Italiens Appell bleibt unerhört

Wahrscheinlich glaubte nicht einmal die italienische Regierung, ihr Appell an Europa werde erhört, Italien und Griechenland bei der Aufnahme der über das Mittelmeer kommenden Flüchtlinge nicht allein zu lassen. Es kam, wie erwartet: Das informelle Gipfeltreffen der EU-Innenminister am 6. Juli in Tallin endete mit einer beinah kompletten Absage an die italienischen Vorschläge. Akzeptiert wurden nur Maßnahmen zur stärkeren Gängelung von NGOs, die im Mittelmeer Rettungsaktionen durchführen, und zum Zurückdrängen von Flüchtlingen Richtung Libyen. Ungeachtet der katastrophalen Zustände in den dortigen Lagern und der Tatsache, dass in Libyen Chaos und Anarchie herrschen und es dort keine funktionierenden staatlichen Strukturen gibt.

Kurz vor dem Treffen hatte Italiens Innenminister Minniti die „untragbare Situation“ an den süditalienischen Küsten angemahnt und gedroht, die italienischen Häfen für Rettungsschiffe von ausländischen NGOs zu schließen, sollten die EU und ihre Mitgliedstaaten nicht zu einer gerechteren Aufgabenteilung bereit sein.

Es bleibt nur die Mittelmeer-Route

Nach der Schließung der Balkanroute ist die Mittelmeer-Route für Flüchtlinge die einzige gebliebene Möglichkeit, Europa zu erreichen. Seit Jahresbeginn wurden über 85.000 Menschen von Rettungsschiffen an die italienischen Küsten gebracht. Über 20% mehr als im gleichen Zeitraum im Vorjahr. Mehr als 2000 Männer, Frauen und Kinder sind ertrunken. Es ist zu erwarten, dass in den Sommermonaten wegen der günstigeren Wetterbedingungen die Zahlen weiter ansteigen.

Wenn Minniti also von einer „untragbaren Situation“ spricht, hat er recht. Nicht, weil es sich – wie Lega, 5SB und Forza Italia behaupten – um eine „Invasion“ handelt. Nur ein Bruchteil (3%) der über 65 Millionen Menschen, die weltweit derzeit auf der Flucht sind, sucht den Weg nach Europa. 40,8 Millionen sind Binnenflüchtlinge, die innerhalb des eigenen Staatsgebiets bleiben. Und in Europa stand 2016 nicht Italien mit Flüchtlingszahlen an der Spitze, sondern Deutschland (700.000; Italien zum Vergleich: 147.370). Die Statistik „Flüchtlinge pro 1000 Einwohner“ führt Schweden mit 23,4 an (Italien steht auf Platz 16 mit 2,4). Sprüche von „Invasion“ und „Nur Italien nimmt Flüchtlinge auf!“ sind kalkulierte Stimmungsmache. Und von Rechtsextremen aller Länder, unabhängig von den realen Zahlen, fast gleichlautend zu hören.

Vergebliche Druckversuche

Was aber in der Tat unerträglich ist und von Italiens Regierung zu recht angeprangert wird, ist die Weigerung europäischer Mitgliedstaaten, auf die veränderte Lage nach der Schließung der Balkanroute zu reagieren und Italien und Griechenland zumindest teilweise zu entlasten.

Dass die italienische Drohung der Hafenschließung ernst gemeint war, ist zu bezweifeln, schon allein aus rechtlichen Gründen. Deren Umsetzung hätte nämlich gegen eine Reihe internationaler Abkommen über die Seenotrettung und die Sicherheit auf den Meeren verstoßen (Montego Bay von 1970, SAR-Abkommen Hamburg 1970, SOLAS 1974, SAR-Convention 1979). Sie schreiben u.a. vor, dass Menschen in Seenot Hilfe zu erteilen ist und dass sie in den „nächsten sicheren Hafen“ zu bringen sind. Für die aus Libyen kommenden Flüchtlinge (d.h. derzeit fast alle) sind es die italienischen Häfen. Zwar liegen Malta und Tunesien geographisch näher. Doch Malta hat die entsprechenden Abkommen unter Berufung auf die Begrenztheit seines Hoheitsgebiets nicht ratifiziert und Tunesien erfüllt nicht die rechtlichen Kriterien für einen „sicheren“ Hafen.

Nein zu gesamteuropäischer Verantwortung

Dies war natürlich auch der italienischen Regierung bekannt, als sie dem EU-Migrationskommissar Avramopoulos eine Verbalnote mit dem Hinweis auf eine mögliche Schließung der Häfen zukommen ließ. Was sie damit wollte, war mit Blick auf die anstehenden EU-Treffen einer Reihe von Forderungen Druck zu verleihen. Allen voran die sogenannte „Regionalisierung“ der von der EU-Grenzagentur Frontex geleiteten Mission „Triton“, sprich die Ausweitung ihres Einsatzgebiets (als „Search and Rescue“-Zonen) auf die Gewässer weiterer Länder. Gefordert wurde auch die Umsetzung des „Relocation-Programms“, dem zufolge (bis September 2017) 160.000 Flüchtlinge aus Italien und Griechenland auf andere EU-Länder umverteilt werden müssen . Bisher gelang das nur bei 23.200 Flüchtlingen, davon 5000 nach Deutschland. Die meisten EU-Länder weigern sich, auch nur einen einzigen Flüchtling aufzunehmen. Ein weiteres Hindernis besteht darin, dass das Programm nur für Flüchtlinge aus Syrien, Eritrea und Irak gilt, während derzeit die meisten aus anderen Ländern kommen. Auf Italiens Liste stand auch die Revision der „Dublin-Regelung“, nach der das „Ankunftsland“ automatisch auch für das jeweilige Asylverfahren zuständig ist.

Ja zur Gängelung von Rettungsschiffen …

Rettungsaktion im Mittelmeer

Rettungsaktion im Mittelmeer

Schon beim Vorbereitungstreffen der Innenminister Italiens, Deutschlands und Frankreichs in Paris wurde klar, dass Italien nicht mit einer Zustimmung zu diesen Vorschlägen rechnen konnte. Auch der „Aktionsplan“, den die EU-Kommission für Tallin vorbereitet hatte, signalisierte Ablehnung, die beim Gipfeltreffen dann auch bekräftigt wurde. Zustimmung gab es nur zu den Punkten des italienischen Forderungskatalogs, die auf eine stärkere Abschottung Europas und eine (Rück)verlagerung der Flüchtlingsbewegungen nach Libyen zielen.

So wurde den Rettungsschiffen der NGOs ein „Verhaltenskodex“ auferlegt, der ihnen ihre Mission zusätzlich erschwert: Sie dürfen grundsätzlich nicht in libyschen Gewässern agieren, was viele Menschenleben kosten wird, denn die Schlepper überlassen die maroden Flüchtlingsboote meist schon vor der Küste Libyens ihrem Schicksal. Den NGO-Schiffen wird ferner untersagt, mit akustischen oder visuellen Signalen Flüchtlingsboote auf sich aufmerksam zu machen. Und sie erhalten die Auflage, gegenüber den Hafenbehörden ihre Bilanzen zu dokumentieren, was eine unnötige Schikane ist, denn die betroffenen Organisationen müssen diese ohnehin den Finanzämtern ihrer Herkunftsländer vorlegen, viele veröffentlichen sie auch online.

… und zur Finanzierung libyscher Milizen

Das zweite „positive“ Ergebnis betrifft Libyen: 46 Millionen mehr für die dortige Küstenwache und für die Abriegelung der libyschen Südgrenze, samt vermehrten Rückführungen in dieses Land. Begleitet von leerer Rhetorik über die „Schaffung menschenwürdiger Zustände“ in den dortigen Lagern. Die EU fördert damit eine „Institution“, gegen die – wie Anfang Juli bekannt wurde – der Internationale Gerichtshof in Den Haag wegen Verdachts auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit ermittelt. Retter berichten, dass über 80% der aus Libyen kommenden Flüchtlinge Spuren von Schlägen, Vergewaltigung und Folter aufweisen. Auch viele Kinder sind betroffen, die oft Opfer von Menschenhandel sind. Die libysche Küstenwache rekrutiert sich aus einer Kriegsmiliz, die Libyens Gewässer kontrolliert und aus dem Elend der Flüchtlinge ein florierendes Geschäftsmodell entwickelt hat. Gelegentlich schießt sie auch auf italienische Schiffe. Solche Herrschaften werden nun mit EU-Geldern finanziert und „ausgebildet“, damit sie Flüchtende von Europa fernhalten. So wie der Diktator Erdogan, der zum gleichen Zweck von der EU Milliarden bekam.

Da das Gipfeltreffen in Tallin informeller Natur war, bedarf das dort Vereinbarte noch eines förmlichen Beschlusses, zu dem es voraussichtlich am 11. Juli bei einem Treffen in Warschau kommen wird. Italien werde dort die noch offenen Fragen wieder aufs Tapet bringen, meinte Minniti. Er sei dennoch zufrieden, dass man in Tallin „alles in allem gute Fortschritte“ erzielt habe. Fragt sich nur, Fortschritte für wen.