Melonis Albanien-Coup

Die menschliche Selbstaufklärung darüber, dass den Menschen jenseits der eigenen Grenzen das gleiche Lebensrecht zukommt wie uns selbst, brauchte ein paar Jahrtausende – die letzte Bastion, die ihr noch im Weg steht, ist der Nationalstaat, der mit der Idee verbunden ist, dass sich die Menschen zuallererst um das Wohlergehen des eigenen „Vaterlands“ zu kümmern haben. Eine Idee, deren destruktives Potenzial darin besteht, dass sie – als „Nationalismus“ oder „Imperialismus“ – immer noch zu Lasten anderer Völker gehen kann. Spätestens seit es sich im vergangenen Jahrhundert in zwei mörderischen Weltkriegen austobte, hielt man die Zeit für einen weiteren Entwicklungssprung reif: die Gründung der Uno, in der man auf der Grundlage der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) den Keim einer künftigen Weltregierung sah, welche die zwischenstaatlichen Beziehungen und Konflikte schrittweise in die friedlichere Arena einer neuen Weltinnenpolitik verwandeln könnte.

Das Menschenrecht auf Asyl

In diesen Kontext und die durch die Weltkriege ausgelösten Flüchtlingsströme gehört auch das Asylrecht, d. h. Art. 14, Abs. 1 der UN-Menschenrechtsdeklaration, welcher das „Recht jedes Menschen“ verkündet, „vor Verfolgungen Asyl in anderen Ländern zu suchen und zu genießen“. Ein Recht, das dann durch die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 und ihre Neuauflage von 1967, welche allen Flüchtlingen, die keine Kriminellen sind, Schutzrechte zusprachen, weiter ausbuchstabiert wurde. Als 1949 die Eltern des deutschen Grundgesetzes in Art. 16a festlegten, dass in Deutschland „politisch Verfolgte Asylrecht genießen“, hatten sie noch die Vertreibungen des „Dritten Reichs“ in Erinnerung. Womit das deutsche Asylrecht zum Ausweis dafür wurde, dass Demokratien auch aus ihrer eigenen Geschichte und deren Katastrophen lernen können.

Inzwischen sind diese Blütenträume verwelkt: Die UNO hat sich als Keim einer neuen gerechteren globalen Ordnung selbst blockiert, die Welt zerfällt wieder in sich bekriegende Machtblöcke, die Menschenrechte befinden sich fast überall auf dem Rückzug. Dazu addieren sich weltweite Flucht- und Migrationsbewegungen, hinter denen einerseits Kriege, autoritäre Regimes, Hunger und die Auswirkungen des Klimawandels stehen, andererseits aber auch bessere Informiertheit und Transportmöglichkeiten. Wie für die gesamte Welt sind sie auch für die westlichen Gesellschaften zu einer Herausforderung geworden, auf die sie nicht vorbereitet sind und auf welche die Selbstabschottung oft die probateste Antwort zu sein scheint.

Der Beginn des Rückzugs

Emblematisch für diesen Rückzug ist in vielen Demokratien die fortschreitende Demontage des Asylrechts und die Karriere eines „Modells“, das in den Lehrbüchern vor einem halben Jahrhundert noch als abschreckendes Beispiel geführt wurde: Australien. Sein Grundprinzip heißt Abschottung und Abschreckung: Wer es wagt, „illegal“ australischen Boden zu betreten, wird sofort in ein Internierungslager auf eine weit entfernte Insel (Nauru oder Papua-Neuguinea) verbracht.

Inzwischen findet das australische Beispiel Nachahmer. Den ersten Anlauf unternahm der neue Premier von Großbritannien, Rishi Sunak, als er in diesem Frühjahr mit Ruanda verabredete, Asylsuchende, die es bis nach GB schafften. sofort nach Ruanda zu verfrachten, wo sie dann „ihren Antrag“ stellen konnten. Dass dies soeben die britische Justiz mit der Feststellung vereitelte (in letzter Instanz), dass Ruanda kein „sicheres Drittland“ sei, hindert Sunak nicht daran, das Vorhaben weiter zu verfolgen – zumal sein Vorgehen ja auch andere Regierungen aufgeweckt habe: „Es ist die einzige wirkliche Abschreckung. Andere Länder wie Italien, Deutschland und Österreich folgen uns.“ Hier werden Deutschland und Italien schon in einem Atemzug genannt.

Melonis Abkommen mit Rama

Den nächsten Schritt tat Italien, und zwar in einer Pressekonferenz, die Giorgia Meloni am 7. 11. einberufen hatte und auf der sie ihre Überraschungskarte aus dem Ärmel zog: Albanien, mit dessen Ministerpräsident Edi Rama sie einen Tag zuvor schon alles Wesentliche verabredet habe. Rama habe erlaubt, in der kleinen albanischen Hafenstadt Shengjin und in dem nur wenige Kilometer entfernten Gjader auf eigene Kosten zwei Lager zu errichten, in denen monatlich 3000 Geflüchtete untergebracht werden könnten, wobei das interne Personal von Italien, das externe (z. B. das polizeiliche Wachpersonal für die Außenbewachung) von Albanien gestellt und Italien bezahlt wird. Bei den Insassen solle es sich nur um erwachsene Männer handeln, die von der italienischen Marine oder Küstenwache aus dem Mittelmeer gefischt wurden (von NGO-Schiffen gerettete Flüchtlinge sollen wie bisher in Italien angelandet werden – natürlich im entferntesten Hafen). Noch auf den Schiffen sollen sie sofort von Frauen, Kindern oder sonstigen fragilen Personen getrennt werden, um sie dann ohne Verzug nach Shengjin zu bringen (noch bestehende Unklarheit: Nach Ramas Meinung sollen nur Kinder und „schwangere Frauen“ nicht nach Albanien verbracht werden). Eine Verbringung, die natürlich eine italienische Quästur zu verfügen und ein Richter innerhalb von 48 Stunden zu bestätigen habe. In Shengjin würden sie dann registriert werden, worauf eine aus Italien angereiste Kommission im Eilverfahren klären werde, wer einen Anspruch auf Asyl habe und wer umgehend zurückzuführen sei (weil er z. B. aus einem „sicheren“ Herkunftsland kommt). Im Normalfall, so Meloni, müsse das für jeden Geflüchteten innerhalb eines Monats möglich sein – woraus sie eine Zahl ableitet, die sie in den Mittelpunkt ihrer Propaganda rückt: So könnten in Albanien jährlich 39000 Flüchtlinge abgefertigt werden.

Pferdefüße

Die Sache hat jedoch einige Schönheitsfehler:

  1. ist immer noch rechtlich fraglich, ob die bisherige Praxis, dass über ein Asylbegehren im Aufnahmeland zu entscheiden ist, dadurch zu umgehen ist, dass der Verhandlungsort in ein Drittland verlagert wird, das dafür – z. B. als Gegenleistung für andere Gefälligkeiten – für eine begrenzte Zeit auf ein Stück Souveränität verzichtet;
  2. ist rechtlich fraglich, ob die Entscheidung der Richterin Apostolico von Pozzallo, dass Asylsuchende während ihres Verfahrens nicht festgesetzt werden dürfen, nicht auch dann zu gelten hat, wenn das Verfahren in albanische Lager verlagert wird, welche die Insassen, wie jetzt eingeräumt wird, während ihres Aufenthalts in Albanien nicht verlassen dürfen;
  3. ist es schon sachlich die Frage, ob die Annahme, dass nach der Einweisung der Geflüchteten im Normalfall ein Monat zur „Abfertigung“ genügt, nicht nur dann gelten könne, wenn ihnen elementare Rechtsmittel wie z. B. das Widerspruchsrecht gegen eine Ablehnung vorenthalten werden, also das geltende Asylrecht drastisch beschränkt wird;
  4. ist mehr als fraglich, ob sich die geschätzte Aufnahmekapazität von jährlich 39000 Geflüchteten (die Zahl ist wohl ein Rechenfehler, gemeint sind vermutlich 36000) nicht völlig überzogen erweist, wenn man die durchschnittliche Dauer des Verfahrens nicht bei einem Monat, sondern – wie bisher üblich – bei mindestens einem Jahr ansetzt;
  5. ist die Annahme unrealistisch, dass abgelehnte Asylbewerber, die kein Bleiberecht bekommen – bisher bildeten sie die Mehrheit – sofort in ihre Herkunftsländer „zurückgeführt“ werden könnten. Entweder müssten sie nun doch nach Italien gebracht werden, was durch das Abkommen gerade vermieden werden soll, oder – was wahrscheinlicher ist – zu Dauergästen der albanischen Lager werden, dort allerdings fast ohne Chance auf eine Integration in ihre soziale Umgebung.
  6. Das erklärte Ziel des Albanien-Projekts ist es, die Beschäftigung Italiens mit den Bootsflüchtlingen möglichst weitgehend zu „exterritorialisieren“, d. h. auf andere Länder abzuwälzen. Wenn aber jetzt schon absehbar ist, dass es mit diesem Projekt kaum gelingen wird, stellt sich zumindest die Frage nach seinem Nutzen für den italienischen Steuerzahler, der ja den Aufwand für den Bau und die Unterhaltung der Lager, das albanische Wachpersonal, die Infrastruktur und Bezahlung des italienischen Personals und die nötigen mehrfachen Transporte zwischen Italien und Albanien zu zahlen hat. Denn eines ist sicher: Das Projekt ist teuer.

Wer führt die Rechte?

Womit sich auch die Frage stellt, warum Meloni das Projekt so hartnäckig betrieb und es bisher mit viel Geheimnistuerei umgeben hat. Denn über die Verhandlungen mit Rama, die sie persönlich führte und die, als Höflichkeitsbesuch im Sommerurlaub getarnt, im August begannen, hat sie bis zur Pressekonferenz am 7. 11. nicht einmal ihre Koalitionspartner informiert. Der Hauptgrund dürfte die Konkurrenz zu Salvini sein, der immer noch hofft, ihr in der Wählergunst zumindest in der Flüchtlingsfrage wieder den Rang ablaufen zu können, und der bisher keine Gelegenheit ausließ, ihr in dieser Frage mangelnde Härte und allzu viel Rücksichtnahme auf die EU vorzuwerfen. Das Datum, an dem Meloni die albanischen Lager als „ihr“ Projekt feierlich eröffnen möchte, verrät den Grund: Es soll wenige Wochen vor der Europawahl am 6. Juni sein, mit der Botschaft, um die es Meloni vor allem geht: Seht ihr, andere reden, aber ich mache wirklich etwas.

Rama möchte in die EU, die Sozialisten sind gespalten

Und worum geht es dem albanischen Sozialisten Rama, der bei diesem Abkommen so viel Entgegenkommen zeigt? Die plausibelste Erklärung ist sein Wunsch, Albanien bald in die EU zu führen, wofür er europäische Fürsprecher braucht. Denn dafür galt das Land bisher nicht als Traumkandidat, da es noch allzu oft im Kontext von klandestiner Migration, illegalen Geldflüssen. Drogen und Mafia genannt wird – die albanische Mafia hat sich dadurch Respekt verschafft, dass sie der stärkste europäische Rivale der italienischen N’drangheta ist. Bei einem Teil der europäischen Sozialisten löste es Empörung aus, dass Rama bereit ist, sich ausgerechnet mit der Postfaschistin Meloni auf ein solches Experiment einzulassen – weshalb eine der ersten Reaktionen aus dem römischen Hauptquartier der PD kam und aus der Forderung bestand, Rama und seine Partei aus der Sozialistischen Internationale auszuschließen: Das Treffen der Sozialistischen Internationale, das am 10./11. November in Malaga anstand, biete dafür die nächste Gelegenheit. Aber es war niemand Geringeres als Olaf Scholz, der dagegen sein Veto einlegte, mit der Begründung. dass ja auch in Deutschland die Frage diskutiert werde, ob die Asylverfahren nicht außerhalb der EU durchgeführt werden könnten (im Koalitionsvertrag der Ampel steht, man wolle es „prüfen“).

Das Menschenrecht auf Asyl ist noch nicht abgeschafft, aber es bröckelt. Die Sozialistische Internationale Europas ist in dieser Frage schon gespalten, in Deutschland sitzt der SPD die AfD im Nacken. Die Grünen haben nicht widersprochen, wie auch schon bei der Koalitionsvereinbarung. In Italien ist man einen Schritt weiter und nutzt das Veto von Scholz, um Elly Schleins Kritik an Melonis Albanien-Deal mit Hohn als das Genörgel einer Ewig-Gestrigen zu übergießen.