber er scheint dabei das Lagerdenken der meisten Mitterechts-Wähler übersehen zu haben. Und auch die 5-Sterne-Bewegung hat er unterschätzt. Denn auch sie bewegt sich. Im Moment ist sie dabei, ihren Übervater Grillo zumindest optisch etwas in den Hintergrund zu drängen: Sein Name verschwindet aus dem Logo, es gibt ein „Präsidium“, seriösere Leute treten nach vorn. Bisherige Berlusconi-Wähler könnten eher davon als von Renzi angezogen werden. Zumal die 5-Sterne-Bewegung immer noch die „politische Kaste“ angreift, Linke inklusive, was auch einst Berlusconi zu versprechen schien. Dass die 5-Sterne-Bewegung die nächste Wahl gewinnen könnte, wird von nun an ein Vademekum der italienischen Politik sein.

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