Eindeutig und doch erklärungsbedürftig

In einer langen offiziellen Note nahm Staatspräsident Napolitano am 13. August Stellung zur Verurteilung Berlusconis. Vorausgegangen waren Versuche der PdL, ihn zu „Rettungsaktionen“ zugunsten B.s zu drängen. Mit der frechen Drohung, anderenfalls die Regierungskoalition zu beenden.

Napolitano stellte zunächst fest, worauf es ihm vor allem ankommt: die Letta-Regierung müsse weitermachen, damit Italien aus der Rezession herauskommt und institutionelle Reformen realisiert werden, zuallererst ein neues Wahlgesetz. Sollte im Dezember das Verfassungsgericht das aktuelle Gesetz für verfassungswidrig erklären (womit viele rechnen), könnten Wahlen, die noch auf dieser Grundlage durchgeführt werden, illegal sein. Er sei sich bewusst – so Napolitano -, dass es nach der Verurteilung B.s zu „politischen Spannungen“ kam, doch alle Szenarien einer vorzeitigen Auflösung des Parlaments (die in seine Zuständigkeit fällt) seien „willkürliche und nicht praktizierbare Hypothesen“. Will sagen: Neuwahlen gibt es mit mir nicht, zumindest nicht ohne neues Wahlgesetz – eher trete ich zurück und überlasse euch den Schlamassel.

Der Staatspräsident und der Steuerbetrüger

Der Staatspräsident und der Steuerbetrüger

Napolitano zum Kassationsurteil

Dann zum Urteil: „Alle rechtskräftigen Urteile und die daraus folgende Verpflichtung zu ihrer Umsetzung können nur zur Kenntnis genommen werden. Das gilt für den Fall, der gegenwärtig im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit steht, wie für alle andere Fälle“. In einem Rechtsstaat eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Die allerdings betont werden muss, wenn die eine Seite – B.s Partei – genau dies bestreitet. Weniger selbstverständlich finde ich es, dass der Präsident dann „ein gewisses Verständnis“ äußert „für die in der PdL entstandene… Sorge wegen der Verurteilung einer Persönlichkeit, die schon mal die Regierung führte … und immer noch unbestrittener Leader einer bedeutenden politischen Kraft ist“. Klingt ehrlich gesagt ganz schön nach Honig um den Bart schmieren. Wenn die PdL sich um die Verurteilung eines Steuerbetrügers sorgt, statt ihn zum sofortigen Rücktritt zu bewegen, ist das ihr Problem – und schlimm genug. Dafür muss der Staatspräsident kein „Verständnis“ äußern.

Immerhin folgt eine Passage, die zwar ebenfalls eine Selbstverständlichkeit ausspricht, aber frontal das fehlende Demokratieverständnis der PdL trifft: „Die Anerkennung des Grundprinzips der Gewaltentrennung und der unerlässlichen Funktion einer unabhängigen Justiz bei der Kontrolle der Legalität bilden eine Grenze, die auch bei Ausübung von Meinungsfreiheit und Recht auf Kritik niemals verletzt werden darf. Vergeltungsszenarien, die sich gegen die demokratischen Institutionen richten, sind inakzeptabel“.

Gnade für Berlusconi?

Die Ausführlichkeit, mit der Napolitano auf die Frage einer möglichen Begnadigung B.s eingeht, ist der zweite mich irritierende Punkt. Zwar legt er die Rechtslage korrekt dar: Erstens sei bisher an ihn kein Gnadengesuch gerichtet worden, über den er entscheiden könnte. Zweitens gäbe es hierfür Modalitäten, die einzuhalten seien. Sollte drittens ein solcher Antrag eingereicht werden, habe er als Staatspräsident sorgfältig zu prüfen, „ob … die Voraussetzungen gegeben sind, um einen möglichen individuellen Gnadenakt in Bezug auf die Vollstreckung der Hauptstrafe zu gewähren, ohne den Kern und die Legitimität des rechtskräftigen Urteils zu berühren“.

Auch nur eine Selbstverständlichkeit? Ich meine nein. Wenn kein Gnadengesuch vorliegt, besteht für den Präsidenten auch kein Anlass, sich dazu zu äußern. Wenn er es dennoch tut, kann es leicht als Wink (miss)verstanden werden: „Versucht es doch!“. Tatsächlich wurde diese Passage von der PdL so gedeutet, zumindest zunächst. Inzwischen verstärkt sich bei B. und seinen Leuten allerdings der Eindruck, Napolitano herumzukriegen sei hoffnungslos.

Dass für einen solchen Gnadenakt nie und nimmer die Voraussetzungen vorliegen, weiß Napolitano. Einerseits weil gegen B. noch etliche Strafverfahren laufen, bei denen weitere Verurteilungen möglich sind (im Ruby-Prozess wurde er bereits erstinstanzlich zu 7 Jahren verurteilt). Dann, weil eine Begnadigung voraussetzt, dass der Betroffene das Urteil akzeptiert und die Strafe schon teilweise verbüßt oder zumindest angetreten hat. Und schließlich weil dem Straftäter nur bei guter Führung Gnade gewährt wird und wenn Aussicht auf eine erfolgreiche Resozialisierung und einen tadellosen Lebenswandel besteht. Auf jemanden, der sich systematisch der Justiz zu entziehen sucht und die Richter „als kriminelle Vereinigung“ beschimpft, dürfte dies schwerlich zutreffen. Und der Lebenswandel …

Die Regierungskrise naht

Auch jenseits dieser rechtlichen Hürden bezweifle ich, dass Napolitano an eine Begnadigung von B. überhaupt denkt. Gnade für einen, der für Macht- und Amtsmissbrauch und für Verachtung von Legalität steht? Vielleicht als Dankeschön für das politische und kulturelle Desaster, das der Berlusconismus in zwanzig Jahren bewirkte? Non ci credo.

Warum dann so viele Worte? Ich vermute, er wollte damit das politische Klima „entschärfen“ und die Lebensdauer der Regierung verlängern. Dazu passt, dass er zum Schluss die politischen Kräfte zu Verantwortung und konstruktiver Zusammenarbeit im nationalen Interesse ermahnt. Er will nicht hinnehmen, dass diese PdL mit diesem Mann an ihrer Spitze dazu nicht in der Lage ist.

Stattdessen verstärkt diese ihre Erpressungsversuche. Die letzte Nachricht ist, dass Vizepremier Alfano (PdL) in einem „Krisengespräch“ Letta mit folgendem dreisten „Ultimatum“ konfrontierte: Das bestehende Gesetz, nach dem Abgeordnete, die zu mehr als einer zweijährigen Strafe verurteilt wurden, ihr Mandat verlieren, dürfe nicht auf B. angewandt werden. In der zuständigen Senatskommission müsse die PD dagegen stimmen, sonst sei die Regierungskoalition am Ende. Unvorstellbar: im Auftrag eines vorbestraften Ganoven werden der Regierungschef und dessen Partei zum Rechtsbruch aufgefordert – als Preis für die Fortsetzung der Koalition. So sieht bei der PdL die „Verantwortung und Zusammenarbeit im nationalen Interesse“ aus. Mit schönem Gruß an den Staatspräsidenten.

Da Letta bekräftigt hat, dass die PD sich nicht erpressen lässt und sich im Senat an Recht und Gesetz halten wird (wäre ja noch schöner, wenn nicht), naht die Regierungskrise.