Die Angst des Populisten vor seinem Volk
B. sagt, für ihn gehe die Souveränität des Volkes „über alles“. Weil er meint, damit auch selbst, als der vom Volk Gewählte, über Recht und Verfassung zu stehen. Wer sich dem nicht beugt, stellt sich gegen das Volk, ist Kommunist und Antidemokrat.
Nun hat das italienische Volk die von der Verfassung garantierte Möglichkeit, bei bestimmten Fragen direkt zu Wort zu kommen: das sog. „abrogative (aufhebende) Referendum“. Stößt ein Gesetz im Wahlvolk auf Widerstand, können die Gegner versuchen, darüber mit einer halben Million Unterschriften eine Volksabstimmung zu erzwingen. An diesem Wochenende entscheiden die Italiener über vier solche Referenden (vgl. den Kasten „Für alle Leser…“).
In Deutschland haben uns die Verfassungsväter und –mütter auf eine rein repräsentative Demokratie eingeschworen (auf Bundesebene, in den Ländern sieht es anders aus). Man kann streiten, ob es nicht besser wäre, auch hier mehr Elemente direkter Demokratie zuzulassen. Die italienische Verfassung erlaubt sie – mit Hürden: Erstens kann ein Referendum nur ein bereits beschlossenes Gesetz außer Kraft setzen, was bedeutet, dass die Initiative für die Gesetzgebung weiterhin beim Parlament liegt, auf die das Wählervolk nur reagieren kann. Zweitens muss die Forderung einer solchen Abstimmung von einer halben Million Wählern unterstützt werden. Drittens ist das Abstimmungsergebnis nur dann verbindlich, wenn das sog. „Quorum“ erreicht wird, d. h. wenn sich über 50 % des Wahlvolks (in Zahlen: zur Zeit über 25 Millionen) an der Abstimmung beteiligen. Diese Hürde ist hoch, denn auch in Italien nimmt die Wahlbeteiligung immer weiter ab. Seit dem zweiten Weltkrieg gab es dort 62 abrogative Referenden, von denen 27 am „Quorum“ scheiterten. Seit 1997 gab es noch 24, von denen jedoch keines mehr das notwendige Quorum schaffte.
Wenn also an diesem Wochenende über vier neue Referenden abgestimmt wird, so verlangt dies von ihren Initiatoren nicht nur Ausdauer, sondern auch Mut. Zumal sich die Referenden gegen Vorhaben richten, die B. am Herzen liegen. Der Einstieg in die Atomenergie und die Privatisierung des Wassers versprechen Milliardengeschäfte. Und das Gesetz zur „Legitimen Verhinderung“ entbindet B. von der Pflicht, zu seinen Prozessen zu erscheinen. Was bedeutet, dass er sie bis zum Sankt Nimmerleinstag – d. h. bis zur Verjährung – hinauszögern kann.
Nähme er die von ihm beschworene Volkssouveränität ernst, würde er die Referenden unterstützen. Er würde die Italiener zur Abstimmung ermuntern und alles unternehmen, um eine informierte Wahl zu ermöglichen. Das Gegenteil ist der Fall. Zuerst versuchte er, wenigstens das Referendum gegen die Kernenergie zu verhindern, weil er weiß, dass es die Menschen am meisten mobilisiert. So griff er zu einem Trick und ließ kürzlich das Parlament ein neues Gesetz beschließen, das die Pläne zum Wiedereinstieg in die Kernenergie für ein oder zwei Jahre auf Eis legt, „bis neue Forschungsergebnisse vorliegen“. Der Form nach hatte er damit das frühere Gesetz, gegen das sich das Referendum richtet, zurückgezogen. Also, so folgerten er und seine juristischen Berater, brauche es nicht mehr stattzufinden.
Das oberste Kassationsgericht und vor ein paar Tagen auch das Verfassungsgericht sahen es anders. Denn da B. zu erkennen gab, weiterhin den Einstieg in die Kernenergie zu planen, und da dies auch das neue bauernschlaue Gesetz offen lässt, war für die Verfassungsjuristen dem Referendum keineswegs die Grundlage entzogen. Woraufhin B. versuchte, unter Einsatz aller seiner Medien die Menschen von der „Überflüssigkeit“ der Referenden zu überzeugen. Sein letztes Mittel war Funkstille. Plötzlich wurde in allen Sendungen, die er kontrolliert, über Fukushima nicht mehr gesprochen. Das hat er aus den letzten Wahlen gelernt: Würde er versuchen, auch bei diesen Referenden seine persönliche Reputation ins Spiel zu bringen – nach dem Motto „Wer den Referenden fernbleibt, stimmt für mich“ -, würde das noch mehr Menschen in die Abstimmungslokale treiben. Also rief er zu gar nichts mehr auf. Und ließ nur verkünden, er bleibe an den Wahltagen „zu Hause“. Mit der indirekten Botschaft: Wer für mich ist, tut es ebenfalls.
Seine letzte Hoffnung ist also, dass das Quorum nicht erreicht wird. Für einen Populisten ist das nicht gerade ein Zeichen von Stärke. In Kürze werden wir wissen, ob sich B. wenigstens noch auf die Passivität der Italiener verlassen kann.
Italiener, die im Ausland leben
Ein Opfer von B.s Bauernschläue ist schon klar: Es sind die Italiener, die im Ausland leben. Sie haben das Recht, an den Referenden teilzunehmen. Aber es scheint, dass die Konsulate, die dem italienischen Außenministerium unterstehen, schon beim Verschicken der Abstimmungsunterlagen keinen allzu großen Eifer entwickelten. Und wer die Unterlagen erhielt, steht trotzdem vor einem Problem. Das Kassationsgericht hat entschieden, dass der Text des Referendums über die Kernenergie zu ändern sei (da sich das Gesetz, gegen welches sich das Referendum richtet, der Form nach änderte). Aber die Formulare mit dem neuen Text wurden erst gedruckt, als die Abstimmung der Auslandsitaliener bereits beendet war. Für eine erneute Abstimmung ist es zu spät. Nun muss das Gericht entscheiden, wie die „veralteten“ Voten der Auslandsitaliener zur Kernenergie zu bewerten sind. Mit dem möglichen Ergebnis, dass bei diesem Referendum die über 3 Millionen Auslandsitaliener unberücksichtigt bleiben. Das wäre dann das einzige Ergebnis von B.s – ansonsten vergeblicher – Trickserei.