Warum Putins Krieg? Und warum gerade jetzt?

Vorbemerkung der Redaktion: Dass der Einfall Russlands in die Ukraine ein Verstoß gegen das völkerrechtlich garantierte Selbstbestimmungsrecht ist, wird durch die russischen last minute-Versuche, ihn durch zusätzliche Hilfskonstruktionen zu legitimieren, eher noch bestätigt. Dazu gehört die Anerkennung der beiden ukrainischen Provinzen Donezk und Luhansk, die zu selbstständigen Miniatur-Staaten aufgeblasen werden, um von irgendjemandem die Bitte um Beistand zu bekommen, und dazu gehört auch das Verteilen von Tausenden von russischen Pässen an die dortige Bevölkerung, um einen Vorwand zu haben, den Menschen im Nachbarland, die ja nun zu den „eigenen Leuten“ geworden sind, „zu Hilfe zu kommen“.

Bleiben zwei Fragen: Erstens warum hat Putin überhaupt den Konflikt vom Zaun gebrochen, und zweitens warum gerade jetzt? Wir übersetzen im Folgenden den letzten Abschnitt einer Abhandlung von Gianluca Di Feo und Paola Cipriani, die sie am 14. Februar in der „Repubblica“ online veröffentlichten. Es ist der Abschnitt, der genau diese beiden Fragen zu beantworten sucht – wenige Tage vor Invasionsbeginn.

Die Antwort auf die zweite Frage – warum gerade jetzt? – ist naheliegend: Die USA haben in Kabul eine der größten Niederlagen ihrer Geschichte erlebt und sind in ihrer Handlungsfähigkeit geschwächt, die Nation ist gespalten, und die Nato ist auf eine ernsthafte Auseinandersetzung nicht vorbereitet. Dies gilt auch für Europa – vor allem für Deutschland und Italien, die jetzt für die Naivität bezahlen müssen, sich in die allzu große Abhängigkeit vom russischen Erdöl und Erdgas begeben zu haben. Und Russland hat die vergangenen drei Jahrzehnte genutzt, um eine marode Militärmaschine in ein perfektes Angriffsinstrument zu verwandeln (die im Artikel erwähnte „Kursk“ war das russische Atom-U-Boot, dass 2000 nach einer Explosion auf dramatische Weise unterging).

In der U-Bahn von Kiew

Aber bedenkenswert ist vor allem die Antwort auf die erste Frage – warum überhaupt? -, die der Artikel der beiden italienischen Journalisten liefert. Denn sie geht über die naheliegende Erklärung hinaus, dass die Ursache vor allem in Putins Machtstreben zu suchen sei, d. h. in dem Versuch, die hegemonialen Verhältnisse der alten Sowjetunion wiederherzustellen. Der Schlüssel ist das Zitat aus einem Artikel von Putin, den er im Juli 2021 unter dem Titel „Zur historischen Einheit von Russen und Ukrainern“ veröffentlichte. Er zeigt den ideologischen Kitt, der in Putins Kopf seinem hegemonialen Anspruch Halt gibt: Russen und Ukrainer sind „ein Volk“, das durch „spirituelle, menschliche und zivilisatorische Bindungen“ zusammengehalten werde. Der Gedanke einer spirituellen Volksgemeinschaft stammt aus dem 19. Jahrhundert, in dem er vielfach noch eine historisch vorwärtstreibende Funktion hatte. Heute ist er rückwärtsgewandt – und er wird reaktionär und mörderisch, wenn er zu dem Zirkelschluss führt, dass alle Bestrebungen, sich aus dem ethnischen Gefängnis zu lösen, mit Feuer und Schwert als „Verrat“ bekämpft werden müssen.

Genau dies, so die italienischen Autoren, geschah in Putins Augen in der Ukraine, wo sich sogar die Orthodoxe Kirche gegenüber Moskauer Patriarchen zu emanzipieren beginnt. Für Putin ein Grund mehr, um schleunigst einzugreifen.

Auszüge aus dem Artikel, den Gianluca Di Feo und Paola Cipriani am 14. Februar veröffentlichten:

„Putins Strategie hat zwei fundamentale Ziele. Das erste ist die Anerkenntnis, dass Russland eine Großmacht wie die Vereinigten Staaten ist. Das zweite ist die Schaffung einer hegemonialen Einflusssphäre im postsowjetischen Raum. Das bedeutet nicht nur, den Eintritt der Ukraine in die Nato, sondern auch die Verwestlichung des Landes zu verhindern. Nach dem Sieg der Revolution auf dem Maidan-Platz von Kiew kam es nicht nur zu Regierungen, die sich immer mehr Amerika und Europa näherten, sondern begann sich auch die ganze Bevökerung zu transformieren. Die nationalistische Welle erfasste sogar die orthodoxe Kirche, die sich von der Autorität des Patriarchen von Moskau lossagte – inzwischen feiern immer mehr Familien Weihnachten nicht mehr nach dem byzantinischen Kalender, sondern wie der Westen eine Woche vorher, am 25. Dezember. Eine Veränderung, die den Kreml nicht weniger besorgt macht als der Dialog mit der atlantischen Allianz, weil sie zeigt, dass sich die Ukraine der kulturellen Einflusssphäre Russlands zu entziehen beginnt. Wie Putin schrieb:

‚Wir respektieren den Wunsch der Ukrainer, dass ihr Land frei, sicher und geschützt iat, aber die wahre Souveränität der Ukraine ist nur in Partnerschaft mit Russland möglich. Die zwischen uns bestehenden spirituellen, menschlichen und zivilisatorischen Bindungen wurden in Jahrhunderten geschaffen, durch Prüfungen und Siege gefestigt und von einer Generation an die nächste weitergegeben. Wir waren immer zusammen und dadurch auch stärker: denn wir sind ein Volk‘.

Der russische Präsident hat beschlossen, seine Truppen jetzt in Gang zu setzen, weil die USA gerade besonders schwach zu sein scheinen. Eine von inneren Widersprüchen zerrissene Nation, deren internationale Glaubwürdigkeit durch die Flucht aus Kabul geschwächt ist und sich so sehr auf die Konfrontation mit China konzentriert hat, dass sie in anderen Kontinenten ihre militärische Präsenz reduziert hat. Dieser Kontext hat die Interessen Pekings und Moskaus in der Herausforderung der USA konvergieren lassen. Gleichzeitig lassen die weißrussischen Straßenproteste gegen den Despoten Lukaschenko den Kreml befürchten, dass das Beispiel von Kiew auch Minsk anstecken könne, so dass schnelles Handeln geboten war.

Sanktionen? Putin hat sie schon in sein Kalkül einbezogen. Zumal er gerade in diesem Moment über die stärkere ökonomische Waffe verfügt: das Gas, ohne das Europa nicht bis zum Sommer durchhalten kann. Eine reale Abhängigkeit, trotz des Versuchs von Biden, alternative Lieferer in Quatar zu finden. Die Zisternen-Schiffe mit Flüssiggas können nicht die Zufuhr durch die Gasleitungen ersetzen, zumal die letzte Welle von Cyber-Angriffen auf die Terminals in Deutschland, Belgien und Holland die Fragilität dieser Infrastrukturen ans Licht brachte. Außerdem ist die Moskauer Wirtschaftspolitik seit 2014 darauf ausgerichtet, die Auswirkungen eventueller Sanktionen zu minimieren: durch die Verringerung der Staatschuld und die Konzentration auf die nationale Währung, während die russischen Rohstoff-Kolosse Dollar- und Euro-Reserven anlegten.

Wobei man auch nicht die Lehren der Geschichte vergessen darf. Die gegen Mussolini beschlossenen Sanktionen wegen seiner Invasion in Äthiopien brachten ihn dazu, ein Bündnis mit Hitler zu schließen, wozu es heute auch zwischen Putin und Xi kommen könnte. Für Washington wäre es eine historische Niederlage, und der Kreml hat diese Bewertung schon in sein Kalkül einbezogen. Der neue Zar hat ja auch jetzt schon Resultate erzielt. Er hat der Welt eine militärische Kraft einer Macht vor Augen geführt, die es vermag, Armeen und Flotten über Kontinente hinweg in Bewegung zu setzen. Hundertfünfzigtausend Soldaten, tausende von Panzern, hunderte von Schiffen und Flugzeugen wurden ohne einen einzigen Zwischenfall in Stellung gebracht. Das Bilder der Kursk, die von allein unterging, der Rekruten, die sich in den Trümmern von Grozny verirrten, und der Bomben-Flugzeuge, die ganze Teile verlieren, sind ausgelöscht. Moskau hat gezeigt, es mit jedem aufnehmen zu können, wie in den Zeiten des Zaren und des sowjetischen Imperiums: Putin kann sagen, eine Seite der russischen Geschichte neu geschrieben und damit das Kapitel, das mit der Auflösung der UdSSR entstand, abgeschlossen zu haben. Zur gleichen Zeit hat sich die Nato gespalten und unentschlossen gezeigt. Mit allzu viel Vorbehalten, um noch eine glaubhafte Abschreckungsmacht zu sein. Biden hat die militärischen Interventionen so weit herunterdosiert, dass er sich auf symbolische Aktionen wie die 3000 in den Osten geschickten Falschirmspringer beschränkt. Leader wie der ungarische Orban haben für Moskau Partei ergriffen, der deutschen Regierung fehlt die klare Linie, andere Regierungen haben sich abgesetzt; die EU ist untätig geblieben (bezieht sich auf den Zeitpunkt, als der Artikel geschrieben wurde, AdR). Und man kann sicher sein, dass kein Nato-Soldat einen Fuß in die Ukraine setzt.

Das ist auf jeden Fall ein weiterer Erfolg Putins. Seinen Bündnispartnern bietet der Kreml totale Unterstützung. Er hat das Assad-Regime gerettet, indem er Truppen nach Syrien schickte, um die ISIS und die aufständischen Sunniten niederzuringen. An der Seite von General Haftar spielte er im libyschen Bürgerkrieg eine entscheidende Rolle. In Afrika hat er die Söldner der Gruppe Wagner jedem Diktator geschickt, der um Hilfe bat. Russland ist wieder ein Protagonist der geopolitischen Auseinandersetzung in allen Kontinenten geworden. Wobei es seine Militärhilfe gegen wertvolle Ressourcen tauschte: Öl, Diamanten, seltene Erden…“