Das schwarze Loch der Rezession

Deutscher Volksmund zur Frage, was „die Italiener“ am liebsten tun: Dolce far niente. Faul in der Sonne liegen und nichts tun.

Ein Land befindet sich in der Rezession, so die Definition, wenn sein Bruttosozialprodukt in zumindest zwei aufeinander folgenden Quartalen stagniert oder schrumpft. In diesem Sinne befindet sich Italien seit 2011 in der Rezession. Sie dauert an: Für 2013 prognostizierte die Regierung Monti gerade eine weitere Schrumpfung von 1,5 bis 1,6 %.

Protestierende Arbeiter in Rom

Protestierende Arbeiter in Rom

Zurzeit verlieren monatlich knapp 100 000 Menschen ihre Arbeit, die Bevölkerung einer Großstadt. Nur eine Minderheit hat eine neue Chance. In Italien wird der Übergang in die Arbeitslosigkeit noch ein Jahr abgemildert durch die „Cassa Integrazione Guadagni“. Dann kommt der Sturz ins Bodenlose. Sozialhilfe gibt es nicht.

Proteste

Es gibt vermutlich nur wenige Großstädte in Italien, in denen nicht jede Woche irgendein weiterer Betrieb schließt. Die Betroffenen protestieren. Viele suchen dabei zuerst Sichtbar- und Hörbarkeit. Sie ziehen mit ihren Gewerkschaftsfahnen ins Stadtzentrum, die Frauen mit Trillerpfeifen, die Männer setzen sich auf den Boden und schlagen rhythmisch ihre Schutzhelme aufs Pflaster (siehe Foto). Ein Höllenspektakel, das Fernsehen kommt. Aber wenn es zu oft geschieht, wenn es sich wiederholt, beginnen die Menschen um die Sitzenden einen Bogen zu machen, man muss ja weiter. In den Fernseh-Nachrichten werden „Proteste“ zur festen Rubrik, die sich der Zuschauer zu ersparen beginnen, weil es immer das Gleiche ist. Und die Entlassungsschreiben liegen immer noch auf den Küchentischen.

Dann protestiert man eben noch schriller. Sardische Minenarbeiter, deren Betriebe vor der Schließung stehen, besetzen wochenlang die Flöze und drohen, lieber 400 Meter unter der Erde zu verrecken, wenn sie nicht rückgängig gemacht wird. Andere verlegen ihren Protest auf Türme in 50 Meter Höhe und drohen mit dem Sprung in den Abgrund. Sie demonstrieren – ein letztes Mal – Solidarität, ihre Angehörigen versorgen sie, aber das einigende Band ist nur noch das Festklammern an einer Schimäre. Das Gefühl der Vergeblichkeit wächst: Einer versucht, sich vor laufenden Fernsehkameras die Pulsadern aufzuschneiden, seine Kollegen reißen dem blutenden Mann das Messer aus der Hand.

Selbsttötungen

Andere gehen leise, ohne viel Aufhebens. Selbsttötungen „aus wirtschaftlichen Gründen“, wie die Statistiken sagen, haben sich in den letzten Jahren verdoppelt. Anfang April ging ein Fall durch die Zeitungen, in dem sich ein ganzer Alten-Haushalt in Civitanova Marche auslöschte. In dem kleinen Adria-Ort bildeten der 62-jährige Romeo, seine 68-jährige Frau Anna Maria und ihr 73-jähriger Bruder Giuseppe eine Wohngemeinschaft. Romeo war von Beruf Maurer, Anna Maria Rentnerin und Giuseppe bezog ebenfalls eine kleine Handwerker-Rente. Die Miete der Wohnung kostete monatlich 700 €, die beiden Renten erbrachten zusammen monatlich gut 1000 €. Solange Romeo, der noch kein Anrecht auf Rente hatte, noch in seinem Beruf als Maurermeister arbeitete, kamen sie über die Runden. Genau das wurde zum Schwachpunkt: Wegen der Krise in der Bauwirtschaft musste Romeo seinen kleinen Betrieb aufgeben und sich als Polier für andere Firmen verdingen. Dann fand er nur schwarz und als Hilfsarbeiter Arbeit. Und am Ende auch die nicht mehr. Die Rechnung der dreiköpfigen Familie ging nicht mehr auf. Gas und Elektrizität bezahlten zwar noch fallweise Verwandte, aber die Schulden beim Sozial- und beim Finanzamt, bei der Bank, beim Vermieter wuchsen. Ihr kleiner Panda war schon lange abgemeldet. Am 5. April hatten sie das Gefühl, dass ihnen alles über den Kopf wuchs. Romeo und Anna Maria erhängten sich in ihrer Garage, der 73-jährige Giuseppe sprang vom Hafen ins Meer. In ihrer Wohnung hinterließen sie einen Zettel, auf dem sie um Entschuldigung baten.

Die Schattengrenze der Scham

Ein banaler Fall, könnte man sagen, aber eines bleibt rätselhaft. Niemand ahnte, dass sich die finanzielle Situation für die drei so dramatisch darstellte. Dass sie in Schwierigkeiten waren, wussten Verwandte, aber z.B. nicht die Kommune. Der Bürgermeister fand hinterher nur einen Zettel, den ihm Romeo geschrieben hatte und auf dem er sich zu „Hilfsarbeit jeder Art“ bereit erklärte. Jetzt weiß man: Es war ein Signal. Aber kein Wort über die Schulden, über das Gefühl der Ausweglosigkeit, das sich in der vorausgehenden Zeit bei allen Dreien aufgestaut haben muss. Warum? Aus Stolz und aus Scham. Sie wollten niemanden um etwas bitten.

Die Geschichte zeigt am Extrembeispiel, was es heißt, wenn ein Haushalt zum ersten Mal in die Schuldenfalle gerät. Eine Schattengrenze wird überschritten, in der es auch um Scham und Würde geht, und das heißt eben für manche: um Leben und Tod. In Italien gerät derzeit mehr ins Rutschen, als es mancher Mitteleuropäer ahnt. Dem es (meist) gut geht und der es gelernt hat, auch über die Armut im eigenen Land hinwegzusehen. Und der für Südeuropa nur eine robuste Botschaft hat: Sparen lernen! Was die Soziologen den Übergang in die „neue Armut“ nennen, das geschieht in Italien gerade hunderttausendfach.

PS: Einen Teil der Informationen, die dieser Beitrag verarbeitet, entnahm ich der „Repubblica“ vom 6. 4. 2013 und einem Artikel von Andrea Sarubbi in „La nuova Ferrara“ vom 8. 4. 2013, den uns freundlicherweise C. W. Macke zugänglich machte.