Vergessenes Europa

Eugenio Scalfari

Eugenio Scalfari

Eugenio Scalfari ist ein älterer Herr, der mit seinen 93 langsam auf die 100 zugeht, aber weiter Kommentare zum Weltgeschehen abgibt, welche die „Repubblica“ willig druckt – ob aus Respekt gegenüber einer Ikone des italienischen Journalismus, aus Gehorsam gegenüber ihrem Gründer oder aus inhaltlichem Einverständnis, sei dahingestellt. Aber obwohl seine Kommentare manchmal ein wenig entrückt erscheinen, brachte er zwei Tage nach der deutschen Bundestagswahl einen überraschend persönlichen Angriff gegen Martin Schulz zu Papier, der gerade verkündet hatte, nun mit der SPD in die Opposition gehen zu wollen: Eigentlich, so Scalfari, gebe es gerade jetzt durch Macron und Juncker eine Chance für Europa, aber die sei damit schon verspielt. „All das wegen des Egotismus von Schulz. Eine Persönlichkeit, die jahrelang Präsident des Europaparlaments war, wird zum Totengräber Europas, indem sie das eigene Land den antieuropäischen Kräften schenkt“. Das „t“ im Egotismus kann man wohl getrost weglassen, ohne den Sinn von Scalfaris Aussage grundlegend zu verfälschen.

Angst vor der „Merkeldämmerung“

Obwohl der Kommentar eher eine Analyse mit dem Vorschlaghammer liefert, zeigt er den Maßstab, den Italien an die deutschen Ereignisse legt – zumindest wo man noch Hoffnungen in die EU setzt: Was wird aus Europa? Das Leitmotiv der Kommentare zum Scheitern der Sondierungen ist die eingestandene Angst, dass mit der „Merkeldämmerung“ eine Phase der Instabilität für ganz Europa beginnen könne. Eine Angst, die sogar die heftige Kritik Italiens an der Brüsseler Austeritätspolitik, die sich ja auch gegen die deutsche „Hegemonialmacht“ richtete, in den Hintergrund drängt. Einerseits glaubt man, dass der Vormarsch der Populisten in Europa (und damit auch im eigenen Land) nur einzudämmen sei, wenn aus Europa wieder ein Hoffnungsträger wird (weniger Austerität, mehr Solidarität). Eine „Vertiefung“, die nicht von Merkel allein, aber doch vom Tandem Macron-Merkel erhofft wird. Andererseits werden von der Schwächung Angela Merkels auch Auswirkungen auf die italienische Innenpolitik befürchtet, z. B. eine weitere Stärkung Salvinis, weil Berlusconis Mitgliedschaft in der EVP nun immer weniger zur Garantie dafür wird, dass er europäisch auf der Siegerseite steht

Bräsiges Schweigen

Die hohe Relevanz, die hier der deutschen Politik für das Schicksal Europas zugeschrieben wird, müsste uns Deutschen eigentlich die Schamröte ins Gesicht treiben. Denn bei den Sondierungen, die das Ziel verfolgten, eine Koalition für die nächsten 4 Jahre zusammenzubringen, hat Europa kaum eine Rolle gespielt. Unter der Überschrift „Jamaika fehlt die europäische Vision“ berichtete die SZ vom 15. 11., dass das Papier, das den Verhandelnden dabei die Diskussionsgrundlage lieferte, zu diesem Thema nur Selbstverständlichkeiten enthielt, die auch schon im Koalitionsvertrag von 2013 standen. Kein Wort zu den Vorschlägen von Macron (und zuletzt Juncker) – außer einer Öffnungsklausel, dass beim EU-Haushalt die Gemeinschaft „weiter entwickelt“ werden solle.

Nach der SZ habe Macron, der sich nicht offiziell in die deutsche Regierungsbildung einmischen durfte, zumindest zwei indirekte Anläufe unternommen, um seine Vorschläge noch einmal ins Gespräch zu bringen: Am 8. November schickte er seinen Finanzminister Bruno Le Maire nach Berlin, um einigen Sondierern zu erläutern, dass für Frankreich „entscheidend“ sei, dass der neue Koalitionsvertrag wenigstens eine „Öffnungsklausel“ für Verhandlungen mit den europäischen Partnern über die Zukunft der Euro-Zone und der EU enthielt – es dürfe nicht sein, dass die europäische Zukunft schon im deutschen Koalitionsvertrag verspielt werde. Eine Woche später vermeldete der Macron-Berater Henrik Enderlein (er ist Direktor des Berliner Jacques Delors-Instituts) die Pariser „Enttäuschung“, weil offenbar die Sondierer über die Zukunft Europas und der Euro-Zone nicht einmal verhandeln wollten.

Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen: Im Sommer wird Macron gefeiert, weil er es schaffte, der Anti-Europäerin Le Pen die Präsidentschaft zu entreißen, nachdem er in den Mittelpunkt seiner Kampagne einen europäischen Neubeginn gestellt hatte, mit dem Tandem Merkel – Macron als Motor. Ein paar Monate später gibt es in Berlin Sondierungen, die offenbar davon ausgehen, dass man die Pariser Vorschläge nicht einmal beantworten muss. Kann man den Nationalpopulismus, der durch ganz Europa weht, einfach aussitzen? Provinzieller geht‘s nicht.

Illusionäre Hoffnung auf die SPD?

Da sich auch in Italien herumgesprochen hat, dass eine Regierungsbeteiligung der FDP eine Weiterentwicklung Europas wohl auf Jahre hinaus blockiert hätte, wird dort ihr Ausstieg aus den Verhandlungen mit Erleichterung registriert. Nun hofft wohl auch der alte Scalfari, dass sein Traum von einem vertieften Europa doch noch Wirklichkeit wird. Die „Repubblica“ preschte schon am 22. November mit einem Habermas-Interview vor, mit dem bezeichnenden Titel: „Keine Neuwahlen! Jetzt muss die SPD mit der Kanzlerin regieren!“

Es tut fast weh, den beiden alten Herren Wasser in diesen Wein gießen zu müssen. Denn leider teilt auch die SPD-Führung den Provinzialismus der „Jamaikaner“. Seit Jahren hört man aus ihrer Zentrale das Mantra, dass „mit Europa keine Wahlen zu gewinnen sind“. Der Sieg Macrons in Frankreich war für sie offenbar ein (singuläres) Ereignis, aus dem es für Deutschland nichts zu folgern gibt. Als daraufhin Schulz in seinem Wahlkampf nicht mehr von Europa, sondern nur noch vom „Feuerwehrmann in Würselen“ sprach, verflog die Neugier, die er anfangs erregt hatte. Aus dem Wahlergebnis vom 24. September folgerte die SPD-Führung nur, dass sie sich nun in der Opposition regenerieren müsse, um sich „neu aufzustellen“. Ohne einen Gedanken an die Frage zu verschwenden, was in der Zwischenzeit aus Europa wird, wenn die neue deutsche Regierungskoalition von der FDP (einer „Light“-Version der AfD, wie viele sagen) mitgeprägt wird.

Na ja, Glück gehabt. Die FDP hat dann selbst den Stecker aus der Jamaika-Koalition gezogen. Wenn nun alle Welt die SPD bekniet, sich doch wieder an der Regierung zu beteiligen, wird an ihre „Verantwortung für Deutschland“ appelliert. Und die Verantwortung für Europa? Dank der Macron-Initiative ist die Gelegenheit günstiger denn je. Aber auf die SPD scheint sie wie der bekannte Kanonenschuss zu wirken, der neben dem Frosch losgeht. Der Frosch hört ihn nicht. So wie die SPD eben kein „Projekt Europa“ hat. Auch wenn sie jetzt wieder in eine GroKo eintreten sollte, ist zu befürchten, dass es bei der Abfuhr für Macron bleibt. Auf die sich wohl schon die Jamaika-Koalition – Grüne inklusive – stillschweigend geeinigt hatte.

Offenbar muss man erst ins Ausland gehen, um an eine deutsche Verantwortung für Europa erinnert zu werden. Hier im Lande reicht unser Horizont bis zum Dorfrand von Posemuckel. Helmut Schmidt soll gesagt haben, wer Visionen hat, gehört in die Klinik. Dem ist eine zweite Diagnose hinzuzufügen: Wer keine mehr hat, ist tot.

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