Der verflixte Artikel 18

In seinem Buch „Gekaufte Zeit – die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus“ erzählt Wolfgang Streeck eine bittere Geschichte: die in den 70er Jahren beginnende und bis heute schrittweise fortschreitende Befreiung des Kapitalismus von den demokratischen Fesseln, die ihm die Nachkriegszeit angelegt hatte.

Das Verfassungsgebot sozialer Demokratie

Die Entwicklung Italiens seit 1944 passt ins Bild – mit ein paar Abweichungen hier, ein paar Zuspitzungen dort. Als die Konstituente im Dezember 1947 den Text der neuen italienischen Verfassung verabschiedete, war er der Versuch, Italien auf einen einzigartigen Klassenkompromiss festzulegen: Nach Artikel 1 ist Italien eine „auf Arbeit gegründete demokratische Republik“. Der noch deutlichere Artikel 3 macht es dem Staat zur Pflicht, „alle wirtschaftlichen und sozialen Hemmnisse aus dem Weg zu räumen, welche die Freiheit und Gleichheit der Staatsbürger faktisch beschränken und damit die volle Entwicklung der menschlichen Person und die effektive Beteiligung aller Arbeitenden an der politischen, ökonomischen und sozialen Organisation des Landes verhindern“.

Selten wurde ein Verfassungsgebot schneller und radikaler verraten. Da es in Italien eine starke Kommunistische Partei gab, kam in den Folgejahren das Land unter die besondere Kuratel der USA. Es begann die jahrzehntelange Herrschaft der DC – und in den Betrieben die Ära der Rechtlosigkeit und der Jagd auf die „Roten“.

Erkämpfte Positionen der Arbeiterbewegung

Druck erzeugt Gegendruck. Als Italiens Norden sein „Wirtschaftswunder“ und Vollbeschäftigung bekam, wurden die Beschäftigten konfliktbereiter. In den 60er Jahren erfanden sie die „Delegierten“, mit denen sie in den 70ern – zumindest zeitweise – ihre gewerkschaftliche Spaltung überwanden. Ihre immer „politischeren“ Kampfziele weiteten sich von den Löhnen auf die Arbeitsbedingungen, die Arbeitsorganisation und die Beschäftigtenrechte aus.

Das wichtigste politische Ergebnis war das 1970 verabschiedete „Beschäftigten-Statut“, das das Verfassungsversprechen, staatbürgerlichen Rechten auch hinter den Werkstoren Geltung zu verschaffen, endlich einzulösen versprach. Unter anderem mit einem Artikel 18, der in Betrieben mit mehr als 15 Beschäftigten

  • das Recht der Unternehmen zu Entlassungen wie im deutschen Arbeitsrecht an enge Bedingungen knüpft (z. B. Kündigungen wegen gewerkschaftlicher Betätigung sind nicht zulässig);
  • dem Unternehmen die Beweispflicht vor dem Arbeitsgericht auferlegt, dass zulässige Gründe für eine Entlassung vorliegen; und
  • die Wiedereinstellung erzwingt, wenn das Arbeitsgericht die Begründung nicht anerkennt. Wobei sich in diesem Fall der zu Unrecht Entlassene auch mit einer Abfindung von mindestens 15 Monatsgehältern verabschieden kann.

Der Gegenschlag: die Spaltung des Arbeitsmarkts

Die Kapitalseite sah dies alles mit Missfallen, d. h. als Verschlechterung ihrer Verwertungsbedingungen, und reagierte auch in Italien mit Investitionskrisen. So dass sich die Machtverhältnisse ab dem Ende der 70er Jahre wieder schrittweise zu ihren Gunsten veränderten. Die Unternehmen begannen, den für Normalbeschäftigte erkämpften gesetzlichen Schutz zu unterlaufen, indem sie Neulingen nur noch zeitlich begrenzte Arbeitsverträge anboten. Da sie es systematisch taten, verkehrte sich vor allem für die Jüngeren Schutz in absolute Schutzlosigkeit – nirgends ist heute der Arbeitsmarkt so zweigeteilt wie in Italien.

Wenn es für die Jüngeren nur Arbeitslosigkeit oder das Prekariat gibt, steht die Politik vor einem Legitimationsproblem. Die neoliberale Antwort, für die nun Berlusconi und Alfano Renzi gewinnen möchten, ist simpel: Italien müsse wieder für Investitionen attraktiv werden, und dafür seien Schutzrechte wie der Art. 18 abzuräumen – wie alles, was das freie Wirken der Marktgesetze behindere. Die Antwort auf die Prekarisierung der Jungen soll also die Prekarisierung aller sein. In diesem Sinne nahm schon die Regierung Monti eine erste Korrektur an Art. 18 vor. Aus Rücksicht auf die PD schaffte sie ihn zwar nicht förmlich ab, aber milderte den Automatismus, der bis dahin die Unternehmen zwang, zu Unrecht Entlassene wieder einzustellen, zur Möglichkeit, den Rauswurf auch zu „monetarisieren“.

Eine andere Antwortmöglichkeit

Für die Neoliberalen ist das immer noch zu wenig. Aber wer das Heil nicht von der vollständigen Durchsetzung kapitalistischer Marktgesetze erwartet, für den gibt es Alternativen. Von den Sozialpolitikern der PD wird die Einführung eines Arbeitsvertrags neuen Typs mit „schrittweise wachsendem Kündigungsschutz“ diskutiert. Sie konzedieren, dass in der gegenwärtigen Rezession unbefristete Neueinstellungen für viele Unternehmen tatsächlich ein Risiko darstellen. Dem könnte ein Arbeitsvertrag Rechnung tragen, der den Unternehmen anfangs – z. B. ein Jahr lang – die Freiheit gibt, den Neueingestellten jederzeit zu entlassen, dies aber schon im zweiten Jahr durch längere Kündigungsfristen und teurere Abfindungen erschwert. Und nach drei Jahren ununterbrochener Beschäftigung alles in ein Arbeitsverhältnis nach Art. 18 münden lässt. Ein solcher Arbeitsvertrag müsse zur Regel werden und den Missstand beenden, dass die Unternehmen ihren Arbeitskräftebedarf durch die beliebige Aneinanderreihung von Zeitverträgen abdecken. Der Teufel steckt natürlich im Detail, aber es wäre eine Alternative zum politischen Gestaltungsverzicht.

Man darf gespannt sein, wofür sich Renzi entscheidet. Der Druck zur „Deregulierung“ um jeden Preis ist groß – er geht nicht nur von der politischen Rechten, sondern auch von dem Millionenheer meist jugendlicher Arbeitsloser und prekär Beschäftigter aus. Dass Renzi seine Vorbilder in Blair und Schröder sieht, ist nicht gerade eine Garantie dafür, dass er gegen neoliberale Sirenenklänge immun ist. Erst einmal verschaffte er sich damit Luft, dass er verkündete, die Fixierung der öffentlichen Diskussion auf das „Totem“ Art. 18 hänge ihm zum Halse raus, nun wolle er „das ganze Beschäftigtenstatut neu schreiben“. Eine Drohung? Erst einmal hält alles den Atem an.

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