Flucht der Gehirne

Italiens kluge Köpfe fliehen. In die Schweiz, nach Großbritannien, nach Frankreich, nach Argentinien. Und nach Deutschland. Immer mehr junge, hochqualifizierte Wissenschaftler und Fachkräfte wenden dem Bel Paese den Rücken zu und finden eine berufliche Perspektive im Ausland. Forscher, Architekten, Ärzte, Ingenieure, Künstler, Experten für neue Technologien. Und 60 % der Italiener zwischen 18 und 24 Jahren erklären, sie seien zur Auswanderung bereit.

     Ciao Italia!

Ciao Italia!

Massenweise Brain-Drain oder – wie die Italiener sagen – „cervelli in fuga“. Von den hohen Kosten, die Italien in ihren „fliehenden Gehirne“ investiert hat, profitieren andere Länder. Und es handelt sich nicht gerade um Peanuts: Für die Ausbildung der über 200.000 Fachkräfte, die im Zeitraum 2008-2014 auswanderten, bezahlte Italien schätzungsweise 23 Milliarden Euro. Die Zahlen und Kosten sind in Wahrheit höher, weil die Statistiken nur diejenigen erfassen, die sich vor ihrer Abreise amtlich abmelden. Viele aber fahren einfach los und versäumen die Abmeldung. Oder vermeiden sie bewusst, weil sie sich die Option offen erhalten wollen, doch irgendwann komplikationslos nach Italien zurückkehren zu können, und daher ihren dortigen Wohnsitz beibehalten.

Die Gründe sind vielfältig

Warum oder wovor fliehen die jungen italienischen Talente? In erster Linie natürlich wegen der fehlenden beruflichen Perspektiven im Heimatland, besonders seit der Verschärfung der Wirtschaftskrise und der damit einhergehenden Zunahme der Jugendarbeitslosigkeit, die derzeit bei über 40 % liegt. Aber es gibt auch andere Gründe, die Italiens Eliteauswanderer nennen: Korruption; ungerechte Bewerbungsverfahren, wo nicht Leistung und Qualifikation zählen, sondern „Vitamin-B“ (die katholischen Italiener haben dafür eine schönere Umschreibung: man muss „ein paar Heilige im Paradies“ haben); fehlendes Vertrauen in Politik und Institutionen; eine monströse Bürokratie, die nicht nur bürgerfeindlich, sondern auch äußerst ineffizient ist. Und immer noch – trotz Renzis Erneuerungskur – ein starres System von Privilegien, das „Alteingesessene“ schützt und „Neueinsteiger“ abwehrt. Auch gerade im Bereich von Wissenschaft und Forschung.

Es gibt mittlerweile – auch in Deutschland – eine Reihe von Portalen, Netzwerken und (teilweise „selbstorganisierten“) Beratungsstellen, die der neuen Auswanderergeneration (nicht nur aus Italien, sondern auch aus anderen Ländern Südeuropas) Orientierungshilfe und Unterstützung bieten. Von der Jobvermittlung und arbeitsrechtlichen Informationen bis hin zur Wohnungssuche, Gesundheitsversorgung und Einrichtung von Bankkonten. Arbeitssuchende Fachkräfte ihrerseits können dort inserieren oder nach Tipps für Beruf und Alltagsleben in der neuen Heimat fragen.

Eines der beliebtesten Ziele in Europa ist für die jungen Italiener Berlin. Beliebt, aber dennoch kein „Kult“, kein „Sehnsuchtsort“. Einfach eine spannende Großstadt, die ihnen neben beruflichen Chancen auch eine Effizienz und eine Lebensqualität bietet, die sie in ihrer schönen, aber komplizierten Heimat vermissen.

Migranten oder „Bürger Europas“?

Viele von ihnen verstehen sich auch gar nicht als Zuwanderer. Sie sehen sich (und möchten gesehen werden) als Bürgerinnen und Bürger Europas, die das mit Selbstverständlichkeit in Anspruch nehmen, was anderen – z. B. Flüchtlingen aus nichteuropäischen Staaten – verwehrt ist: dorthin zu gehen, wo sie sich eine bessere Lebensperspektive erhoffen. Ein verständliches, naheliegendes Bestreben. Das allerdings nicht immer auf freiwilliger Entscheidung gründet.

Auf die Frage: „Wenn du an deine Zukunft denkst und frei wählen könntest, wo möchtest du arbeiten?“ antworteten bei einer Umfrage der ISTUD-Stiftung 37,8 % : “In einer Stadt, die nicht weit von meinem Wohnort ist“, und 16,1 % „In einer italienischen Stadt, auch wenn sie weit von meinem Wohnort entfernt ist“. 28,4 % gaben an, am liebsten im europäischen Ausland, und 9,2 % in einem Land außerhalb Europas arbeiten zu wollen. Insgesamt möchte also über die Hälfte der Befragten (53,9 %) – wenn sie die Wahl hätten – an einem Ort in Italien arbeiten. Der Wunsch, im Ausland zu arbeiten, ergibt sich demnach für die meisten weniger aus der Lust auf internationale Erfahrungen und mehr aus existentieller Notwendigkeit und Unzufriedenheit mit den Verhältnissen im eigenen Land.

Fataler Trend für Italien

Für Italien stellt dieser Trend ein gewaltiges Problem dar. Nicht nur, weil das Land große finanzielle Verluste erleidet, sondern vor allem, weil ihm hochqualifizierte Fachkräfte entzogen werden, die für die wirtschaftliche Entwicklung und die Zukunft des Sozialstaats dringend gebraucht werden. Zumal in Italien – genauso wie in Deutschland und anderen europäischen Ländern – aufgrund der demographischen Entwicklung der Mangel an solchen Fachkräften sich noch weiter verschärfen wird.

Notwendig wäre eigentlich eine Fachkräfteoffensive, die sowohl im Land vorhandene Ressourcen fördert als auch Anreize für junge Talente aus dem Ausland schafft. Davon ist Italien allerdings – anders als Deutschland – weit entfernt. An Europas größte Universität, der römischen „ La Sapienza“, stammt lediglich jeder 20. Student aus dem Ausland. Und ausländische Professoren – so Birgit Schönau in einer Zeit-Reportage – „kann man in Italien mit der Lupe suchen“. Von internationaler Öffnung also (fast) keine Spur.

Ein schwerwiegender „Standortnachteil“, welcher von keiner der in den letzten Jahrzehnten agierenden Regierungen ernsthaft in Angriff genommen wurde. Auch nicht von dem Alleskönner Renzi mit seinem griffigen Motto „L‘ Italia cambia verso“ („Italien ändert die Richtung“). In Sachen Talent- und Nachwuchsförderung ist keine Richtungsänderung in Sicht. Und die Gehirnflucht geht unvermindert weiter.

Übrigens: Deutschland kann dies alles sehr recht sein. Es führt ihm fertig ausgebildetes, qualifiziertes Personal zu und erspart ihm zumindest teilweise einen Richtungswechsel in der Flüchtlingspolitik.

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