Lampedusa und die Folgen

In wenigen Tagen, am 3. Oktober, jährt sich zum zehnten Mal die Schiffskatastrophe vor der Küste Lampedusas, bei der 368 Männer, Frauen und Kinder starben. Seitdem wird auf der Insel jedes Jahr am 3. Oktober den „Nationalen Gedenktag für die Opfer der Migration“ begangen. Überlebende – meist Eritreer – reisen aus vielen Ländern an, um sich dort wieder zu treffen und gemeinsam mit Einwohnern und humanitären Organisationen der Opfer zu gedenken, die im Mittelmeer auf dem Weg nach Europa ihr Leben verloren. Es sind mehr als 40.000.

Zehn Jahren später steht Lampedusa wieder im Mittelpunkt eines Migrationsgeschehens, auf das Europa immer noch keine gemeinsame Antwort findet. Wieder einmal ist es die Insel Lampedusa, die wie kein anderer Ort Kristallisationspunkt und Sinnbild dieses Scheiterns ist.

Überfüllter Hotspot, Spannungen unter Flüchtlingen, überforderte Einwohner

Ca. 70% der Migranten und Flüchtlinge, die Italien erreichen, kommen zunächst in Lampedusa an. Noch vor zwei Wochen erreichten täglich Dutzende von Kleinbooten, welche die günstigen Wetterbedingungen nutzten, die Insel. Ihre Entfernung von der tunesischen Hafenstadt Sfax, dem Abfahrtspunkt der meisten Boote, beträgt 190 km und ist leichter als andere Orte in Sizilien bzw. Süditalien zu erreichen.

Im Hotspot, der eine Kapazität von 450 Personen hat, drängten sich zeitweise 7.000 Menschen, mehr als die Insel Einwohner hat (6.370). Die Schiffe für den Transfer der Flüchtlinge an andere Orte schafften es nicht mehr, den Hotspot zu entlasten.

Immer wieder kam es zu Streit unter den Migranten: um einen Schlafplatz, und sei es nur auf dem Boden, um Mahlzeiten und Waschmöglichkeiten. In den Geschäften des Zentrums baten sie um Essen und Getränke. Selten wurden sie weggeschickt, die meisten Betreiber von Bars und Restaurants öffneten ihre Tore. Die Lampedusaner werden nicht zum ersten Mal mit einer solchen Krisensituation konfrontiert, es gibt viel Hilfsbereitschaft – aber auch Wut und Verzweiflung, dass die Insel einmal wieder an den Rand des Kollaps gerät. Inzwischen hat sich die Lage entspannt, da aufgrund der unsicheren Wetterbedingungen weniger Boote von Tunesien abfahren und die Transferschiffe wieder ihrer Aufgabe nachkommen können. Zurzeit befinden sich im Hotspot ca. 100 Menschen. Je nach Wetterlage kann sich das schnell wieder ändern.

Blitzbesuch von Meloni und Von der Leyen

Die Proteste von Migranten und Einwohnern und die große mediale Resonanz der „Hölle von Lampedusa“ führten dazu, dass Ministerpräsidentin Meloni in einer Videobotschaft drakonische Maßnahmen gegen die ankommenden „Illegalen“ ankündigte und gemeinsam mit Ursula von der Leyen, der Präsidentin der EU-Kommission, am 17. September zwei Stunden lang die Insel besuchte. Für den Blitzrundgang im Hotspot – der für diesen Anlass eilig gesäubert wurde (aber nur dort, wo die beiden Damen herumgeführt wurden) – waren zehn Minuten reserviert.

„Italien kann sich auf die Europäische Union verlassen“, versicherte am Ende Von der Leyen, und kündigte einen „Zehn-Punkte-Plan“ an, um einen Rückgang der Migrantenzahlen zu erreichen und Italien zu entlasten. Wobei sie es aber vermied, sich auf konkrete Maßnahmen festzulegen. Das kann auch nicht anders sein, da nicht sie über den migrationspolitischen Kurs der EU entscheidet, sondern die 27 Mitgliedstaaten. Und diese sind sich bekanntlich in vielen zentralen Punkten nicht einig. Das hinderte Meloni nicht daran, von der Leyens Äußerungen als großen Erfolg für ihre eigenen Pläne zur Eindämmung der „illegalen Invasion“ darzustellen und sogar von einer „kopernikanischen Revolution“ der europäischen Migrationspolitik zu sprechen. Worin die bestehen soll, bleibt ihr Geheimnis. Der „Zehn-Punkte-Plan“, der inzwischen von der EU-Kommission offiziell bekannt gegeben wurde, kann es jedenfalls nicht sein, da er unverbindlich ist und kaum Neues enthält.

Von der Leyens „Zehn-Punkte-Plan“

Die wichtigsten Punkte betreffen eine verstärkte Unterstützung Italiens bei der Registrierung und Durchführung verkürzter Grenzverfahren, samt Hilfe beim Personentransfer von Lampedusa, auch in andere Mitgliedstaaten im Rahmen des „freiwilligen Verteilungsmechanismus“ (den es schon gibt, der aber kaum funktioniert). Ähnliches gilt für die Reduzierung der Abfahrten und die Ausweitung der Rückführungen, die durch Vereinbarungen mit den Herkunfts- und Transitländern erreicht werden sollen. Schon lange ein Thema, das in der Praxis scheitert, weil die betroffenen Länder nicht bereit sind, die Menschen zurückzunehmen.

Ferner enthält der Plan die vage Aussage: „Prüfung möglicher Optionen, um Seemissionen im Mittelmeer auszuweiten“. Zu deren Art und Auftrag kein Wort. Schon gar nicht zu Melonis wahnwitziger Forderung nach einer „ Seeblockade durch die EU“, die auch jenseits politischer und moralischer Bewertungen nicht realisierbar ist, da sie nur im Kriegsfall zulässig ist, um Aggressoren abzuwehren. Weitere Punkte sind die Bekämpfung der Schleuser und die Intensivierung von Informationskampagnen, um die Menschen von den Überfahrten abzuhalten, und „Bemühungen, legale Einreisen und humanitäre Korridore zu ermöglichen“ – allerdings auch hier ohne nähere Angaben über Form und Umfang. Bisher ist deren Zahl verschwindend klein.

Insgesamt geht es also um Maßnahmen, die es längst gibt, in der Regel aber keine Wirkung zeigen bzw. an der Umsetzung scheitern, oder um unverbindliche Aussagen, wie bei der „möglichen Ausweitung von Seemissionen“. Auch die immer wieder beschworene harte Bekämpfung der Schlepper hat bisher kaum etwas bewirkt. Es gab ca. 100 Verhaftungen, meist von jenen, die die Boote steuern und oft selbst Flüchtlinge sind, denen die Schleuser für diese Aufgabe die Kosten der Überfahrten erlassen. Erfolgreiche Schläge gegen dahinter stehende Anführer und Schlepperstrukturen blieben bisher aus.

Verwirrung über geplante Rückführungszentren

Um den wachsenden Migrationszahlen zu begegnen, plant die Regierung eine Ausweitung der sogenannten Rückführungszentren (Centri di rimpatrio) sowie die Verlängerung der dortigen Aufenthaltsdauer von 12 auf 18 Monate. Ein entsprechendes Gesetzesdekret hat das Kabinett vergangene Woche verabschiedet.

Vieles bleibt unklar: Welche Ausländer mit welchem Status sollen dort untergebracht werden? In der Pressemitteilung zum Dekret steht, es gehe um „Ausländer, die keine Asylbewerber sind“, d. h. die entweder keinen Antrag eingereicht oder bereits einen negativen Bescheid erhalten haben. Meloni hatte aber etwas anderes angekündigt: Alle, die in Italien ankommen, werde man in Rückführungszentren bringen (und wenn ein Schnellverfahren keine Asylberechtigung ergibt, in ihre Heimatländer zurückschicken). Nach der in Italien geltenden Rechtslage, die auf eine entsprechenden EU-Direktive zurückgeht, ist aber nicht zulässig, dass Asylbewerber „allein zum Zweck der Prüfung ihres Antrags festgehalten werden“.

Im Dekret ist die geplante Ausweitung der „Centri di rimpatrio“ nicht konkret quantifiziert. Derzeit gibt es 10: in Turin (aktuell nicht im Betrieb), Mailand, Rom, Gorizia, Macomer (auf Sardinien), Bari, Brindisi, Potenza, Trapani und Caltanissetta. Plus möglicherweise weitere 12 Zentren in den Regionen, die bisher keine ausweisen (die jeweiligen Regionspräsidenten laufen schon dagegen Sturm). Damit würde die Anzahl der verfügbaren Plätzen von jetzt 619 auf ca. 2.000 steigen. Kaum ausreichend, wenn allein im September bereits 15.000 Flüchtlinge die italienischen Küsten erreichten.

Und vor allem: Was passiert mit denen (es sind die meisten), die nicht zurückgeführt werden können, weil ihre Heimatländer ihre Rücknahme verweigern? Da sie von betreuten Aufnahmezentren und dezentralen Unterkünften mit Integrationsprogrammen explizit ausgeschlossen sind, werden sie nach Ablauf der Aufenthaltsfrist auf die Straße landen oder sich auf den Weg in andere Länder machen, vor allem nach Deutschland, Frankreich und Österreich.

Der letzte Irrsinn, den sich die Regierung einfallen ließ, wurde vor wenigen Tagen bekannt: In einer Verordnung zu den (auf vier Woche verkürzten) Anerkennungsverfahren an der Grenze steht, dass Migranten aus sicheren Herkunftsländern, die eigentlich bis zum Ende der Asylprüfung in Rückführungszentren an den Grenzen unterzubringen sind, sich von dieser Verpflichtung mit einer Art „Kaution“ in Höhe von knapp 5.000 Euro (!) freikaufen und einen anderen Aufenthaltsort suchen können. Wird der Asylgesuch abgelehnt und eine Abschiebung verfügt, muss der Betroffene sich bei den Behörden melden – tut er das nicht, werden ihm die 5.000 Euro nicht zurückerstattet. Eine Maßnahme, die erpresserisch und absurd zugleich ist – woher soll ein Flüchtling, nachdem er schon 1.500 Euro an die Schlepper für die Überfahrt gezahlt hat, auch noch 5.000 Euro für ein „Kautionsgeld“ an den italienischen Staat nehmen? Die Opposition läuft dagegen Sturm und wirft der Regierung vor, sich nicht anders als die Schleuser zu verhalten.

Scharfe Attacke gegen die Bundesregierung

Irgendjemanden muss man ja die Schuld geben, wenn man scheitert. Ministerpräsidentin Meloni zeigt Empörung, weil es die deutsche Regierung wagt, die humanitäre Gemeinschaft Sant’ Egidio für die Betreuung von Flüchtlingen und die NGO SOS Humanity, die Seerettungsaktionen im Mittelmeer durchführt, finanziell zu unterstützen. In einem Brief an Scholz schreibt Meloni, Deutschlands Entscheidung sei mit der italienischen Regierung nicht abgestimmt und stelle einen „feindseligen Akt“ gegen Italien dar. Die Bundesregierung hätte die Aufnahme von Flüchtlingen besser im eigenen Land unterstützen sollen (was sie tut, viel mehr als Italien), eine Finanzhilfe für Rettungsaktionen von NGO’s sei – „wie allgemein bekannt“ – ein Anreiz für die Überfahrten von Migranten über das Mittelmeer. Eine Behauptung, die durch Fakten und Studien längst widerlegt ist. Besonders die Lega versteigt sich zu wahnhaften Unterstellungen: Deutschland wolle, dass so viel Flüchtlinge wie möglich nach Italien kommen, so Salvini. Und sein Vize Crippa dreht komplett durch: „Die Deutschen versuchen, die Regierung durch Finanzierung der NGO’s zu destabilisieren, damit wir mit Illegalen vollgestopft werden und der Konsens für Mitterechts sinkt. Vor 80 Jahren haben sie (die Deutschen, MH) andere Staaten mit der Armee überfallen, jetzt finanzieren sie die Invasion der Illegalen, um Regierungen zu destabilisieren, die den Sozialdemokraten missfallen“, erklärte er in der Digitalzeitung „Affari italiani“.

Bisher hat die Bundesregierung auf diese Angriffe zurückhaltend reagiert. Hilfe bei der Integration von Flüchtlingen und Rettung von Leben auf der See seien ein rechtliches und moralisches Gebot, so der Pressesprecher des Außenministeriums. Mit gleichem Tenor äußerte sich Lars Castellucci, der Migrationssprecher der SPD-Bundestagsfraktion, in einem Interview in der „Repubblica“. Meloni suche für das Scheitern ihrer Migrationspolitik offensichtlich Sündenböcke. Er wies auch darauf hin, dass Deutschland bei der Aufnahme von Flüchtlingen in Europa an erster Stelle steht, weit vor Italien. Auf die Entgleisung von Crippa mit seinem Nazivergleich wollte er nicht eingehen. Zu absurd.

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