Hoffnung und Vorsicht

Wenige Tage vor der Volksabstimmung geschah in unserem Dorf Ungewöhnliches. Es gab eine politische Versammlung. Veranstalter war die SEL („Sinistra, Ecologia e Libertà), es ging um die 4 Referenden. Unsere Erwartungen waren nicht groß. Würde außer uns überhaupt jemand kommen? Die politischen Verhältnisse im Dorf scheinen versteinert. Den Gemeinderat beherrscht eine Mitte-Rechts-Koalition, der, obwohl unter sich zerstritten, es trotzdem schafft, immer noch an der Macht zu sein. Bewegung war bisher nicht erkennbar.

Dann die Überraschung. Der kleine Versammlungssaal platzt aus allen Nähten, einige der überwiegend jungen Leute müssen stehen. Es geht vor allem um das Wasser – ein Thema, das hier den Menschen jeden Sommer auf den Nägeln brennt – und die Kernenergie. Das Hauptziel der Veranstalter ist es, die Dorfbewohner zur Teilnahme an den Referenden zu bewegen. Aber es zeigt auch, welche kapillare Mobilisierungsarbeit hinter den Referenden steht. Und dass diese Arbeit neue Kräfte freisetzt, sogar in unserem Dorf.

Sucht man das Verbindende hinter dem Aufbruch der letzten Wochen, hinter den Kommunalwahlen und den Referenden, dann ist es der Widerstand gegen das von oben Vorgefertigte, Vorentschiedene. Der große Kommunikator, der über alle Sender die gleiche Botschaft verkündet, erscheint plötzlich als Dinosaurier. Gegen ihn erhebt sich das Kleinteilige, Selbstgemachte. Die Lust am Selbsttun, am Selbst-etwas-gelten. Die Lust, die sich im Internet zu Wort meldet und von den Stadtteilkomitees in die Dörfer ausstrahlt. Und plötzlich Menschen ganz verschiedener Couleur in Bewegung setzt.

Bisherige politische Trennungslinien verblassen. Vorher nannte die bürgerliche Mitte die Linke „extremistisch“, die Linke diese Mitte „moderat“. Beides galt im jeweiligen Lager als Schimpfwort. Und diente zugleich dazu, dass beide Seiten wussten, wohin sie gehören und von wem sie sich abzugrenzen haben. Wodurch aber auch jede Seite in ihrem eigentlich doch heimeligen Ghetto blieb. Nun entdecken der „Extremist“ und der „Moderate“, dass sie im Kampf für das gleiche Projekt, für den gemeinsamen Kandidaten, für ein Italien ohne Atomkraftwerke und für Wasser als Gemeingut Seite an Seite stehen. Sie finden sich plötzlich außerhalb ihres bisherigen Ghettos wieder. Sie entdecken dies als Befreiung – so dass die Ordnungsrufe von oben („Pisapia ist doch der Kandidat der Extremisten“ dort, der „wird doch auch von Moderaten unterstützt“ hier) im gemeinsamen Gelächter untergehen. So in Mailand, in Neapel, in vielen anderen Städten.

Auch die Symbolik der Farben gerät in Bewegung. Früher überwogen auf den großen Demonstrationen der Opposition die roten Fahnen. Die Hemden, die die Unterstützer von Pisapia in Mailand und von De Magistris in Neapel tragen, sind orange. Auch die Farben überspringen die Gräben und beginnen zu tanzen.

War es nicht in Stuttgart ähnlich?

Aber Vorsicht: Mit der Verlockung des Selbst-Machens, des Selbst-Teilnehmens operieren auch andere. Berlusconis PdL mit den blauen Fahnen heißt „Volk der Freiheit“. Das sollte den Menschen das Gefühl geben: Du gehörst dazu, auch Du stehst mit im Glanz des Neuen. Und die Lega mit den grünen Hemden suggerierte, jeder könne sein Schicksal selbst in die Hand nehmen. Hier die Pervertierung zum Populismus, dort zur zwergenhaften Abschottung. Im Selbst-Machen steckt die Chance, aber nicht die Garantie für die Öffnung der Herzen.

Sich mitreißen zu lassen, ist wunderschön. Du zählst, Du lebst, Du bewegst die Verhältnisse. Aber es liegt an Dir, in welche Richtung Du Dich mitreißen lässt. Die Quintessenz der Lega lautete „Ausländer raus!“ Vendola rief auf der Mailänder Siegesfeier: „Seid umarmt, Bruder Roma, Bruder Muslim!“. Er bekam Schelte für seinen Überschwang und nahm zerknirscht zurück, was er bei der Gelegenheit auch gesagt hatte, nämlich dass Mailand nun „erobert“ sei. Aber den Bruder Roma und Bruder Muslim nahm er nicht zurück. Zum Glück.