Europa verweigert sich weiter

Angekommen in Europa

Angekommen in Europa

Am Mittwoch letzter Woche besuchten EU-Präsident Barroso und die EU-Innenkommissarin Malmström Lampedusa. Ministerpräsident Letta und Innenminister Alfano begleiteten sie. In der Flughafenhalle, in der die Särge liegen, gedachten sie der über 300 Opfer. Fünf Minuten ließen sie sich Zeit, um die katastrophalen Zustände im „Erstaufnahmelager“ in Augenschein zu nehmen, der Platz für max. 300 hat und in dem derzeit über 1000 Menschen hausen – „leben“ kann man es nicht nennen. Viele schlafen auf der Erde oder in Pappkartons, der Gestank und der Schmutz in den völlig unzureichenden sanitären Anlagen sind unerträglich.

Die Bilder von verzweifelten Augen im Lager und den Särgen im Hangar von Lampedusa werde er seinen Lebtag nicht vergessen, sagte Barroso und erklärte, Europa werde den „italienischen Partner“ nicht allein lassen : „Der Notstand von Lampedusa ist europäisch. Europa kann nicht akzeptieren, dass viele tausend Menschen an seinen Grenzen umkommen“.

„Selbstverständlich werden wir nichts ändern“

Wohl wahr. Aber die konkreten Ergebnisse, die er aus dem EU-Treffen von Dienstag mitbrachte, sprechen eine andere Sprache. Barroso kündigte an, die EU werde Italien für die Erstaufnahme der Flüchtlinge 30 Millionen mehr zukommen lassen, die europäische grenzüberwachende Behörde „Frontex“ ausbauen und schärfer gegen die Schlepperbanden vorgehen. Von einer Kursänderung in der europäischen Flüchtlings- und Einwanderungspolitik also keine Spur. Die Bergung der Leichen lief noch, als Innenminister Friedrich selbstzufrieden vor der Presse verkündete, an der europäischen Haltung gegenüber Flüchtlingen und Einwanderern werde sich „selbstverständlich nichts“ ändern, im Gegenteil: Europa müsse noch härter gegen „Armutseinwanderer“, insbesondere aus Osteuropa, vorgehen. Und überhaupt: Deutschland habe viel mehr Flüchtlinge aufgenommen als Italien, er weise jegliche Kritik zurück. Er bleibt gefangen in seiner nationalen Sicht. Wo es gerade darum geht, eine sachgerechte gesamteuropäische Position zu entwickeln, die nicht länger am Grundsatz festhält „zuständig ist das Land, in dem der Flüchtling zuerst seinen Fuß (wenn er noch lebt) setzt“.

Gewiss muss auch Italien mehr Einwanderer und Flüchtlinge aufnehmen – und zwar unter menschenwürdigen Bedingungen, was bisher nicht der Fall ist. Weswegen dort Politiker von Mittelinks, Gewerkschaften, Migranten- und Flüchtlingsverbänden für die Abschaffung bzw. Modifizierung des sog. „Bossi-Fini-Gesetzes“ eintreten, das noch aus der Zeit der Berlusconi-Regierung stammt und für die meisten Zuwanderer eine legale Einreise beinah unmöglich macht. Perverse Konsequenz: Während für die Opfer ein Staatsbegräbnis vorbereitet wird, wird gegen die Überlebenden wegen des Straftatbestands der „illegalen Einreise“ ermittelt. Und die Fischer, die Menschen vom Ertrinken retteten, laufen Gefahr, wegen „Begünstigung illegaler Einwanderung“ angeklagt zu werden.

Die Festung Europa steht

Kein Wort hatte Europa übrig für die Vorschläge von UNHCR, Gewerkschaften, Rotem Kreuz und vielen anderen internationalen Organisationen, Quoten nicht allein für die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen, sondern auch anderer Verfolgter und arbeitssuchender Einwanderer in Existenznot festzulegen. Quoten, die je nach Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft auf alle EU-Länder zu verteilen wären. Und die Schaffung sog. „humanitärer Korridore“, die es den Flüchtlingen ermöglichen, schon in den Krisenländern selbst bei den europäischen Institutionen Schutz und legale Wege der Ausreise zu finden, damit sie nicht mehr auf kriminelle Schlepper und Menschenhändler angewiesen sind.

Davon wollen Innenminister Friedrich und Kollegen (vor allem aus dem europäischen Norden) nichts hören. Ihnen geht es darum, die Festung Europa noch effektiver „zu verteidigen“. Als ob Einwanderer und Flüchtlinge aus den Krisengebieten dieser Welt Feinde wären und nicht Menschen in existenzieller Not. Solange dies die Einstellung der europäischen Regierungen bleibt, werden Menschen auf der Flucht – im Mittelmeer oder anderswo – sterben. Und die Aussichten, dass die Völker Europas dagegen aufstehen, sind – gelinde gesagt – trübe.

Nachbemerkung: Zwei Senatoren der Grillos 5-Sternen-Bewegung beantragten letzte Woche in der Justizkommission des Senats, den Straftatbestand der „illegalen Einreise“ zu streichen. Der Antrag wurde mehrheitlich – gegen die Stimmen von PdL und Lega – angenommen. Ein Tag später verurteilten Grillo und Casaleggio diese Initiative via Blog: Die beiden Senatoren seien dazu nicht befugt gewesen. Ihre Position sei nicht in der M5S diskutiert worden (was die Senatoren bestreiten), nicht Teil ihres Programms und außerdem falsch. Denn: „Hätten wir während des Wahlkampfs die Abschaffung des Straftatbestandes der illegalen Einreise vorgeschlagen, den es auch in anderen Ländern … gibt, hätten wir prozentuale Ergebnisse in Höhe von telefonischen Vorwahlnummern bekommen… Sich an die Stelle der öffentlichen Meinung und des Volkswillens setzen zu wollen ist typisch für Parteien, die die Bürger ‚erziehen‘ wollen, aber nicht für uns … Dieser Antrag stellt de facto eine Einladung an Migranten aus Afrika und dem Mittleren Osten dar, sich nach Italien einzuschiffen … Lampedusa kollabiert und Italien geht es nicht gut. Wie viele Illegale sind wir in der Lage aufzunehmen, wenn einer von acht Italienern kein Geld zum Essen hat?“.

Bemerkenswert an der Reaktion von Grillo und Casaleggio ist nicht nur die Übernahme der rechten Parole „Das Boot ist voll und uns geht es auch schlecht“, sondern vor allem die Begründung: die Angst vor dem Verlust von Wählern. Wenn der „Volkswille“ die Kriminalisierung von Migranten und Flüchtlingen fordert, Sch… auf Menschenrechte und internationale Verpflichtungen: Wir folgen dem Volkswillen! Tolles Kriterium. Sollte sich das Volk mehrheitlich für die Todesstrafe aussprechen, wären Grillo und Casaleggio also auch dafür. Hauptsache, es gibt Stimmen. Populismus pur. Viele M5S-Abgeordnete reagierten auf den Post von Grillo und Casaleggio mit Kritik. Mal sehen, ob sie diesmal den Mumm haben, an ihren Positionen festzuhalten oder sich doch schließlich wieder ducken.

Indessen geht das Massaker im Mittelmeer weiter: am Freitag ertranken 38 Menschen, unter ihnen zehn Kinder, als wieder überfüllte Boote in Seenot gerieten. Für sie kam die Hilfe der Küstenwache, die über 200 Flüchtlinge rettete, zu spät.