Melonis Drahtseilakt

Giorgia Meloni hat in der vergangenen Woche die Vertrauensabstimmung im Parlament, wie erwartet, locker gewonnen: 235 Ja, 154 Nein und 5 Enthaltungen in der Abgeordnetenkammer, 115 Ja und 79 Nein im Senat.

Die neue Ministerpräsidentin hatte vor der Abstimmung ihr Regierungsprogramm vorgestellt. Die Rede war lang, aber bei der Vorstellung der Vorhaben in wichtigen Themenbereichen vage. Wo sie konkreter wurde, deutete sie eine radikale Rechtswende an.

Ein verräterischer „faux pas“

Doch bevor ich auf einige Aspekte von Melonis Rede komme, möchte ich auf einen Vorfall während der Parlamentsdebatte hinweisen, das mehr als viele Worte etwas über Melonis Einstellung sagt. Bei ihrer Erwiderung auf einen Redebeitrag des neu gewählten, von der Elfenbeinküste stammenden Abgeordneten Aboubakar Soumahoro – eine wichtige Stimme der Landarbeitergewerkschaft, national bekannt – sprach sie erst dessen Namen falsch aus, um ihn dann bei ihrer Entschuldigung mit „du“ anzusprechen. Als daraufhin von den Oppositionsbänken Proteste kommen, versteht sie erst den Grund nicht. Dann fällt bei ihr der Groschen: „Ach, jetzt verstehe ich, es geht um das ‚du‘! Ja ja, ein Fehler von mir, kann jedem passieren!“.

Ja, ein Fehler von ihr, ein „faux pas“. Der aber gerade weil er „spontan“ geschah, verräterisch ist. Denn nie und nimmer wäre es ihr „passiert“, andere Abgeordnete – ob aus ihrer Koalition oder von der Opposition – in einer parlamentarischen Debatte mit „du“ anzusprechen (im Protokoll ist das „Sie“ vorgeschrieben). Aber bei dem schwarzen Soumahoro geht ihr das „du“ leicht von den Lippen.

Melonis Rede – Atlantismus ja, Europa jein

Die neue Ministerpräsidentin (die übrigens wünscht, als „Ministerpräsident“ angesprochen zu werden) versuchte in ihrer Einführungsrede einen Drahtseilakt: zwischen beruhigenden Botschaften und Bekräftigung der rechtsradikalen Prägung ihrer Regierung.

Die beruhigenden Botschaften richten sich in erster Linie an Europa und die atlantische Allianz. Wobei sie unterscheidet: keine kritische Bemerkungen über die Nato und das atlantische Bündnis, wohl aber über Europa und EU. Diese sei zwar das gemeinsame „Haus der europäischen Völker“. „dessen Regeln die Regierung respektieren“ werde, doch einige Instrumente hätten sich als untauglich erwiesen (so der Stabilitätspakt), und müssten geändert werden. Auch dürfe es keine Mitglieder „erster und zweiter Klasse“ geben: in der EU habe nicht Orban, sondern Deutschland das Sagen.

Beim Thema russischer Angriffskrieg gegen die Ukraine bekräftigte Meloni die politische und militärische Unterstützung für die Ukraine. Bei den Sanktionen und Putins Erpressungsversuchen in der Energiefrage dürfte es kein Nachgeben geben. Hier bleibt sie konsequent. Dem neben ihr sitzenden Vizepremier Salvini und dem in den Senat zurückgekehrten Berlusconi dürften da die Ohren mächtig geklungen haben.

Wirtschaft, Nationaler Recoveryplan, Energiekrise

Unter Bezug auf die internationalen Krisen und die schwierige Haushaltslage versuchte Meloni, die Erwartungen zu dämpfen. Die wirtschaftlichen Prognosen seien düster, man befinde sich in einem kräftigen Sturm und das Schiff, das die Regierung übernommen habe, sei beschädigt. Nicht alles könne getan werden, was notwendig sei. Sprich: Viele Wahlversprechen werden nicht eingelöst.

Von den Ankündigungen im Wahlkampf, den von den Vorgängerregierungen entwickelten Nationalen Recoveryplan kritisch unter die Lupe zu nehmen, war nichts mehr zu hören. Nur noch von effizientem Umsetzen, Bürokratieabbau und Beseitigung von „Hürden, die das Wachstum der Wirtschaft abbremsen“. Nicht gerade konkret und auch nicht neu. Auch zur Frage der Entlastung von Unternehmen und Bürgern von Energiepreissteigerungen gab sie nur allgemein an, man werde die bisherigen Maßnahmen beibehalten und, wenn möglich, ausbauen.

„Der Ministerpräsident“ langweilt sich ein wenig bei der Debatte …

Steuerpakt für Hinterzieher

Konkreter wird Meloni wenn es um das geht, was vielen Italienern am meisten verhasst ist: das Bezahlen von Steuern. Es werde einen „neuen Steuerpakt“ zwischen Staat und Bürgern geben, bei dem „der Bürger sich nicht schwach fühlt gegenüber einem tyrannischen (sic) Staat“. Musik in den Ohren derjeniger, die das Steuerzahlen als Diebstahl und Akt der staatlichen Piraterie betrachten.

Meloni nennt diesen Pakt „eine kopernikanische Revolution“, mit drei Säulen: 1) Entlastungen für Familien und Ausweitung der „flat tax“ auf „partite IVA“ (d. h. Selbständige, Handwerker, Händler) mit Einkommen bis zu 100.000 Euro (statt bisher 65.000); 2) „Steuerfrieden“ – sprich Amnestie – für Bürger und Unternehmen, „die Schwierigkeiten haben, ihre Position gegenüber dem Fiskus zu regularisieren“ (das dürften viele sein); und 3) „harte Bekämpfung von Steuerhinterziehung“ – allerdings „vor allem bei Großunternehmen“. Das klingt gut (die Großen werden bestraft!), ist es aber nicht. Denn in Italien besteht die große Mehrheit der Steuerhinterzieher aus unzähligen Kleinunternehmern, Selbständigen und Händlern. Sie sind es, die den größten Schaden für den Staatshaushalt verursachen, nicht die großen Konzerne. Sie erhalten einen Freibrief zum Weitermachen und können eine Flasche Spumante entkorken, um diese schöne „kopernikanische Revolution“ zu feiern.

Als weiteren Anreiz zu Steuerbetrug, Geldwäsche und Schwarzarbeit führt die neue Regierung eine Erhöhung der Grenze für Bargeldzahlungen ein. Diese liegt derzeit bei 2.000 Euro und sollte ab Januar auf 1.000 herabgesetzt werden. Jetzt geschieht das Gegenteil: die Lega fordert ein Limit sogar erst bei 10.000 Euro, Fdi und FI geben sich moderater und plädieren für eine Grenze zwischen 3.000 und 5..000 Euro.

All diese Maßnahmen haben die Interessen vor allem der Mittelschicht im Blick. Diese bildet die von Meloni privilegierte Wählerklientel – nicht die Arbeitnehmer und schon gar nicht die Arbeitslosen und prekär Beschäftigten, obwohl sie für ihren Wahlerfolg entscheidend waren.

Soziales, Klimakrise, Bildung, Gesundheit: Fehlanzeige

Für deren Sorgen und das Thema soziale Gerechtigkeit hat Meloni nur allgemeine Versicherungen parat. Der Staat wird den „wirklich Benachteiligten, die nicht in der Lage sind zu arbeiten“, Hilfen zukommen lassen. Für alle anderen könne hingegen die Lösung nicht das Bürgergeld (reddito di cittadinanza) sein, sondern Arbeit und Weiterbildung. Wie dies aber in einem Land mit hoher Arbeitslosigkeit und verbreiteten Schattenwirtschaft realisiert werden soll, sagt sie nicht. Zum Thema Beschäftigungspolitik gibt es keinen konkreten Vorschlag. Sie weiß nur, was sie nicht will: kein Bürgergeld, keinen Mindestlohn. Letzter sei auch nicht nötig, denn in tariflich eingebundenen Unternehmen bestünden bereits entsprechende Regelungen, man müsse halt diesen Kreis erweitern. Aber wie? Par ordre du Mufti durch den Staat wohl nicht. Was dann? Kein Wort dazu.

Auch auf den Klimawandel, von dem gerade Italien besonders massiv betroffen ist, geht sie nicht wirklich ein. Nur: Der Schutz der Umwelt werde für die Regierung eine Priorität sein – allerdings frei von „Ideologien“ und kompatibel mit Wirtschaft und sozialen Aspekten. Punkt.

Fehlanzeige auch bei der Bildung. Hier ist – bisher – die einzige Änderung eine Namensänderung: Ministerium für Bildung und Leistung.

In der Gesundheitspolitik wird eine Kehrtwende vollzogen – aber eine falsche: Die Regierung hat beschlossen, dass es ab sofort keine Pandemie mehr gibt, alle Schutz- und Präventionsmaßnahmen (auch in Krankenhäusern und Pflegeheimen) sowie alle Sanktionen bei Verstößen gegen das Infektionsgesetz werden abgeschafft. Die No-Vax jubilieren. Die Viruswelle rollt weiter.

Harte Hand gegen Migranten und Flüchtlinge

Genaueres erfährt man allerdings über das, was die Regierung im Bereich Migration und Flüchtlinge – stets ein Steckenpferd der radikalen Rechte in allen ihren Varianten – zu tun gedenkt.

Im Wahlkampf hatte Meloni laut eine „Seeblockade“ gefordert, um Bootflüchtlinge und Rettungsschiffe daran zu hindern, ans Land zu gehen. Nachdem von Rechtsexperten klargestellt wurde, dass eine solche Seeblockade laut internationalem Recht nur bei bewaffneten Konflikten gegen feindliche Schiffe möglich ist, erklärte jetzt Meloni im Parlament: „Da man von Seeblockade nicht reden darf“, werde ihre Regierung in der EU für eine Wiederaufnahme der Mission Sophia bzw. deren sogenannten 3. Phase eintreten. Diese sah vor, dass die Bootsflüchtlinge schon an den nordafrikanischen Küsten gestoppt und die Schlepperstrukturen zerstört werden. Was nie funktioniert hat, weil die betroffenen Küstenländer – u. a. Libyen – im Schleppergeschäft selbst involviert sind. Meloni fordert zudem, dass die Flüchtlinge in afrikanischen Hotspots gesammelt werden, wo ihre Asylanträge geprüft werden. Das dies entsprechend den Bestimmungen des Asylrechts geschieht, glaubt keiner, der von der Wirklichkeit in solchen Lagern auch nur eine Ahnung hat, wo Misshandlungen, Korruption und Gewalt an der Tagesordnung sind (s. wieder Libyen). Egal. Hauptsache „aus den Augen, aus dem Sinn“.

Geschichte auf den Kopf gestellt

Ausgerechnet unter dem Stichwort „Freiheit“ ging Meloni auf ihre faschistischen Wurzeln ein. Und siehe da: Sie, die erst in der neofaschistischen Jugendorganisation und dann in dem offen neofaschistischen „Movimento Sociale Italiano“ (später Alleanza Nazionale) jahrzehntelang aktiv war, habe nie „Nähe oder Sympathie für antidemokratische Regimes“, Faschismus eingeschlossen, empfunden. Vielmehr habe sie in jungen Jahren, gerade während ihrer „Militanz in der demokratischen (!) Rechte den Duft der Freiheit, die Suche nach historischer Wahrheit und die Ablehnung jeglicher Willkür und Diskriminierungen kennengelernt“.

Sie nannte die Rassengesetze eine „Schande, die unser Volk zeichnen wird“, deren Urheber in den faschistischen Nachfolgeparteien, in denen sie „den Duft der Freiheit kennenlernte“, als Idole und Vorbilder gefeiert wurden und werden. Sie verurteilte „alle Totalitarismen des 20. Jahrhunderts“ und feierte den italienischen „Risorgimento“, der zur Einheit Italiens führte, erwähnte aber mit keinem Wort die „Resistenza“, den antifaschistischen Widerstandskampf, auf dem die italienische Verfassung gründet. Als sie von den Siebzigerjahren als den „dunklen Jahren politischer Gewalt“ sprach, meinte sie nicht etwa den neofaschistischen Terror mit seinen Massenmorden, sondern die faschistischen Opfer linker Gewalt.

Das ist kein Drahtseilakt mehr – das ist Schizophrenie. Da aber Meloni nicht schizophren ist, nennen wir es lieber dreiste Wirklichkeitsverzerrung. Von einer Politikerin, die ihre Macht sichern will.

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