Wider den Hass

Wer in diesem Frühherbst nach Italien kommt, kann schnell das Gefühl haben, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Es gibt Freunde, mit denen auf einmal nicht mehr zu reden ist (außer übers Wetter und vielleicht noch über die Kunst), und es gibt andere, bei denen man seit Jahren das Thema Politik vermied, um nun zu entdecken, dass man plötzlich auf der gleichen Seite der Barrikade steht. Alles ist doppelgesichtig wie das Mittelmeer, das wie in jedem Frühherbst kleine glitzernde Wellen ans Ufer schlägt, in dem aber ein paar hundert Kilometer weiter Menschen um ihr Leben kämpfen. Was die Szene noch unwirklicher macht, ist das Wissen, dass in diesem Land eine unsichtbare Schlacht stattfindet, von der man auf den ersten Blick wenig sieht, in der es jedoch um Italien und um Europa geht.

Hass und Liebe

Auch die Worte haben einen doppelten Boden. Zingaretti sagt, dass man Salvini überwinden müsse, weil er „Hass“ in die Gesellschaft gebracht habe. Es ist richtig, weil Salvini Mauern hochzog zwischen „uns“ und den „Anderen“ und dabei diese „Anderen“ zum Freiwild machte. Sein Appell an die archaischsten Instinkte des Fremdenhasses hat Früchte getragen. Die Saat ging auf, als Salvini Flüchtlinge auf den Schiffen verrotten ließ, Schlägertrupps vor den Kirchen Essenspakete für Flüchtlinge und Roma in den Dreck traten und die Gemeinden von ihnen bereitgestellte Flüchtlingsunterkünfte wieder auflösen und ihre Insassen ins illegale Nirgendwo jagen mussten.

Aber dieser „Hass“ allein reicht nicht, um zu erklären, warum sich Salvinis Wählerschaft zuletzt der 40 %-Grenze näherte. Wer sich nicht zur Behauptung versteigen will, dass die Italiener ein Volk sind, das innerhalb eines guten Jahres auf dem besten Weg war, zu einem Volk der zu Sadisten zu werden, muss nach einer differenzierteren Erklärung suchen. Die populistische Botschaft, welche die allgemeine Wahrnehmung umwälzte, war komplexer: Mauern trennen nicht nur, sondern können auch schützen, und sollten hier als Akt rettender Liebe empfunden werden. Der Aufwand, den Salvini dafür betrieb, war gewaltig: Steigerung der angeblichen Gefahr, die von der „Invasion“ der Flüchtlinge ausging, ins Unermessliche; Selbstinszenierung als Retter, der sogar über Leichen geht; blasphemische Einbeziehung einer zur Tribalgöttin mutierten Madonna, die mit ganz Italien auch dessen „Retter“ unter ihren speziellen Schutz stellt. Das Gebräu ist widerwärtig, aber wirksam. Man musste nur sehen, durch welches Bad tätschelnder und streichelnder älterer Frauen sich in diesem Sommer Salvini bewegte, wenn er an den Stränden und auf den Marktplätzen erschien. Es war echte Gegenliebe, die ihm da entgegenschlug, echter als die Liebe, die er selbst für sein Volk aufbringt (dessen südliche Hälfte er vor ein paar Jahren noch aus tiefstem Herzen verachtete). Salvinis weiterer Aufstieg schien unaufhaltbar.

Jetzt kann man sich nur noch die Augen reiben. Salvini sitzt plötzlich nicht mehr an den Schalthebeln der Macht, und bis zum nächsten nationalen Wahlkampf könnte es noch gut drei Jahre dauern. Hat das Land plötzlich die Fähigkeit zur Selbstheilung entwickelt? Es wäre etwas Neues, nach zwanzig Jahren Faschismus und einer fast ebenso lange dauernden Ära des Berlusconismus. In den Umfragen ist die Lega immer noch die stärkste Partei, auch wenn sie in den letzten Wochen ein paar Prozentpunkte verloren hat. Wenn es jetzt Neuwahlen gäbe, wäre eine rechte Mehrheit wahrscheinlich. Dass Salvini trotz seiner ganzen Schlauheit vorerst aus dem Spiel ist, hat er der eigenen Hybris zu verdanken.

Die Ausgangslage

Das bedeutet aber auch, dass die Ausgangslage für das neue Bündnis nicht gerade berauschend ist. Alle Welt weiß, dass es zwar von einer parlamentarischen Mehrheit, aber vorerst von keiner entsprechenden Mehrheit der Wähler getragen wird. Die Europawahl deckte gnadenlos auf, dass die numerisch stärkste Fraktion, die 5SB, innerhalb eines guten Jahres die Hälfte ihrer Wählerschaft verloren hat. Es entspricht zwar den Regeln der repräsentativen Demokratie, dass ein Parlament für eine Legislaturperiode gewählt wird, an dessen Zusammensetzung sich auch dann nichts ändern muss, wenn in der Zwischenzeit die Regierung wechselt und sich die Wählergunst verschiebt. Das eigentliche Problem ist die politische Legitimation der neuen Regierung, die ja – wie es schon vor einem guten Jahr auch ihre Vorgängerin tat – mit dem Versprechen einer „Wende“ antritt. Dass dafür die 5SB noch einmal ohne Neuwahlen eine zweite Chance bekommt, rechtfertigt sich vor allem durch die Andersartigkeit ihres neuen Partners.

Zingaretti1Womit die PD die Hauptverantwortung für diese zweite „Wende“ trägt. Soll sich ihre Funktion nicht darin erschöpfen, die endgültige Machtübernahme der Souveränisten nur noch etwas hinauszuschieben, muss sie es schaffen, Salvinis Überwältigungsstrategie auch auf der Ebene der Gefühle entgegenzutreten. Es ist fast anrührend, wie es Zingaretti, der Mann mit dem schiefen Dauerlächeln, versucht, wenn er die neue Regierung ein „Experiment“ nennt, welches das Ziel habe, die „Phase des Hasses“ hinter sich zu lassen und wieder „die Menschen“ ins Zentrum zu stellen, mit ihrer „Würde sowie ihrer Fähigkeit und Lust, sich eine Zukunft zu schaffen“. Dies klingt nach Phrase, aber ist ein Therapieversuch: Die Zeit Salvinis wurde von der Negativität des „Hasses“ bestimmt (Mauern gegen Flüchtlinge, Migranten, NGOs, Europa, sogar den Koalitionspartner). Wenn wir glauben, uns nur so schützen zu können, machen wir uns klein und unser Handeln hässlich. Und nehmen uns selbst die Zukunft.

Versuch einer Gegenstrategie

Aber Zingaretti weiß auch, dass es nicht genügt, nur gegen den „Hass“ anzupredigen, um größere Wählerschichten zurückzugewinnen. Die eigentliche Bewährungsprobe ist die Fähigkeit, dem Land durch ein positives Programm zu helfen, wieder seine konstruktiven und brückenschlagenden Fähigkeiten freizusetzen. In einem Interview mit dem „Corriere della Sera“ (vom 18. 9.) nannte Zingaretti als Hauptziele: „Wiederankurbelung der italienischen Ökonomie, grüne Revolution, Schaffen von Arbeit, Kampf gegen die Ungleichheit, Investitionen in die Erneuerung der Unternehmen, in Infrastruktur und Wissen“. Nimmt man auch noch die Problembereiche Migration und Europa hinzu, ist das Vorhaben titanisch. Denn auch diese Regierung steht unter dem Druck knapper Haushaltsmittel, und am Ankurbeln der Ökonomie haben sich schon ganze Generationen die Zähne ausgebissen. Allzu viel hängt von Faktoren ab, welche die Regierung nicht in der Hand hat, von der Weltkonjunktur wie von der EU, beginnend mit der Verteilung der Flüchtlinge, für die es seit es seit dem Malta-Treffen am 23. 9. einen ersten Lichblick gibt. Der Boden der „Wende“ ist unsicher.

Die größte Ermunterung kam bisher paradoxerweise von den Finanzmärkten: Seitdem es die neue Regierung gibt, ist der Spread dramatisch gesunken, was dem Staatshaushalt in den kommenden Jahren etwas mehr Spielraum gibt. Dass Italien Gentiloni nach Brüssel schickt, damit er dort Wirtschaftskommissar wird, könnte die Beziehungen zwischen Italien und der EU entspannen. Aber auch die Verschwörungstheoretiker der Lega sind an der Arbeit: Beides sei die „Belohnung“ dafür, dass die neue Regierung Italien an Brüssel „verkauft“ habe.

Der erste Rückschlag ist auch schon zu vermelden. Zingaretti gewann seine Wahl zum Generalsekretär der PD im Frühjahr 2019 mit der Devise, die wichtigste Voraussetzung für eine Wiedergeburt der PD sei ihre Geschlossenheit. Wohinter die Erfahrung stand, dass einer der Hauptgründe für ihren Niedergang ihre innere Zerrissenheit war, die Zingarettis Vorgänger, Matteo Renzi, durch sein Programm der „Verschrottung“ zusätzlich angeheizt hatte. Renzi blieb sich treu, indem er sich jetzt mit einer Gruppe von Gefolgsleuten von der PD abgespalten hat (obwohl er die Regierung weiter tragen will). Einfach so, „zum Spaß“.

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