Für Giulia – und alle Opfer von Femiziden

Eigentlich hätte an dieser Stelle ein anderer Beitrag stehen sollen. Einer über die Kundgebung der PD am 11. November in Rom, an der 50.000 teilnahmen, und über den Generalstreik der Gewerkschaftsverbände CGIL und UIL: gegen das von der Regierung geplante Haushaltsgesetz, um Maßnahmen für mehr soziale Gerechtigkeit und eine aktive Beschäftigungspolitik einzufordern. Wichtige Themen und wichtige Ereignisse, über die zu berichten wäre. Allein: Das geht einfach nicht. Nicht jetzt.

Er wollte nicht, dass sie den Hochschulabschluss vor ihm macht“

„Er wollte nicht, dass sie den Hochschulabschluss vor ihm macht. Er sagte ihr, dass sie auf ihn warten soll, dass sie die Zwischenprüfungen verschieben soll“. So Elena Cecchettin, Giulias Schwester, deren Leiche am 18. November in einer Bergschlucht in der Nähe von Pordenone (Friaul) gefunden wurde. Giulia, die nur 22 Jahre jung wurde. Die unmittelbar vor dem Erhalt ihres Hochschuldiploms in Biomedizintechnik stand. Was aber nicht sein durfte, weil sie damit nicht „auf ihn gewartet hat“. Sondern – statt sich zu fügen – an ihrem Terminplan für den Studienabschluss festhielt und sich auch von ihm, ihrem späteren Mörder, trennte.

Mit mehr als 20 Messerstichen hat ihr Ex-Verlobter Filippo Turetta am Abend des 11. November Giulia getötet, nachdem er sie zuvor mit Tritten und Faustschlägen traktiert hatte. Dann schleppte er sie in sein Auto, um ihre Leiche zu „entsorgen“. Danach fuhr Turetta eine Woche lang Richtung Norden, erst durch Österreich und dann nach Deutschland, wo er schließlich auf der A9 in der Nähe von Leipzig von der deutschen Polizei kontrolliert wurde, weil er am Straßenrand ohne Licht parkte. Nach der Kontrolle von Ausweis und Nummernschild war den Beamten schnell klar, dass es sich um den europaweit gesuchten Turetta handelte. Er wurde verhaftet, hat den Mord gestanden und wird an diesem Samstag an Italien ausgeliefert.

Ein „bravo ragazzo“?

Von der Familie Turettas und aus seinem Umfeld ist immer wieder zu hören, das Geschehen sei für sie unerklärlich, ja unvorstellbar. Denn Filippo sei ein „bravo ragazzo“ gewesen, freundlich, nie aggressiv. „Ich hielt ihn für den perfekten Sohn“, sagt der nun entsetzte Vater. Nur nach der Trennung sei er niedergeschlagen gewesen, da er in Giulia sehr verliebt war. Auch der Rechtsanwalt, der Turetta verteidigen wird, bekräftigt: „Ich glaube nicht, dass er vorsätzlich gehandelt hat, er liebte Giulia, hat ihr sogar Kekse gebacken“.

Doch der „bravo ragazzo“, der Giulia so liebte und für sie Kekse buk, hat sie „mit unvorstellbarer Brutalität“ – so die Untersuchungsrichterin – massakriert. Und zwar mit hoher Wahrscheinlichkeit sehr wohl mit Vorsatz, denn er nahm zu dem Treffen zwei Messer mit, außerdem schwarze Plastiksäcke, mit denen er die Leiche bedeckte, und ein Klebeband, um sie am Schreien zu hindern. Giulia hat zu fliehen und sich zu wehren versucht, wie Videoaufnahmen am Ort und die vielen Verletzungen an ihrem Körper zeigen. Vergeblich. Gab es vielleicht doch Anzeichen, die auf die spätere Tat des netten, „nie aggressiven“ Jungen hinwiesen? Ja, die gab es. Aus Nachrichten, die Giulia an ihre Freundinnen schickte, geht sehr deutlich hervor, dass sie sich verfolgt und bedroht fühlte und „ganz aus seinem Leben verschwinden“ wollte, aber Angst hatte, dass er dann „verrückt spielt und sich was antut“. Auch ihre Schwester Elena und Freundinnen erzählen von Turettas Kontrollsucht und seiner obsessiven Bedrängung Giulias.

Die Repubblica-Journalistin Concita De Gregorio schreibt, das Geschehen lasse sie nicht los. „Warum wollte er nicht, dass sie vor ihm ihr Hochschuldiplom erhält? Weil er sich dadurch gedemütigt gefühlt hätte. Doch auf Grund welcher Regel, welchen Prinzips? Gibt es vielleicht eine unausgesprochene, aber tief verankerte Vorstellung, nach der Mädchen einen Schritt zur Seite zu gehen haben? Dass sie ein bisschen ihr Tempo bremsen müssen, damit du – Mann – glänzen und deine natürliche Führungsrolle einnehmen kannst? … Wo liegt die schmale Grenze zwischen obsessiver Zuwendung und Kontrolle, wo zwischen Kontrolle und Unterdrückung? Das kann ein Augenblick sein. Ein geduldetes Abrutschen. Nicht immer endet das als Tragödie, ich weiß. Aber jedes Mal, wo es als Tragödie endet, sieht der Weg so aus“.

Wenn es um die Gründe geht, verweisen Psychologen oft auf die mangelnde Frustrationstoleranz bei Männern, die ein „Nein“ oder eine Trennung nicht ertragen, und auf ihr fragiles Identitätsgefühl. Doch auch Frauen werden verlassen, erleiden Trennungsschmerz, erleben Fragilität und Identitätskrisen. Aber sie ermorden deshalb ihre Partner, Ehemänner, Liebhaber – sagen wir – nur selten. Dass hingegen Femizide durch männliche Täter weit verbreitetet sind, hat mit seit Jahrhunderten währenden Überlegenheitsphantasien und Dominanzbestreben zu tun, die in der Gesellschaft noch tief verankert sind.

Hohe Anzahl von Femiziden in Italien – und in Deutschland

Giulias Ermordung ist die letzte einer langen Serie. Von Januar bis November dieses Jahres zählt die italienische Statistik 105 Femizide, das heißt Tötungen von Frauen aufgrund ihres Geschlechts. Ähnlich sind die Zahlen in Deutschland: bis zum 7. November dieses Jahres wurden 97 Frauen zu Opfern von Femiziden. Im Jahr 2021 lag Deutschland mit 337 getöteten Frauen sogar an der Spitze der europäischen Statistik. Es folgten Frankreich (228), Großbritannien (207) und an vierter Stelle Italien (119). Sowohl in Italien als auch in Deutschland stellt der Femizid keinen eigenständigen Straftatbestand dar. Mit einem Unterschied: in Italien wurden 2013 und 2019 Gesetze verabschiedet, die gezielt auf die Bekämpfung von Tötungs- und Gewaltdelikten gegen Frauen aufgrund ihres Geschlechts ausgerichtet sind. In diesem Zusammenhang hat sich inzwischen auch die Bezeichnung „Femizid“ – femminicidio – in Italien etabliert.

Im deutschen Strafrecht hingegen werden Femizide allgemein unter die Tatbestände Mord und Totschlag subsumiert, und es besteht noch kein explizites Instrument, um sie gesondert zu bestrafen (abgesehen von allgemeinen Strafverschärfungsgründen, zum Beispiel niedrige und menschenverachtende Motive). Auch werden Femizide in Deutschland in den Medien und in der Öffentlichkeit meist als „Beziehungstat“, „Eifersuchtsdrama“ oder „Eskalation von Familienstreit “ klassifiziert. Bezeichnungen, die den spezifischen Charakter des Verbrechens und die Verantwortung der männlichen Täter verwischen.

Ob diese Aspekte mit dazu beitragen, dass in Deutschland das Thema in der öffentlichen Wahrnehmung nicht so präsent ist wie in Italien, kann nicht pauschal beantwortet werden. Fakt ist, dass Femizide in Italien politisch, medial und innerhalb der Bevölkerung mehr als in Deutschland beachtet werden – trotz ähnlicher oder sogar höherer Zahlen in Deutschland.

Reaktionen im ganzen Land

Die Erschütterung über die Ermordung Giulias ist im ganzen Land groß. Größer, als nach vielen genauso grausamen Femiziden zuvor. Das trifft auch auf mich selbst zu. Warum ist das so? Neben dem jungen Alter von Opfer und Täter könnten gerade die so erschreckend „normalen“ Umstände ein Grund sein: stabiles familiäres und soziales Umfeld, „geordnete“ Lebensverhältnisse, alles „wie es sein soll“. Und: Gerade der vordergründig banale Anlass ist besonders verstörend. „Dieser Satz: ‚Er wollte nicht, dass sie vor ihm ihr Diplom macht, sie sollte langsamer werden‘, er trübt mir das Augenlicht“, schreibt Di Gregorio.

Tausende von Frauen und Männern in ganz Italien gehen in diesen Tagen auf die Straße, organisieren Flashmobs gegen die Gewalt an Frauen. Tausende von Studentinnen und Studenten versammeln sich in und vor den Schulen und Universitäten. Sie folgen dem Appell von Giulias Schwester Elena: „Haltet keine Schweigeminute, seid laut!“ und rufen zu „Minuten des Lärms“ auf. Sie schlagen auf die Schulbänke, schwenken Schlüsselbünde und blasen in Trillerpfeifen, klatschen laut in die Hände, schreien. Giulias Haus im Städtchen Vigonovo bei Venedig ist das Ziel vieler Menschen, auch aus anderen Städten, die vor der Tür Blumen und Zettel ablegen, mit Botschaften der Trauer, des Mitgefühls und der Wut.

Auch die Politik ist in Aufruhr. PD-Generalsekretärin Schlein hat ihre politische Gegenspielerin Meloni zu einem gemeinsamen Vorgehen gegen die Gewalt an Frauen jenseits politischer Grenzen aufgefordert. Meloni reagierte grundsätzlich positiv, aber Differenzen bleiben. Schlein – die hier von den 5Sternen unterstützt wird – schlägt vor, in allen Schulen verpflichtend Sexualerziehung und Unterrichtsstunden „zu Respekt und Affektivität“ einzuführen. Die Regierung kontert, der Schulminister habe bereits ein entsprechendes Projekt in der Schublade: eine Stunde pro Woche zur „Beziehungsbildung“, aber nur drei Monate lang und nicht verpflichtend. Und Nein zum Sexualunterricht. Zu wenig, sagt die Opposition. Derzeit laufen Kontakte, um parteiübergreifend einen Konsens zu suchen.

Dass neben einer konsequenteren Strafverfolgung Initiativen zur Prävention eingeführt werden, ist richtig. Klar ist aber auch, dass Unterrichtsstunden zu Respekt und Empathie allein nicht reichen. Genauso notwendig ist es, auch die Eltern einzubeziehen und die Faktoren zu beseitigen, die Frauen immer noch diskriminieren und patriarchalische Rollenteilungen festigen – in allen gesellschaftlichen Bereichen.

PS: Eine halbe Million Menschen nahm gestern, am 25. November, dem Internationalen Tag gegen die Gewalt an Frauen, an einer Protestdemonstration in Rom teil. Weitere Zehntausende gingen in vielen anderen Städten Italiens auf die Straße.

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