Ein italienischer Blick auf Merkel

Vorbemerkung der Redaktion


In der gegenwärtigen Aufregung ging Merkels Wahlsieg ziemlich unter. Aber nicht völlig. Während die italienische Rechte in ihr vor allem Europas Unterdrückerin sieht, wird sie im linken Lager differenzierter wahrgenommen. Natürlich geht es auch hier um Europa. Barbara Spinelli schrieb am 25. 9. in der „Repubblica“ einen Beitrag, den wir auszugsweise übersetzen.


So sieht das Ausland Angela Merkel

So sieht das Ausland Angela Merkel

Merkels Gespaltenheit

„Es ist nicht ganz einfach, das politische Profil von Angela Merkel nachzuzeichnen, die jetzt zum dritten Mal Kanzlerin wurde. In ihrem eigenen Land triumphierte sie aufgrund des Anscheins von Ruhe, Sicherheit und Ideologieferne; die Deutschen nennen sie „Mutti“. Ohne Zögern übernimmt sie sozialdemokratische Ideen, wie Blair Ideen von Margret Thatcher übernahm. Europa zeigt sie ein anderes Gesicht: entschieden, rigide, eher Schwiegermutter als Mutter. Als ob es zu ihr einen Doppelgänger gäbe, einen Mr. Hyde, der nachts in den Städten Europas umgeht. Wo er zwar nicht kleine Mädchen stranguliert, aber sich die Ökonomien der Länder zurechtbiegt, deren Verschuldung die Toleranzgrenze seiner strafenden Moral überschreitet. Der sie zurechtbiegt, bis sie zusammenbrechen: so geschehen in Griechenland, dem größten aller Sünder.

Diese Gespaltenheit werden wir nun weiterhin in Rechnung stellen müssen, auch weil sich die Deutschen genau das wünschen: eine umzäunte Insel der Glückseligen, und draußen herrscht eine chaotische Unordnung, die nur die unerschütterliche Hand aus Berlin disziplinieren kann, um den Euro zu retten oder zu zerstören. Damit Deutschland nicht eine ausufernde Solidarität finanzieren muss.

Das Modell Merkiavelli

Ulrich Beck hat diese Strategie, welche die nationale Insel auf den Podest hebt, die Union in eine Nicht-Union verwandelt und jede europäische Vision vermissen lässt, das Modell Merkiavelli genannt. Der Fürst muss sich entscheiden: entweder geliebt oder gefürchtet werden. Die Wahlsiegerin spaltet sich: Zuhause wird sie geliebt, draußen erweckt sie Furcht. Wenn sie in diesen Jahren Zögern zur Regel machte, wenn sie sich an einem Tag der föderalen Union öffnet, um sich am nächsten Tag wieder heftig gegen einen größeren europäischen Haushalt, gegen die Vergemeinschaftung der Schulden und gegen die Bankenunion zu wenden, dann tut sie es, um die eigenen Wähler ruhig zu stellen. „Zögern wird zum machiavellistischen Mittel des Zwangs“, auch wenn jedes Mal noch im letzten Moment der Zusammenbruch Europas abgewendet wurde. Allerdings um welchen Preis…

Ideologie ist auch dabei: Die Logik des schützenden Zauns setzt eine Gewissheit voraus, aus der sich der deutsche Neonationalismus nährt: die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben und die unbestreitbare ökonomische Rechtgläubigkeit zu besitzen. Es ist nicht mehr der Drang nach einem territorialen Imperium, und es ist auch nicht wahr, dass Deutschland allein kommandieren will, wie einige unterstellen. Es ist der Nationalismus ökonomischer Rezepte, die als unfehlbare Allheilmittel präsentiert werden, und die sich so zusammenfassen lassen: Jeder mache zuerst „seine Hausaufgaben“ – hinter dem jeweils eigenen Zaun, koste es was es wolle -, und erst hinterher gibt es Kooperation und Solidarität und ein politisches Europa, das eigentlich sofort nötig wäre. Die Resultate dieses deutschen Nationalliberalismus (den die Wissenschaft Ordoliberalismus nennt) sind katastrophal. In Griechenland trieben die an rezessive Therapien gekoppelten Rettungsmaßnahmen das Verhältnis öffentliche Schulden – BSP in die Höhe (2009 130 %, 175 % heute), mit tragischen Auswirkungen auf Wachstum und Beschäftigung (27 % Arbeitslosigkeit allgemein, 57 % bei Jüngeren).

Herrschaft eines Dogmas

Es ist nicht die Kanzlerin, die kommandieren soll, sondern das Dogma, dass es erst dann eine geordnete Welt gibt, wenn jeder Staat vorher zuhause ökonomische Ordnung schafft. Es ist Vorherrschaft, sich den Eurobonds zu verweigern und der Bankenunion Hindernisse in den Weg zu legen, damit Berlin die politische Kontrolle über seine Banken behält, ebenso wie erhöhte EU-Mittel für europäische Investitionspläne abzulehnen, die Jacques Delors vergeblich seit 93/94 fordert. Es ist Vorherrschaft, wenn die Deutsche Bundesbank mehr Gewicht in der EZB fordert, und wenn sie Draghi angreift, weil er es sich erlaubt, gegen das Berliner Votum Ländern zu helfen, die in Schwierigkeiten geraten sind, indem er ihre Wertpapiere kauft. Ebenso anmaßend ist das Karlsruher Verfassungsgericht, das jedes Mal die Union paralysiert, wenn es wieder einmal die Vereinbarkeit der europäischen Solidaritätspläne mit der deutschen Verfassung überprüft, ohne jemals die Imperative der für die Gemeinschaft konstitutiven Abkommen zu berücksichtigen. Wir setzen üblicherweise Nationalismus mit Autoritarismus gleich. Aber der Nationalismus kann auch die Gestalt einer akribisch beschützten nationalen Demokratie annehmen; und zwar in ihrer Vereinzelung, ohne Rücksicht auf das, was die anderen Demokratien der Union denken und erleben.

Merkel gewann mit diesem Rezept die Wahl, weil in ihrem Land der Neonationalismus verbreitet ist. Eine Große Koalition von Christdemokraten und SPD würde keine substanzielle Änderung bringen: Seit Jahren unterstützt die SPD die Europapolitik der Regierung, auch wenn sie rhetorisch auf deren Gefahren hinweist. Sie hat Merkel sogar kritisiert, weil sie für Europa zuviel ausgebe…“

(Am Ende des Artikels hofft Spinelli doch noch auf eine Sinnesänderung der Kanzlerin, wozu es aber wohl erst dann kommen werde, wenn etwas ihren Wählern wirklich „unter die Haut“ geht – wie Fukushima zu einem abrupten Wechsel ihrer Energiepolitik führte).