Der Weckruf des Staatspräsidenten

„Demokratie bedeutet, von der eigenen Freiheit Gebrauch zu machen. An dem Leben und den Entscheidungen der Gemeinschaft teilzuhaben ist – mehr noch als eine Pflicht – ein Freiheitsrecht. Und ein Recht auf Zukunft, auf das Bauen der Zukunft“.

Zivilgesellschaft und Verfassungsrechte im Mittelpunkt

In den Mittelpunkt seiner Neujahrsansprache stellte Staatspräsident Mattarella den Aufruf an die Zivilgesellschaft, sich angesichts der vielfältigen Krisen, die die Welt erschüttern, nicht in Resignation, Gleichgültigkeit und Rückzug ins Private zu flüchten. Ein Aufruf auch gegen die „antipolitica“, die schon zu lange in Italien (und nicht nur dort) dominiert und nicht zuletzt dazu geführt hat, dass viele Bürgerinnen und Bürger ihr fundamentales Recht auf freie Wahlausübung nicht mehr wahrnehmen. „Über den Weg, der gegangen werden soll, entscheiden die Bürger durch ihre freie Wahl – nicht die Meinungsumfragen“, so Mattarella.

Überhaupt hob der Staatspräsident – wie oft – die von der Verfassung garantierten Rechte als Fundament des demokratischen Zusammenlebens und wegweisendes Instrument hervor, um den Herausforderungen eines „epochalen Übergangs zu Beginn des dritten Milleniums“ zu begegnen. Es gehe darum, dass bei den gegenwärtigen Umwälzungen – von den geopolitischen Krisen und Kriegen bis hin zum Klimawandel und der künstlichen Intelligenz – die Humanität gewahrt bleibe.

„Wenn in unserer Verfassung von Rechten die Rede ist, wird nicht zufällig das Verb ‚anerkennen‘ verwendet. Das bedeutet, dass die Menschenrechte noch vor dem Staat Bestand haben“ unterstrich Mattarella. Will sagen: Diese Rechte werden nicht vom Staat gewährt, sondern sind schon vor ihm da – und stehen demzufolge für Staat und Politik nicht zur Disposition. Man könnte meinen, das sei eine Selbstverständlichkeit, die nicht explizit erwähnt werden muss. Wenn man aber die Entwicklung in Italien und in anderen Teilen der Welt betrachtet (Trump in den USA und Putin in Russland, um nur zwei besonders eklatante Beispiele zu nennen), wird schnell klar, dass es sich bei dieser Aussage des Staatspräsidenten um keine Floskel handelt.

Es hänge von uns allen ab, dafür zu sorgen, dass diese in der Verfassung verankerten Rechte verwirklicht werden: „Sie zu behaupten, heißt, die Gleichstellung von Frauen und Männern wirksam zu realisieren – in der Gesellschaft, bei der Arbeit, in der Wahrnehmung familiärer Verantwortung. Es heißt, gegenüber den Migranten nicht den Blick abzuwenden“. Und es heiße auch, die Richtung und Schnelligkeit der gegenwärtigen Veränderungen zu erkennen, wie bei der künstlichen Intelligenz, die dabei sei, „unaufhaltsame Entwicklungen zu generieren, die unser Berufsleben und unsere soziale Beziehungen tief modifizieren werden“, setzte Mattarella hinzu.

Gegen „Kultur der Gewalt“ – für eine „Kultur des Friedens“

In seiner Rede ging Mattarella ausführlich auf das Thema „Gewalt“ ein. Gewalt in ihren verschiedenen Ausformungen, allen voran dem Krieg. Von dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine bis zu dem von den Terrormilizen der Hamas verübten Massaker an israelische Zivilisten und der zerstörerischen Militäraktion Israels in Gaza, bei der ebenfalls vor allem Zivilisten zum Opfer werden. Jeder Krieg generiere Hass, so Mattarella, einen Hass, das auch nach Kriegsende noch für lange Zeit andauern werde und den Samen für neue Konflikte säe.

Krieg und Hass seien Ausdruck einer Kultur der Gewalt und der Unterdrückung. Das gelte auch für die abscheuliche Gewalt gegen Frauen und für die Verbreitung von Hass und herabwürdigenden Äußerungen im Netz. Auch die enormen sozialen Disparitäten seien eine Form von Gewalt und erzeugten selbst Gewalt. Arbeitslosigkeit, prekäre und unterbezahlte Arbeit unter menschenunwürdigen Bedingungen, fehlender Gesundheitsschutz und fehlende Lebensperspektiven, insbesondere für junge Menschen, verletzten das Recht auf Menschenwürde und gefährdeten das soziale Zusammenleben.

Unerlässlich sei deswegen, gegen diese Kultur der Gewalt Raum für eine Kultur des Friedens zu schaffen, die nicht Neutralität oder, noch schlimmer, Gleichgültigkeit bedeute. Sie erfordere einen Mentalitätswechsel, der sich der Logik der Unterwerfung und der Herabsetzung anderer entgegen stellen müsse. Zu einer solchen Friedenskultur müssten die heranwachsenden Generationen erzogen werden, sie müsse im Alltagsverhalten und in der Sprache zum Ausdruck kommen. Jede und jeder sei aufgerufen, zu deren Gelingen beizutragen – in dem Bewusstsein, dass die Freiheit der Anderen unsere eigene Freiheit erst vervollständigt.

Parallele und Unterschiede zu den Ansprachen des Bundespräsidenten und des Bundeskanzlers

Viele Fragen, denen Mattarella in seiner Rede nachging, prägten auch die Ansprachen von Bundespräsident Steinmeier und Kanzler Scholz zu Weihnachten bzw. zum Jahresende: die sich rasant ausbreitenden Krisen in der Welt, welche Menschen überfordern, verängstigen und sowohl zu Realitätsflucht als auch zu aggressiven Haltungen und Wut führen.

Auch Steinmeier und Scholz setzen dagegen auf die positiven Kräfte, die aus einem aktiven und solidarischen Miteinander entstehen. „Wenn es anstrengend wird in der Demokratie, dann gibt es bessere Ratgeber als Wut und Verachtung. Auch bessere als diejenigen, die so tun, als gäbe es immer die eine einfache Antwort auf die Fragen der Zukunft. Zu den guten Ratgebern gehören Mut und Miteinander“ sagte der deutsche Bundespräsident. Und der Bundeskanzler warb um Zuversicht und Vertrauen, indem er die positiven Entwicklungen in Deutschland hervorhob, die es in einem insgesamt düsteren Szenario dennoch gibt.

Zahlreiche inhaltliche Berührungspunkte also in den drei Ansprachen. Aber auch Unterschiede, die vor allem im Blickwinkel und in der Absicht der Botschaften zum Ausdruck kommen:

Während Steinmeier und Scholz sich in erster Linie voller Verständnis für die Sorgen der Bürger zeigen und sich bemühen, ihre Worte beruhigend, ja fast „tröstend“ wirken zu lassen, wendet sich der italienische Staatspräsident durchaus fordernd an seine Zuhörer. Sie, die Bürgerinnen und Bürger, hätten „über den Weg, der gegangen werden soll“ zu entscheiden. Dafür sei notwendig, dass sie „von der eigenen Freiheit und ihrem Recht auf das Bauen der Zukunft Gebrauch machen“. Die Zivilgesellschaft wird zur Übernahme von Verantwortung aufgefordert, auch bzw. gerade angesichts der gefährlichen Krisen und Herausforderungen in Zeiten eines „epochalen Umbruchs“.

Anders als sein deutscher Kollege und (vor allem) der Bundeskanzler hält sich Mattarella nicht so sehr bei dem „bereits Erreichten“ auf und bei den Fortschritten, die trotz aller Schwierigkeiten das Land voranbringen werden. Er setzt vielmehr den Schwerpunkt auf die Probleme, die das demokratische Zusammenleben gefährden. Neben den globalen bzw. übergeordneten Faktoren, wie Kriege und Klimawandel, seien diese auch Folgen fehlender sozialer Gerechtigkeit, so Mattarella, und mahnt damit, wenn auch indirekt, bei den politisch Verantwortlichen eine Kursänderung an.

Leerstelle Europa

Auffallend an der Ansprache des italienischen Staatspräsidenten ist allerdings, dass er ein Thema von zentraler Bedeutung unerwähnt ließ: Europa und dessen Perspektiven. Was umso überraschender ist, als im gerade begonnenen Jahr die Europa-Wahlen stattfinden, dessen Ausgang große politische Auswirkungen in den europäischen Ländern und darüber hinaus haben wird.

Dass Mattarella die Bedeutung dieses Themas unterschätzt oder sozusagen „aus Versehen“ wegließ, kann man ausschließen. Woher kommt also diese Leerstelle in seiner Ansprache? Darüber kann man nur spekulieren. In den Literaturwissenschaften meint man mit „Leerstelle“ das, was im Text nicht ausgesprochen bzw. bewusst „ausgespart“ wird (und mitunter gerade das Entscheidende sein könnte).

Angewandt auf Mattarellas Rede könnte das bedeuten, dass er ein Thema „ausspart“, das aktuell besonders brisant und politisch kontrovers ist: Die italienische Regierung hat jüngst, wenn auch mit Bauchschmerzen, der Neuregelung des Stabilitätspakts zugestimmt, die geplante Reform des „Europäischen Stabilitätsmechanismus/ESM“ aber – mit fadenscheinigen Gründen – abgelehnt und die Reform somit blockiert. Eine Entscheidung, die bei den anderen Mitgliedsstaaten und der EU-Kommission Verärgerung ausgelöst hat: Sie wird als eine Art „Racheakt“ der italienischen Regierung dafür angesehen, dass Deutschland und Frankreich – ohne Italien einzubinden – den neuen Stabilitätspakt durchgesetzt hätten. Die PD und andere Oppositionsparteien (nicht allerdings die 5Sterne) warnen, mit der Ablehnung hätte sich Melonis Regierung noch mehr isoliert und müsse nun damit rechnen, dass die ESM-Reform von den 26 zustimmenden Staaten an Italiens Gegenstimme vorbei trotzdem umgesetzt wird. Alles vor dem Hintergrund des bereits beginnenden Wahlkampfes um Europa.

Da Mattarella ein sehr feines politisches Gespür und Verständnis für sein Amt hat, das ihm verbietet, in politische Auseinandersetzungen einzugreifen (oder auch nur einen solchen Eindruck zu erwecken), könnte das der Grund für das Aussparen dieses wichtigen Themas sein. Hätte er es nicht getan, hätte er, der überzeugte Europäer, es kaum vermeiden können, Kritik an souveränistischen und antieuropäischen Positionen zu üben – und damit an der amtierenden Regierung, die genau diese vertritt. Man mag sich wünschen, er hätte es getan. Aber Mattarella selbst dürfte in einer solchen direkten Konfrontation eher eine offene Flanke für seine Autorität als „Schiedsrichter super partes“ gesehen haben.

Übrigens: Auch der Bundespräsident, der von Amts wegen noch weniger politische Kompetenzen als Mattarella hat, die über die Beachtung der Verfassungsnormen hinausgehen, hat sich zu Europa und zur EU nicht geäußert. Anders hingegen der Bundeskanzler, der als Regierungschef die Verantwortung für den politischen Kurs des Landes trägt. Er ging sehr wohl auf das Europa-Thema ein, allerdings ausschließlich mit lobenden Worten – was angesichts des Zustands der EU ziemlich realitätsfremd wirkte.