Mattarella, Trost und Rätsel

Wer sich keine Sorgen um Italien machen möchte, müsste an die Macht des Wortes glauben und sich einzig und allein Mattarellas Reden anhören. Er vertritt nicht nur immer das Richtige, sondern sagt es auch klar und gut. Er, der ehemalige Verfassungsrichter, ist ihr Hüter geblieben, so dass man vor fast jede seiner Äußerungen getrost die Äußerung stellen könnte, dass aus ihm auch die „Costituzione“ spricht. Andererseits ist er aber politisch genug, um es zum richtigen Zeitpunkt zu tun, das heißt wenn es wieder einen Grund gibt, Dinge gerade zu rücken (wofür es gerade bei der gegenwärtigen Regierung viel Anlass gibt). Er hat ein Amt, das ihm ja nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Pflicht auferlegt, Reden zu halten, nicht nur zum Neuen Jahr, sondern auch wenn wieder etwas zu begehen ist – und auch davon gibt es in Italien genug. Seine Vorgehensweise ist stets die gleiche: Sich nicht die Personen vorzunehmen, die das Falsche sagen oder tun, sondern nur ihre Inhalte, und diesen das Richtige entgegenzustellen. Was dabei entsteht, ist eine Art ideale Parallelwelt aus Worten (manchmal auch aus Gesten), die sich zwar auf die reale Welt beziehen, indem sie ihr entgegenhalten, wie sie sein sollte.

Das Richtige neben dem Falschen

So geschehen am 3. März, wenige Tage nach dem Schiffbruch eines mit Flüchtlingen vollgeladenen Fischerboots vor der italienischen Küste, als Mattarella ohne einen einzigen ihn begleitenden Regierungsvertreter ins kalabrische Cutro reiste, um die aufgebahrten Toten zu ehren und die Überlebenden zu besuchen, während die Regierung Desinteresse demonstrierte. Die Bilder, wie er einsam in einer Halle vor 67 Särgen steht, zeigen auch auf die Lücke, über die der Staatspräsident kein Wort verlor, aber auf die er durch sein eigenes schweigendes Erscheinen überdeutlich hinwies.

So geschehen am 25. April, dem Tag der Befreiung vom Faschismus und von der deutschen Besatzung, den Giorgia Meloni allzu gern von seiner antifaschistischen Wurzel befreien wollte (und deshalb noch am Morgen dieses Tages vorschlug, ihn einfach nur noch der „Freiheit“ zu widmen). Mattarella fuhr stattdessen ins norditalienische Cuneo, in den 40er Jahren ein Zentrum der Resistenza, um dort zu erklären, dass die italienische Verfassung ein Kind der Resistenza sei, deren Geist lebendig bleiben und sich weiterhin in der Schaffung eines vereinten Europas verwirklichen müsse – ein weiterer wunder Punkt für die italienische Rechte.

So zuletzt geschehen am 25. August in Rimini, bei dem Jahrestreffen von Comunione e Liberazione, einer katholischen Bewegung, die in Italien nicht unumstritten ist, aber doch genug Bedeutung hat, um auch den Staatspräsidenten zu einem Auftritt zu animieren. Politischer Hintergrund: das Aufsehen, das gerade der rechtslastige General Vannacci mit seinen Ausführungen über sexuelle Normalität (und Anormalität), Multikulturalismus, den (aus seiner Sicht berechtigten) Hass gegen Einbrecher und die Besonderheit der „Italianità“ hervorriefen. Hier wandte sich Mattarella unter Berufung auf die Gründung der UNO und der EU „gegen das Bestreben, sich Freundschaft nur unter denjenigen vorzustellen, die sich als ähnlich wahrnehmen“. Denn „wenn es so wäre, befänden wir uns auf dem Weg der Gleichmacherei und Verflachung. Das Gegenteil ist richtig: der Respekt vor dem Unterschied, vor der Besonderheit, die jeder Person zu eigen ist… Unser Vaterland, unser Volk ist das Ergebnis des Aufeinandertreffens vieler Ethnien, Gewohnheiten, Erfahrungen, Religionen“. Im gleichen Geist bezog er auch Stellung zur Migration: Sie müsse „so angegangen werden, wie sie ist: Eine globale Bewegung, die durch Mauern und Barrieren nicht aufzuhalten ist“. Italien könne das Problem nicht allein lösen, stattdessen sei hier „endlich ein konkretes und konstantes Engagement der EU zur Unterstützung der Herkunftsländer nötig… Nur reguläre Einreisemöglichkeiten, die einerseits nachhaltig, andererseits aber zahlenmäßig groß genug sind, könnten dem grausamen Menschenhandel ein Ende setzen. Eine Perspektive, auch ohne unmenschliche Kosten und Leiden kommen zu können, was die Migranten dazu bringen könnte, die Fristen bis zur legalen Einreise abzuwarten“. Eine Position, die noch tastend und unvollständig ist – das Konzept, das hier alle Probleme löst, hat auch Mattarella nicht, ist aber meilenweit von der Herangehensweise der meisten europäischen Regierungen entfernt, insbesondere der eigenen.

Champion der Umfragen

In den Umfragen ist Mattarella der Meister aller Klassen. 73 Prozent der Italiener und Italienerinnen bekunden, zu ihm „viel“ bzw. „sehr viel“ Vertrauen zu haben, und zwar quer durch alle Parteien – bei Melonis bzw. Salvinis Anhängern immerhin zwei Drittel. Dies gilt für alle Altersklassen, von den ganz alten und bis zu den ganz jungen. Hier beginnt aber auch das Rätsel: Ein nicht unbeträchtlicher Teil derer, die Mattarella vertrauen, wählen Parteien, denen er immer wieder vehement widerspricht. Eine „kognitive Dissonanz“, die eigentlich von einem „unangenehmen Empfinden“ begleitet sein müsste, wie die Sozialpsychologen sagen, das aber hier offenbar ausbleibt. Was das eigentlich Erklärungsbedürftige ist. Das italienische Volk liebt seinen Präsidenten Mattarella, egal was er sagt, und hört sich freundlich nickend seine Reden an, aber für die Volkshälfte, die dabei sein eigentlicher Adressat ist, folgt daraus nichts.

Woran es liegt, ist nicht leicht zu sagen. Denn Mattarella ist nicht der klassische Sonntagsredner, der an Feiertagen über das „Wahre, Gute, Schöne“ sinniert, womit man bei niemandem aneckt und das man sich dann hinterher in die Vitrine stellen kann. Er redet meist konkret genug, um eigentlich mit seiner Kritik verstanden zu werden, auch wenn er weiße Haare und ein würdiges Aussehen hat. Und hat auch schon bewiesen, dass er nicht nur reden, sondern auch handeln kann, als er sich beispielsweise bei der Bildung der Conte1-Regierung weigerte, einen Minister zu beglaubigen, dessen Treue zu Europa in Frage stand. Oder als er nach dem Sturz von Conte2 entschied, dass sich Italien in dieser Situation keine Neuwahlen leisten könne, sondern Mario Draghi zum neuen Chef einer Notregierung berief.

Ein taktisches Schweigegelübde

Die Erklärung liegt zunächst in Mattarellas Popularität, die ihn unangreifbar macht. Sie liegt auch in der Zurückhaltung, mit der er seine Kompetenz beim Unterschreiben von Gesetzen ausspielt, deren Verfassungsmäßigkeit fragwürdig ist. Ein Beispiel war sein Verhalten, als die Conte1-Regierung im Parlament Salvinis berüchtigte Sicherheitsdekrete durchsetzte, welche die italienischen Häfen für Schiffe mit geretteten Flüchtlingen schließen sollte, was im eklatanten Widerspruch zum internationalen Seerecht stand. Mattarella unterschrieb das Gesetz, wohl wissend, dass es eigentlich im Widerspruch zu der von ihm immer wieder angemahnten „humanen“ Migrationspolitik stand. Aber er tat es mit Vorbehalt: in Gestalt eines Begleitbriefs, in dem er die Politik aufforderte, bei der Umsetzung des Dekrets auf die Einhaltung der verfassungsmäßigen und internationalen Verpflichtungen des Landes zu achten. Die Erklärung liegt aber auch in der taktischen Schlauheit von Giorgia Meloni, die offenbar ihre Regierungsmitglieder angewiesen hat, jedem Streit mit ihm aus dem Wege zu gehen. Eine Direktive, der vor allem sie selbst folgt. Mattarella lobt Resistenza und Antifaschismus, sie schweigt. Er kritisiert die „inhumane“ Migrationspolitik, sie schweigt. Er sagt das Richtige, aber lebt dabei in einem Raum, den die Spitze der italienischen Politik mit Watte schalldicht gemacht hat. Das Ergebnis ist eine merkwürdig zersplitterte öffentliche Debatte, in der Mattarellas Beitrag wie Garbareks Saxophon in seinem „Officium“ über dem allgemeinen Getöse schwebt. Wunderschön, aber einsam und ohne Echo.

Die Kosten der Unangreifbarkeit

Aber auch für Meloni hat diese Taktik ihren Preis. Man kann sich fragen, warum sie jetzt ihr Lieblingsprojekt, die Einführung des Presidenzialismo mit einem direkt vom Volk gewählten Staatspräsidenten, erst einmal, wie es scheint, auf Eis gelegt hat, obwohl ihr die Hoffnung auf eine autoritärere Verfassung in den Genen liegt. Zumindest ein Grund könnte auch hier das Bestreben sein, jeden Konflikt mit Mattarella zu vermeiden. Denn dieser wurde Anfang 2022 für eine Amtszeit von weiteren 7 Jahren (wieder-)gewählt, und nach Melonis Wahlsieg waren einige ihrer Parteigänger so unvorsichtig, zu verkünden, dass nun auch bald der Presidenzialismo kommen werde, „natürlich“ mit der Konsequenz eines vorzeitigen Endes von Mattarellas Amtszeit. Was aber die Volksbefragung, auf die das Projekt wahrscheinlich hinauslaufen müsste, für Meloni mit einer weiteren Unsicherheit belastet hätte: Nach aller Erfahrung werden bei solchen Referenden Verfassungsänderungen gnadenlos personalisiert, wozu die Frage einer vorzeitigen Ablösung Mattarellas geradezu einladen würde. Eine Überlegung, die für Meloni zu dem Fazit geführt haben könnte, davon lieber die Finger zu lassen. Dafür ist der Mann zu populär.