Gewissheiten und Ungewissheiten

Dass Italien in stürmische Gewässer geraten ist, zeigt sich auch an der Diskussion in unserem Blog. Uns fehlen Gewissheiten, die andere haben. Bei der Beschreibung der Verhältnisse bewegen wir uns oft nur tastend voran und ändern Einschätzungen. So begrüßten wir anfangs die Ablösung B.s durch Monti, wurden dann aber auch ihm gegenüber kritischer. Auch bei noch grundsätzlicheren Fragen fehlen uns die Gewissheiten: Wie muss eine Sparpolitik aussehen, die Italien nicht zerstört, sondern saniert? Was läuft schief in Europa?

Allerdings eine Gewissheit habe ich:

Italien muss sich vom Berlusconismus befreien

Dies wird Zeit erfordern, aber muss nicht übermorgen, sondern jetzt beginnen: Wahlgesetz, Korruption, B.s Gesetze ad personam und Feldzug gegen die Justiz, Interessenkonflikt, Steuerhinterziehung, Politik als Pfründe.

Wenn im Februar immer noch 8,6 Millionen für Berlusconi (und 1,4 für die Lega) stimmten, ist das ein Grund, diese Kur aufzuschieben, abzuwarten, sich vorerst mit B. zu arrangieren? Ich denke, das Gegenteil ist richtig. Ein Drittel der Wähler stimmte für B., aber zwei Drittel stimmten – und zwar bewusst – gegen ihn. Ein erneuter Aufschub würde noch mehr Menschen in die Totalverweigerung treiben. Und vor allem die Kräfte, die den Wechsel versprachen, auf Jahre hinaus desavouieren. Bersani hat dies verstanden, und die PD messe ich daran, ob sie ihm auf seinem Kurs folgt. Wie ich Grillos 5-Sterne-Bewegung daran messe, ob sie zur Befreiung vom Berlusconismus beiträgt oder das Land – mit welcher Begründung auch immer – erneut an B. ausliefert. Auch die EVP, und damit die CDU/CSU, messe ich daran, ob sie nun wieder in die zynische Nachsicht zurückfällt, die sie schon seit fast zwei Jahrzehnten B. gegenüber übt (Anzeichen dafür gibt es bereits).

Die 5-Sterne-Bewegung erhitzt auch deutsche Gemüter

Gerade wer die italienischen Verhältnisse aus der Nähe erlebt, ist oft so zornig, dass er nur noch in Grillo den Ausweg sieht. Und Zweiflern mit der Versicherung begegnet: Das wird schon werden. Als Hoffnung teile ich dies, mangels Alternativen. Aber mir fehlt ein Teil der Zuversicht. Der Grund ist Grillos Sektierertum.

  1. Sektierertum ist es, alle bisherige Politik und Politiker als „gleich“ anzusehen – gleich korrupt, verlogen usw. Dies stimmt nirgends, auch in Italien nicht – wir reden von Menschen und nicht von Nivea-Dosen oder Essen bei McDonalds. Bersani ist nicht Berlusconi, Vendola nicht La Russa. Es ist eine Stammtischparole, die politikmächtig wird, wenn sie Bündnisse verhindert, die das Land aus der Sackgasse herausbringen könnten.
  2. Es macht die Sache nicht besser, wenn Grillo und die Gebildeten unter seinen Anhängern nicht mehr von „Parteien“ reden, die „alle gleich“ seien, sondern vom „Parteien-System“. Auch das soll alles gleich klein und verächtlich machen, aber mit dem Anspruch, auch theoretisch alles unter Kontrolle zu haben. Die Rede von Teilen der Demokratie – oder der Demokratie insgesamt – als „System“ hat eine lange Tradition, die nicht gerade demokratisch ist.
  3. Sektierertum ist es, aus dem Anspruch höheren Wissens eine fast grenzenlose Arroganz abzuleiten. Mit diesem Anspruch demütigen jetzt die „Grillini“ diejenigen, die sich mit ihnen verbünden möchten, aber demütigten auch schon die chinesischen Kulturrevolutionäre die Intellektuellen, und die 68er ihre Professoren (ich weiß es, ich war selber ein 68er). Diese Arroganz wird auch jetzt wieder zerstörerisch, wenn Grillo potenziellen Bündnispartnern, die er „wandelnde Tote“ nennt, nur noch die Alternative lässt, entweder ihre Selbstachtung aufzugeben oder (was aufs Gleiche hinausläuft) sich mit B. zu verbünden.

Natürlich kann „alles noch werden“

Die Möglichkeit, dass die Befreiung vom Berlusconismus an solchem Sektierertum scheitert, ist leider real. Ebenso wie die Möglichkeit real ist, dass dieses Sektierertum noch überwunden wird. Mir liegt an der Feststellung, dass es noch nicht entschieden ist. Natürlich kann – spätestens seit Sokrates – betonte Ungewissheit auch aristokratische Attitüde sein. Ebenso wie es überheblich sein kann, wenn man – nicht ganz ehrlich – erklärt, andere um ihre Gewissheiten zu beneiden. Ich versuche es mit etwas Ehrlichkeit.