Die 5 Sterne und der chinesische Drache

Der 12. Juni sollte für Beppe Grillo ein Feiertag werden. Der chinesische Botschafter hatte ihn wieder einmal in seine römische Residenz eingeladen, Beppe wollte hin. Denn wenn die größte Macht der Erde Interesse am persönlichen Gespräch mit ihm zeigt, der zwar kein öffentliches Amt hat, aber eine politische Bewegung repräsentiert, die immer noch die stärkste parlamentarische Kraft ist, kann man nicht Nein sagen. Grillo pflegt seit Langem freundschaftliche Beziehungen zur chinesischen Botschaft, und sorgte auch diesmal schon für ein gutes Gesprächsklima, indem er im Blog die westlichen Berichte über die chinesische Uiguren-Verfolgung „unglaubwürdig“ nannte und Anfang Juni einen „unabhängigen Bericht“ einer (anonymen) Beobachtergruppe publizierte, die unter dem Titel „Komplexität verstehen und Frieden schaffen“ die chinesische Lesart des Uiguren-Konflikts herunterbetete.

Contes Absage

Die Voraussetzungen schienen also gegeben, dass alles in schönster Harmonie verlief. Wenn da nicht eine Marginalie ins Spiel gekommen wäre, aus der unversehens ein Misston wurde: Grillo wollte Giuseppe Conte mitbringen, der sich – bisher mit Grillos Billigung – anschickt, zum zweiten starken Mann der Bewegung zu werden. Seine Teilnahme hätte dokumentiert, dass Grillo hier nicht als individueller  Sympathisant, sondern als Repräsentant der 5-Sterne-Bewegung auftrat. Ein schöner Plan, als dessen Schwachpunkt sich jedoch der unerwartete Eigensinn Contes erwies, der im letzten Moment seine Teilnahme absagte. Was Grillo vor das ärgerliche Problem stellte, nun eine Absage erklären zu müssen, deren fadenscheinige Begründung („andere Termine“) den Verdacht nahelegte, dass hinter ihr in Wahrheit andere Motive steckten. Grillos Ärger über Conte ist, wie man hört, bis heute nicht abgeklungen.

Der wahre Grund dürfte ein anderer Termin gewesen sein, der zwar nicht Grillo oder Conte direkt betraf, den aber zumindest Conte zu berücksichtigen hatte, während ihn Grillo (absichtlich?) „übersehen“ hatte: Am 12. Juni befand sich Ministerpräsident Draghi in Cornwall, um an einem G7-Gipfel teilzunehmen. Und den US-Präsident Joe Biden, wie er schon vorher erklärte, nutzen wollte, um ein Bündnis gegen die die neue Weltmacht China zu schmieden. Vor diesem Hintergrund verlor die Einladung der Botschaft ein Stück ihrer Unschuld: Ihre Annahme sollte zeigen, dass China trotz Bidens Initiative „in Europa noch Freunde hat“. Und zwar Freunde, die sogar Draghis Regierungsbündnis angehören.

Souveränistische Blütenträume…

In den Flitterwochen …

Dies hat seine Vorgeschichte. Denn die Annäherung, welche die Einladung eigentlich nur fortsetzte, begann schon im März 2019, also in der Zeit von „Conte1“, als 5SB und Lega noch Verbündete waren. Dem offenen Antieuropäismus hatten sie zwar aus Gründen der Opportunität abgeschworen (die Mehrheit ihrer Wählerschaft war dagegen), aber die Neigung zu Alleingängen im außereuropäischen Bereich war geblieben, wobei Salvini den großen Bruder eher in Moskau, Grillo (mit Conte und Di Maio im Schlepptau) eher in Peking suchte (Trump hofierten beide). Das Angebot Pekings, sich der Road and Belt Initiative (BRI) anzuschließen, schien der damaligen italienischen Regierung einen genialen Coup zu ermöglichen: Italien, das sich immer noch als Opfer einer knauserigen EU sah, den Zugang zu riesigen Finanzierungsquellen und einer privilegierten Handels- und Investitionspartnerschaft zu öffnen, und aller Welt zu zeigen, wozu eine eigenständige Außenpolitik fähig ist, die auch ohne Brüssel zwischen den Weltmächten operiert. Aber auch China konnte in dem Abkommen einen Erfolg sehen: Italien war das erste größere westliche Land (ein „G7-Land“!), das sich anschloss. So wurde es auch von China mit entsprechender Aufmerksamkeit bedacht: Ministerpräsident Xi, der damals eine Promotions-Tour durch Europa unternahm, begann sie demonstrativ in Rom, wo er erst einmal mit Italien ein Abkommen mit dreijähriger Laufzeit unterzeichnete, dem weitere folgen sollten. Alle waren happy, nur Staatspräsident Mattarella nörgelte noch ein wenig, indem er beim obligatorischen Empfang Xis das Thema Menschenrechte ansprach.

… und Frost

Auf die Blütenträume fiel bald Reif. Im Sommer 2019 zerbrach das Bündnis zwischen 5SB und Lega und wurde durch das Bündnis 5SB-PD ersetzt, Di Maio wurde Außenminister und begann seine Wandlung zum Atlantiker. Die Pandemie brachte auch die chinesischen Investitionspläne ins Stocken. Im Oktober 2020 zog ein Bericht des Turiner World Affairs Institute („La Cina: sviluppi interni, proiezione esterna“) eine erste ernüchternde Zwischenbilanz: „Wenn die italienische Seite bei der Unterzeichnung des Abkommens über die Seidenstraße auf eine Erhöhung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen hoffte, so lässt sich 18 Monate später feststellen, dass dies allzu optimistisch, wenn nicht gar eine Täuschung war. Weder hat sich der italienische Export nach China, noch haben sich die chinesischen Investitionen in Italien nach dem Abschluss des Abkommens sonderlich erhöht“. Noch desillusionierender fiel eine während der Pandemie groß angekündigte „Hilfe“ aus: Die massenhaft angelieferten Masken erwiesen sich als überwiegend unbrauchbar.

Dann veränderten sich auch die politischen Rahmenbedingungen. Die wichtigste Änderung war der Wechsel der US-Administration, welche Di Maios Konversion beschleunigte: Die neue Biden-Administration lud ihn als ersten ausländischen Außenminister nach Washington ein. In Italien wurde Draghi Ministerpräsident, der bekennende Atlantiker, mit der 5SB im Bündnis und Di Maio weiterhin als Außenminister.

Bidens Gegenplan…

Biden will der wirtschaftlichen und politischen Expansion Chinas mit einem Plan begegnen, der sich nicht nur auf Strafzölle beschränkt, sondern dem Seidenstraßenprojekt eine globale Alternative entgegensetzt und dazu die Solidarität der Europäer einfordert. Zwar scheint es diesen gelungen zu sein, der dichotomischen Weltsicht Bidens ein Stück Differenzierung entgegenzusetzen, indem sie daran erinnerten, dass es nicht genügt, in China nur den ökonomischen Konkurrenten und ideologischen Gegner zu sehen, sondern dass man es im Kampf gegen die Klimakatastrophe auch als Partner braucht. Aber der Forderung Bidens wurde im Grundsatz zugestimmt, dass man dem chinesischen Seidenstraßenprojekt eine demokratischere und ökologischere Alternative namens B3W (Abkürzung für Build Back Better World) entgegensetzen müsse, das auch ein Investitionsprogramm für die Schwellen- und Entwicklungsländer umfasst.

… und Di Maios Dilemma

Damit befindet sich Di Maio in einem Dilemma: Einerseits sitzen ihm China und Beppe Grillo (vor dem er vielleicht noch größere Angst hat) im Nacken, welche jetzt, wo das Ende der Pandemie in Sicht ist, die Vereinbarung mit China vom März 2019 verlängern wollen. Andererseits drängen ihn Draghi, seine europäischen Amtskollegen und seine neuen Freunde in Washington, aus Chinas „Neuer Seidenstraße“ aus- und in Bidens Gegenprojekt einzusteigen. Zwar sagte Draghi auf seiner Pressekonferenz, dass man das Thema „Italien und Chinas Seidenstraße“ auf der G7-Konferenz nicht angesprochen habe. Aber er ließ trotzdem durchblicken, dass er verstanden hat, was nun von ihm erwartet wird: Er werde das Abkommen vom März 2019 „prüfen“. Soll heißen: Ich lege mich nicht fest, aber das Ergebnis dieser Prüfung könnte sein, dass Italien das Abkommen auf Eis legt.

Damit sitzt Di Maio zwischen zwei Feuern. Die Hoffnung – die er vielleicht noch auf dem Höhepunkt der Pandemie hegte –, dass sich das Thema „neue Seidenstraße“ von selbst erledigt, erweist sich als Illusion: China hat inzwischen deutlich gemacht, dass es das Projekt nicht versanden lassen, sondern Italien beim 2019 gegebenen Wort nehmen will. Wang Yi, der chinesische Außenminister, rief bei Di Maio an, um seiner Erwartung Ausdruck zu geben, sie würden das Projekt  „gemeinsam“ weiter verfolgen, „um die strategische Kommunikation zu intensivieren, das wechselseitige Vertrauen zu stärken und jede Ablenkung auszuräumen“. Hinter dieser Fassade steht auch eine unausgesprochene Drohung: China hat längst begonnen, an Ländern wie Australien, die sich aus dem Abkommen über die Seidenstraße wieder zurückziehen, ein hartes Exempel zu statuieren. Wofür China über einen wirksamen Hebel verfügt: den Zugang zum chinesischen Markt, den es erlauben oder sperren kann. Hinzu kommt Grillos schriller werdende Begleitmusik, die er wenige Tage nach seinem Besuch der chinesischen Botschaft nachlieferte, indem er seinen Blog für einen Beitrag eines Mailänders Dozenten für Moralphilosophie namens Andrea Zhok öffnete: Der G7-Gipfel sei nichts anderes als eine „Ideologie-Parade gegen China“ gewesen, den „perfiden dreigehörnten Feind“, wohinter die „schlichte Tatsache versteckt wird, dass es nicht die Russen oder Chinesen waren, die uns zu den Kolonieen und Protektoraten machten, die wir heute sind“.

Lavieren

Die Fraktionen der 5SB sind desorientiert. Während ihr Mann Petrocelli, der im Senat immerhin Vorsitzender der Kommission für auswärtige Angelegenheiten ist, im Grillo-Blog den anfangs erwähnten Bericht über die „unglaubwürdige“ Verfolgung der Uiguren unterschrieb, stimmten seine Kollegen in der entsprechenden Kommission der Abgeordneten-Kammer für eine Verurteilung der chinesischen Menschenrechtsverletzungen gegen sie.

Und Di Maio laviert. Einerseits verteidigt er das Abkommen, das er vor zweieinhalb Jahren selbst mit protegiert hat, als gut für viele italienische Klein- und Mittelunternehmen, die von ihm profitiert hätten. Andererseits erklärt er Grillos Besuch in der chinesischen Botschaft vom 12. Juni für eine „persönliche“ und somit keine politische Stellungnahme. Und schließlich soll er auch Conte zu seiner last-minute-Absage gedrängt haben.

Draghi wird das letzte Wort haben.  

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