Grillo – eine Zwischenbilanz

Im Sinne eines klaren Ja oder Nein hat sich meine Einschätzung von Grillos 5-Sterne-Bewegung in den letzten Wochen nicht gefestigt. Es gibt Argumente, die Perspektive zu erweitern, aber auch Gründe, noch skeptischer zu werden.

Der Untergang der Titanic

Ich beginne mit ersterem. In der „Repubblica“ vom 20. 3. schrieb Barbara Spinelli unter der Überschrift „Se la politica torna all’agorà“ (Wenn die Politik auf den Marktplatz des alten Athen zurückkehrt): In den verschiedenen uns derzeit heimsuchenden Krisen – Ökonomie, Europa, Umwelt – gleiche die repräsentative Demokratie der Titanic. „Zwischen Regierenden und Regierten liegt Wüste, und in der Mitte gibt es nur die Fata Morgana der Repräsentanz: schwache Gewerkschaften, ausgelöschte Parteien … In die Leere drängt sich eine Zivilgesellschaft, die aufwachen, neue Wege erkunden, Demokratie neu beginnen will“.

So sei auch die 5-Sterne-Bewegung eine Antwort auf die Krise der repräsentativen Demokratie – eine experimentelle Antwort, die Vorläufer habe. Ein solcher seien z. B. die 18 Monate belgischer Regierungslosigkeit gewesen, in denen sich die Zivilgesellschaft zu Wort meldete und zu Formen der direkten beratschlagenden Demokratie zurückkehrte. Ich setze hinzu: Andere Antworten waren der Aufbruch, der Italien bei den Kommunalwahlen im Frühsommer 2011 erfasste, und die Mobilisierung, welche die Vorwahlen der PD im vergangenen Winter auslösten und welche die PD im Wahlkampf leider wieder „vergaß“.

Barbara Spinelli mit Napolitano

Barbara Spinelli mit Napolitano

Dass es solche Experimente geben muss, gerade jetzt, gerade auf dem Gebiet der Demokratie, ist Spinellis Grundthese. Was aber nicht Kritik an der konkreten Form des Experiments, wie es z. B. Grillo in Italien verkörpert, erübrigt. Spinelli selbst schrieb schon eine Woche später: „Die 5-Sterne-Bewegung fiel einer Art Paralyse zum Opfer … Die Überwindung des Systems ist ihr wichtiger als jede konkrete und sofort erreichbare Verbesserung…, in Erwartung der Zeit, in welcher der Messias mit seinem Reich kommt. Niemand kommt auf den Gedanken, dass dieses Reich schon da, seine Erwartung ein Trick ist“.

Ideologische Überfrachtung

Das Problem ist das Übermaß an Ideologie, mit dem die 5-Sterne-Bewegung befrachtet ist. Die Zukunft gehört dem Web-Volk und seiner Demokratie, und wer die Parteien bekämpft – nicht diese oder jene Partei, sondern das System als ganzes – hat in jedem Fall recht, denn er vollzieht das Gesetz der Geschichte. Gegenüber der gesellschaftlichen Realität ist das unterkomplex. Wie das „Web-Volk“ eine idealisierende Konstruktion ist, so auch die Überfälligkeit und universelle Gleichsetzung aller Parteien. Diese Gleichsetzung spielt die Rolle der self fulfilling prophecy: Guru Casaleggio prophezeite vor der Wahl, im Fall eines Wahlerfolgs seiner Bewegung werde es eine „Großen Koalition“ zwischen PD und PdL geben, „im stillen Kämmerlein“ sei das „längst beschlossen“. Aber die PD-Führung schlug einen anderen Weg ein – also versucht nun die 5-Sterne-Bewegung alles, um sie auch gegen ihren Willen in diese Richtung zu drängen. Die Wirklichkeit muss sich der Ideologie anpassen.

Was droht, ist reaktionär. Es könnte ja sein, dass die historische Funktion der 5-Sterne-Bewegung nicht in dem besteht, was sich ihre Führer vielleicht erhoffen, sondern was sie konkret tut. Auch hier muss man sich vor Vereinfachungen hüten: Auf kommunaler und regionaler Ebene leistet die Bewegung vielfach positive Arbeit, mit neuen Formen der Bürgerpartizipation. Auf nationaler Ebene ist sie jedoch dabei, Berlusconi wieder ins Spiel zu bringen. Im Namen einer Ideologie, die zwischen den Parteien keine Unterschiede sieht – zeigen sie sich trotzdem, müssen sie ausgelöscht werden.

Ursachen der „Reinheit“

Der Parteienforscher Ilvo Diamanti liefert ein wichtiges Argument dafür, dass Grillos „Die sind doch alle gleich!“-Slogan auch einen sehr materiellen Grund hat: Er ist Gefangener der unterschiedlichen politischen Herkunft seiner Anhänger. Die Analyse der Wählerbewegungen zeigt, dass sie früher zu etwa gleichen Teilen „rechts“ und „links“ wählten. Ihre „Anti“-Reflexe – gegen „Links“ hier, „Rechts“ dort – hat die Wahl Grillos nicht verflüchtigt. Jedes Bündnis mit irgendeiner Partei würde jeweils einen Teil seiner Anhängerschaft verprellen. Der Kurs der „Reinheit“ ist also auch eine Vermeidungsstrategie. Die allerdings an Grenzen stößt, denn unter Grillos Anhängern linker Provenienz verbreitet sie Unzufriedenheit.

Es gibt einen weiteren Faktor, der diese Gefangenheit begünstigt. Die 5-Sterne-Bewegten, die jetzt in Parlament und Senat einzogen, stehen unter Druck: Sie dürfen einerseits nicht die Ideale der Bewegung „verraten“, müssen sich andererseits aber auch den neuen Anforderungen ihres Amtes gewachsen zeigen. Das setzt Reflexionsprozesse in Gang. Wer sich jedoch diesem Druck entzieht, ist Grillo selbst, denn er hat sich für unwählbar erklärt (als junger Mann wurde er wegen fahrlässiger Tötung bei einem Autounfall verurteilt). Sich an der Wirklichkeit abarbeiten, das müssen direkt nur die von ihm „Entsandten“, nicht er selbst. Umso mehr kann sich Grillo darauf konzentrieren, Hüter der „Reinheit“ zu sein, auch um den Erhalt seiner Autorität willen. Mit teilweise hässlichen Konsequenzen: Über seinen Blog ließ Grillo verbreiten, dass Abgeordnete, welche möglicherweise von der Fraktionsdisziplin in Sachen Bündnispolitik abweichen könnten, zu denunzieren seien.

Letzten Endes könne sich „der frische Wind“, den die 5-Sterne-Bewegung ins Parlament trage, „nur positiv auf Italien auswirken“, schrieb Michael Schlicht in seinem „Komiker“-Beitrags vor ein paar Wochen. Schön, wenn er Recht hätte. Aber meine Zweifel sind weiter gewachsen. Berlusconi ist kein „frischer Wind“.

2 Kommentare

  • Werner Bläser

    Grillos Politik der Ablehnung aller Bündnisse zielt machtstrategisch auf die finale Bloßstellung seiner Konkurrenten, PD und PDL.
    Motto: „Seht doch, sie gehen zusammen, passen zusammen, sind also alle gleich… Die einzige Alternative, die Garanten des ‚cambiamento, das sind wir.“
    Ein Grillo-Abgeordneter hat die Alternative Bündnis oder Verweigerung so beschrieben: „Das Ei (Mini-Reformen durch ein Bündnis) jetzt – oder das ganze Huhn (eine Neugestaltung Italiens durch M5S allein) später.“
    Was natürlich den klassischen Fall einer politischen Zockerei darstellt: Denn nichts stellt einen Erfolg der Grillisten bei späteren Wahlen sicher. Nicht alle Menschen sind allerdings Zocker-Typen, auch nicht alle Grillisti.
    Das heutige „Geheimtreffen“ der M5S in Tragliata (s. dazu auch den Art. in ‚LeggiOggi‘, „…C’è un virus nel sistema“) ist allein schon ein starkes Indiz für die extremen Spannungen in der Bewegung: Gäbe es Einigkeit über den Weg, wäre so etwas Außergewöhnliches ja gar nicht nötig.
    Vito Crimi („Vito lo smentito“) im Messaggero gesteht die Friktionen offen ein.
    Bei der Wahl Grassos zum Senatspräsidenten standen die sizilianischen Grillo-Senatoren vor der Alternative, „Schifani oder Grasso“. Und sie gingen ihrem grossen Bruder Grillo von der Stange.
    Stellt man sie letztendlich vor die Wahl
    „Eine neue Regierung von Berlusconis Gnaden oder eine akzeptable linke Persönlichkeit als Regierungschef“ – wie werden sie sich entscheiden? Bekanntlich ist die erste „Sünde“ immer die schwerste; hat man vom süssen Laster erst einmal gekostet, fällt der zweite „Fehltritt“ leichter.
    Bersani müsste nur endlich die Größe aufbringen, ins zweite Glied zurückzutreten, und nicht nur davon reden. Vielleicht sollte man ihm im PD dabei „auf die Sprünge helfen“. Denn sein Kleben an der „pole position“ für das Amt des Regierungschefs erschwert es natürlich den Dissidenten im M5S, den letzten Schritt zu tun.
    De Gaulle sagte einmal, „L’Italie n’est pas un pays pauvre mais un pauvre pays“.
    Nichts könnte den Zustand des Landes, wie er seit langem besteht, besser beschreiben.
    Mit der M5S-Bewegung besteht nun m.E. zum ersten Mal seit langem eine wirklich realistische Chance auf grundlegende Veränderungen, auf ein Aufbrechen der „casta“.
    Aber dazu muss sich die Bewegung von ihrem irrlichternden, diktatorischen Geburtshelfer Grillo und dem rasputinhaft anmutenden Casaleggio emanzipieren.
    Ich sehe die Chance dafür als sehr gut an.
    M5S hat nicht die starre, disziplinierende Struktur sonstiger revolutionärer Parteien, alles hier ist im Fluss (Heraklit wäre begeistert darüber, wie das Internet seinem Denken entspricht).
    Und Grillo ist ein hohes Risiko eingegangen, seinen Abgeordneten die Diäten zu kürzen.
    Auch Leute mit Idealen, die z.T. aus bescheidenen Verhältnissen kommen (die Biographien der Grillisti auf ihren Webseiten zeigen das z.T. deutlich), wissen den Wert des Geldes zu schätzen.
    Mit der Zeit werden einige darauf kommen, dass es sich im Parlament außerhalb des M5S wohl angenehmer lebt – in jeder Hinsicht. Es liegt in der Hand des PD, ihnen den Lernprozess zu erleichtern.
    Grillo selbst tut mit seinem Druck auf die innerparteiliche ‚Fronde‘ schon sein Möglichstes dazu.

  • Werner Bläser

    Update.
    „…Die Dinge sind im Fluss“. Sogar mehr, als ich in obigem Post dachte. Der PD könnte sich jetzt noch vor dem M5S spalten. Denn Renzi kommt mit vollen Breitseiten gegen Bersani aus der Deckung. Für den Fall des Scheiterns beim Erklimmen der PD-Spitze steht eine vom PD abzuspaltende neue Partei schon fertig in den Startlöchern (s. ‚Il Fatto Quotidiano‘, 6.4., „…Renzi ha già pronto il piano B“).
    Von Rosy Bindi kursiert ein – dementiertes (!)- Interview, das nur als politischer Gnadenstoss für Bersani gelesen werden kann. Wenn man in der Politik ein Signal setzen will, eignen sich gleich dementierte Aussagen dazu hervorragend.
    Berlusconi ist jedenfalls überzeugt, dass bei den nächsten Wahlen Renzi an der Spitze des Pd dem PDL gegenüberstehen wird. Und seine Augurin Ghisleri hat für ihn ausgeforscht, dass R. wohl 6 – 10% mehr Stimmen bekommen wird als der Cav
    (s. ‚Today‘, 2.4., „Berlusconi vuole il voto subito, ma…“).
    Schachzug des grossen Bungators: Er könnte Giorgia Meloni als Renzis Gegnerin vorschicken (s. ‚affariitaliani.it‘, 4.4., „Esclusivo. Berlusconi ha scelto la Meloni“). Eine Politikerin ähnlichen Typs wie Renzi.
    Renzi könnte sich mit Fabrizio Barca einigen – für
    R. den Posten des Premiers, für Barca (den Kandidaten des „Apparats“) den des Parteichefs.
    Sodann ein neues Wahlgesetz und Neuwahlen, wenn sich nicht doch noch eine Mehrheit für eine Regierung ergibt.

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