Der Schatz im eigenen Haus

Roger Köppel von der „Weltwoche“ schrieb kürzlich, es sei unsere „moralische Pflicht“, den Zustrom von Flüchtlingen über das Mittelmeer definitiv zu stoppen. Mit der „australischen Lösung“, angewandt aufs Mittelmeer: Die „Illegalen“ gar nicht erst europäischen Boden betreten lassen, sondern sofort zurück nach Afrika expedieren, die Schlepperboote schon an der libyschen Küste versenken und die „echten“ Flüchtlinge in der Nähe der Krisengebiete in Einrichtungen parken, die Köppel „Rettungslager“ nennt. Zur moralischen Beruhigung unter UN-Aufsicht. Auf jeden Fall weit weg von uns. Es gibt Leute, die ihm Beifall klatschen.

Die Rolle von Zuwanderern in Italien

Manchen fällt es noch schwer, den Zusammenhang zwischen dem demografischen Wandel und den sich daraus ergebenden Anforderungen an die europäische Migrationspolitik zu sehen. Dabei ist dieser Zusammenhang keine Kopfgeburt, sondern längst Realität. Selbst in Italien, also in einem Land, in dem anhaltende Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit, so könnte man meinen, eigentlich jeden Wunsch nach Zuwanderung ersticken müssten. Stellen die Familien, die sich zur Lösung des familiären Generationenproblems philippinische oder afrikanische „Badanti“ ins Haus holen, nicht genau diesen Zusammenhang her? Natürlich spielt dabei nicht nur die Demografie eine Rolle, sondern auch die schlichte Tatsache, dass es viele Arbeiten gibt, die „normale“ Europäer zu diesen Bedingungen und Preisen nicht mehr machen wollen. Siehe die landwirtschaftlichen Betriebe in Mittel- und Süditalien, die sich früher mit Arbeitern aus Albanien und Marokko, heute aus Bangladesh und Indien über Wasser halten. Also mit Menschen, die wir gern „Wirtschaftsflüchtlinge“ nennen.

Ansätze zum Paradigmenwechsel in Deutschland

In Deutschland, in dem es gegenwärtig keine Wirtschaftskrise gibt, ist der Zusammenhang noch klarer. Hier ist es die Wirtschaft, die immer lauter über den Mangel an qualifizierten Arbeitskräften klagt. Oder an Menschen, die zumindest bereit sind, sich qualifizieren zu lassen. Und siehe da: Obwohl es auch bei uns genug Köppels an den Stammtischen und in den Parteien gibt, die in den Zuwanderern und Flüchtlingen nur unerwünschte Eindringlinge sehen, entdeckt man in ihnen plötzlich das potenzielle Gold. Gegenwärtig scheint sich unser Land gegen alle Widerstände in ein Laboratorium zu verwandeln, in dem erprobt wird, wie sich dieses Gold heben lässt.

Als die Bundesregierung im vergangenen Herbst das strikte Arbeitsverbot für Asylbewerber auf 3 Monate senkte, wurde dies vielleicht etwas zu voreilig als „Paradigmenwechsel in der Flüchtlingspolitik“ begrüßt, der ein „neues politisches Bewusstsein“ für eine bessere Arbeitsmarktintegration der Migranten zeige (sopoaktuell Nr. 206, 3. 2. 15). Dazu rief die Bundesagentur für Arbeit (BA) das Pilotprojekt „Early Intervention“ (auf Deutsch geht’s offenbar nicht) ins Leben, das sich auf Asylbewerber konzentrieren will, die eine berufliche Qualifikation und eine Chance zur Anerkennung haben – und dem deutschen Arbeitsmarkt schon vor ihrer endgültigen Anerkennung zugeführt werden sollen.

Das ökonomische Motiv

Der erste Schritt besteht darin, solche Flüchtlinge überhaupt erst einmal zu identifizieren – durch „Talentscouts“ der BA, die in Augsburg, Bremen, Bremerhaven, Dresden, Freiburg, Hamburg und Köln in die Flüchtlingsheime gehen. In diesem Jahr kommen auch Berlin, Hannover und Ludwighafen dazu. Wer die Verhältnisse in den Flüchtlingsheimen ein wenig kennt, weiß, wie schwer allein dieser erste Schritt ist: fehlende Dokumente, kaum überbrückbare Verständigungsschwierigkeiten. Wenn sich die BA auf eine solche Ochsentour einlässt, dann nicht nur aus humanitären, sondern auch aus handfest wirtschaftlichen Gründen. So erklärte Peter Clever, der Vorsitzende des BA-Verwaltungsrats, der auch zur Geschäftsführung der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände gehört: „Asylverfahren dürfen nicht Lebensstillstand bedeuten… Gerade vor dem Hintergrund des hohen Fachkräftebedarfs müssen wir die Talente dieser Menschen besser erschließen und entwickeln“. Manfred Schmidt, der Präsident des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, ergänzte, es sei „eine ökonomische Notwendigkeit, ihnen den Zugang zum Arbeitsmarkt zu ermöglichen“.

Schweißer-Kurs in Fürstenwalde

Schweißer-Kurs in Fürstenwalde

Es gibt weitsichtige Unternehmer, die schon weiter vorpreschen. Eine Firma in Fürstenwalde (Brandenburg), die Windkraftanlagen baut und auf dem deutschen Arbeitsmarkt nicht genug Schweißer findet, wandte sich an die Leitung eines Flüchtlingsheims am gleichen Ort mit der Frage, ob es Interessenten für einen einführenden Schweißer-Kurs gibt. 13 junge Männer aus Somalia, Kamerun, Afghanistan und aus dem Tschad meldeten sich. Für sie gibt es jetzt ein unentgeltliches Praktikum, mit einem Intensivkurs in Deutsch, einem Grundlagenkurs in der Metallwerkstatt und viel Praxis. Wer sich bewährt, dem winkt eine reguläre Schweißer-Ausbildung. Wie man hört, scheint das Experiment zu gelingen.

Die zwei Gleise

Die europäische Flüchtlingspolitik läuft gegenwärtig auf ganz unterschiedlichen Gleisen. Auf dem einen tingelt ein Roger Köppel als Modellschweizer durch die Talkshows, um seine Botschaft von der „australischen Lösung“ und den „Rettungslagern“ in Afrika unters Volk zu bringen. Leider sind es nicht nur die Phantasien eines isolierten Rechtsaußen. Gerade wird ein Vorschlag der EU-Kommission bekannt, der zwar eine Quotenregelung für diejenigen Asylbewerber einführen will, die es schaffen, europäischen Boden zu erreichen, und ihnen auch Bewegungsfreiheit im gesamten EU-Raum geben will. Gleichzeitig soll der Ring der Abschottung noch tiefer nach Afrika verlegt werden: Nicht nur indem die Schlepper-Boote an der libyschen Küste zerstört werden (wofür man „nur“ noch die Zustimmung der UNO und Libyens braucht), sondern indem die afrikanischen Länder, welche die Flüchtlingsströme vor Libyen passieren, für Geld („finanzielle Hilfen“) ihre Grenzen dicht machen sollen. Ob dies, wenn es überhaupt funktioniert, nicht auch auf Köppels „Rettungslager“ hinausläuft, kann sich jeder selbst ausmalen.

Und auf dem anderen Gleis die ersten Anzeichen für einen „Paradigmenwechsel“ in der Flüchtlingspolitik, der endlich den Schatz im eigenen Haus zu heben beginnt. Eine Zweigleisigkeit, die ganz unterschiedliche Befindlichkeiten gegenüber dem Migrationsdruck bedient: die von Herrn Köppel dort und die vom Fürstenwalder Firmenchef hier. Und in der, wie ich fürchte, sich Europa auch längerfristig einrichten kann, weil sie das Sterben an den europäischen Grenzen nicht aufhält, aber unsichtbarer macht.