Nach der Präsidentenwahl

Das Tandem Mattarella – Draghi bleibt uns also erhalten – und alles ist gut? Zumindest für die große Mehrheit des italienischen Volk ist es so, die sowieso für eine zweite Amtszeit Mattarellas war. Und die an dem Ergebnis – wie die Umfragen zeigen – nur auszusetzen hat, dass es den Staatspräsidenten in Zukunft besser direkt wählen würde, ohne Wahlleute und Parteien. Was nach dem Theater der vergangenen Woche nur allzu verständlich ist. Gut ist das Ergebnis auch aus Sicht des offiziellen Europas, wo nun alle von „Erleichterung“ reden – die allerdings vorerst nur bis zum Frühjahr 2023 reicht, dem Termin für die dann anstehenden nationalen Neuwahlen. Ebenso für die Banken, deren Geschäftsberichte kurz zuvor berichtet hatten, dass Italien im Jahr 2021 zur allgemeinen Überraschung ein Wachstum von 6,5 % zu verzeichnen hatte, und die mit Mattarellas Wiederwahl einen Grund mehr haben, um den Daumen für internationale Investoren wegen der geretteten „Stabilität“ nach oben zu halten. Nach Mattarellas Wiederwahl sank der Spread, der Alptraum der italienischen Finanzpolitik, um 5,7 auf 133,3 Punkte.

Positiv: Draghi bleibt Regierungschef

Das Gespann bleibt – vorerst

Ob sich Draghi wirklich persönliche Hoffnung auf das Amt des Staatspräsidenten machte, oder ob er es nur deshalb anstrebte, weil er Mattarellas ursprüngliches Nein zu seiner Wiederwahl für unumstößlich hielt, wissen wir nicht. Für Italien dürfte das Ergebnis auf jeden Fall die bessere Lösung sein, weil Draghi weiterhin als Ministerpräsident gebraucht wird. Die Pandemie ist noch nicht besiegt, aber schon die Hoffnung auf ihr baldiges Ende setzt zentrifugale Kräfte frei, die nur von einer starken Hand unter Kontrolle zu halten sind. Auch dass Italien die Chance wirklich nutzt, die ihm der europäische Recovery-Plan bietet, ist noch keineswegs gesichert: Die Planungen, die das Land vorweisen muss, um überhaupt an die Gelder heranzukommen, bestehen zum großen Teil aus Absichtserklärungen, für die konkrete Vorhaben und Projekte noch nachzuliefern sind. Dass die erste Milliarden-Tranche trotzdem ohne zusätzliche Bedingungen überwiesen wurde, hat mit dem Vertrauensvorschuss zu tun, über den Draghi persönlich in Brüssel und Europa verfügt. Dies gilt auch für die EU-Reformen, auf deren Notwendigkeit Mattarella Donnerstag in seiner Antrittsrede hinwies: Die finanzpolitische „Wende“, die Europa in den schlimmsten Tagen der Pandemie vollzog, müsse nun „stabil und strukturell“ gemacht werden. Als der deutsche Finanzminister Lindner am gleichen Tag gefragt wurde, ob Europa nicht auch nach dem Auslaufen des Recovery-Programms gemeinsame Investitionsprogramme einrichten könne, war seine Antwort vorerst ein schneidendes Nein-Aber: Zwar ließe sich der Stabilitätspakt „verbessern“, indem Zukunftsinvestitionen aus der jährlichen Neuverschuldungsgrenze herausgerechnet werden könnten. Aber das Recovery-Programm bleibe nun einmal „eine singuläre Antwort auf ein singuläres Ereignis“. In der EU sind also noch harte Bretter zu bohren, wofür Draghi in prima persona gebraucht wird.    

Und schließlich ist das Ergebnis auch deshalb die bessere Lösung, weil das Gedankenspiel, er könne sich ja auf dem Sessel des Regierungschefs ein Jahr lang durch eine Strohfigur vertreten lassen, die sein Vertrauens genießt und weiterhin seinen Anweisungen folgt, dem Geist der Verfassung widerspräche, die hier eine klare institutionelle Rollenteilung verlangt.

„Rauchende Trümmer“

Wenn man nur auf das Ergebnis der Präsidentenwahl schaut, kann sich die „Linke“ als Sieger fühlen. In der gegenwärtigen politischen Geografie Italiens sind sowohl Mattarella als auch Draghi schon deshalb der „Linken“ zuzurechnen, weil sie proeuropäisch eingestellt sind, ein Sensorium für die soziale Ungleichheit haben, die auch als Folge der Pandemie weiter angewachsen ist, und da sie den Rechtsstaat und die Verfassung verteidigen. Mattarellas Rede, mit der er am Donnerstag vor beiden Kammern seine zweite Amtszeit begann, war ein einziger moralischer Appell an die Politik, die „Würde“ in den Mittelpunkt ihres Handelns zu stellen – eine „Würde“, die nicht „prima gli Italiani“ bedeutet, sondern alle sozial Marginalisierten meint, wie die Frauen, die das Opfer häuslicher Gewalt sind und am Arbeitsplatz diskriminiert werden, ebenso wie die ins Prekariat abgedrängten Jugendlichen, die Häftlinge und Behinderten und nicht zuletzt auch die Migranten, deren „Recht auf Leben“ unantastbar sei.

Aber dieser Erfolg hat einen Preis, dessen Höhe noch nicht klar ist. Ein Journalist der „Repubblica“ schrieb, nun sei „der Palazzo Chigi (Regierungssitz, HH) von rauchenden Trümmern umgeben“. Bei der Präsidentenwahl zerfiel der Rechtsblock in seine Bestandteile – man beschimpft sich gegenseitig, Absprachen gebrochen zu haben; Berlusconi sei zum Zentrum übergelaufen; Salvini sei „verrückt“. Dessen Hoffnung, sich als überlegener Stratege und Regisseur der Rechten zu profilieren, endete damit zum zweiten Mal mit einer glatten Bauchlandung (das erste Mal war sein misslungener Putschversuch im Spätsommer 2019, als er die Regierung Conte1 platzen ließ, womit er unfreiwillig zum Geburtshelfer von Conte2 wurde).

Auch Mittelinks hat Federn gelassen

Aber auch die Linke blieb nicht unbeschädigt, Denn die politische Hoffnung der PD, mit den Resten der 5-Sterne-Bewegung ein längerfristiges Bündnis schmieden zu können, das dem Rechtsblock gewachsen sein könnte, hat einen neuen Dämpfer erfahren. Erneut zeigt sich, dass Contes Bemühung, einer amorphen „Bewegung“ ohne Identität trotzdem ein Profil zu geben, indem er es allen Flügeln irgendwie recht zu machen sucht und dabei seine eigene Beliebigkeit zum Autonomiebeweis erklärt, ihn schwach und als Bündnispartner unberechenbar macht. Seitdem er sich in der vergangenen Wahlwoche im Alleingang ausgerechnet mit Salvini verbündete, um die Chefin der Geheimdienste zur geeigneten Präsidentschaftskandidatin zu erklären („immerhin eine Frau!“), hängt nun auch in der 5SB der Haussegen schief – es führte zu einem Konflikt mit Di Maio, der zu einer neuen Zerreißprobe innerhalb der „Bewegung“ werden könnte.

Zieht man also den schönen Vorhang beiseite, den das nackte Ergebnis der Präsidentenwahl darstellt, so sieht man nicht nur eine gespaltene Rechte, sondern auch ein Mittelinks-Lager, das sich kaum weniger uneins dem Wahltermin im nächsten Jahr nähert. Wobei die Rechte den doppelten Platzvorteil hat, dass hinter ihr nicht nur jeder zweite Wähler steht, sondern dass sie es auch gelernt hat, trotz ihrer Zerrissenheit bei Wahlen meist geschlossen anzutreten, um sich erst hinterher um die Beute zu streiten. Zwar zeigen sich jetzt im Zentrum Ansätze zur Bildung einer dritten Kraft, die sich zwischen den beiden Lagern ansiedelt. Das würde aber voraussetzen, dass sich die dort vorhandenen Splittergruppen und Mini-Parteien zusammenschließen, um ihr bisheriges Mauerblümchen-Dasein zu überwinden, was sie künftig zum Zünglein an der Waage machen könnte. Die Kandidatur von Casini, aus der letztlich nichts wurde, hätte dafür ein Vorgeschmack werden können.

Die bevorstehende Schlacht um ein neues Wahlgesetz

Aber das bleibt Zukunftsmusik, so lange noch durch Italien der Glaube geistert, die beste Form der Demokratie seien nach angelsächsischem Vorbild zwei sich abwechselnde großen Blöcke. Und dem dann auch ein Wahlgesetz dient, das die Blockbildung prämiert und jeden Versuch, sich ihr zu entziehen, bestraft. Das in Italien immer noch geltende „Rosatellum“ hat genau diese Wirkung – so lange es gesetzlich vorgeschrieben bleibt, haben kleinere Parteien nur dann eine Chance, wenn sie sich schon vor der Wahl in ein Wahlbündnis mit einem der großen Blöcke begeben, was sie in die entsprechende Abhängigkeit zwingt. In der Konstellation von heute, in der es bei jeder politischen Wahl um die Frage eines Regimewechsels geht, also um alles oder nichts, findet jeder Versuch, hier durch die Bildung einer dritten Kraft auch einen Spielraum für Zwischenlösungen zu finden, keine Luft zum Atmen.

So mehren sich bei den kleinen Parteien die Stimmen, die sich vom „Rosatellum“ befreien wollen und stattdessen für ein Wahlgesetz alla tedesca plädieren, das die Sitze nach dem real erzielten Proporz verteilt, mit einer Sperrklausel zwischen 4 oder 5 Prozent, und bei dem man sich erst nach der Wahl entscheiden muss, ob man in ein neues Regierungsbündnis eintritt oder in die Opposition geht. Auch bei der PD, die lange glaubte, mit dem „Rosatellum“ leben zu können, scheint es hier ein Umdenken zu geben, das in die gleiche Richtung geht. Denn spätestens seit der Präsidentenwahl weiß sie, wie unzuverlässig die 5-Sterne-Bewegung als Bündnispartner ist.

Andererseits haben Salvini und Meloni bereits angekündigt, dass sie das geltende Wahlgesetz mit Zähnen und Klauen verteidigen wollen – immerhin hängt daran ihre Hoffnung, in Italien vielleicht doch noch den Regimewechsel zu schaffen. Obwohl das Thema Wahlgesetz bisher nicht auf Draghis Agenda steht – er wird es vermutlich zu einer Sache des Parlaments und nicht der Regierung erklären –, zeichnet sich darum eine Schlacht ab, an der seine ihn bisher stützende lagerübergreifende Koalition auch vorzeitig zerbrechen könnte. Mit der Konsequenz sofortiger Neuwahlen – aber mit welchem Wahlgesetz?

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