Migration: Das Scheitern der Rechtsregierung

„Wir werden die Anlandungen stoppen“, „Wir schicken die Illegalen wieder nach Hause“, „Wir werden den Schleppern das Handwerk legen“. Diese und ähnliche Slogans beherrschten den Wahlkampf der extremen Rechte von Meloni und Salvini und sollten nach der Regierungsübernahme (22. Oktober 2022) umgesetzt werden.

Seitdem ist fast ein Jahr vergangen, und es stellt sich die Frage – auch jenseits politischer, rechtlicher und moralischer Bewertungen -, was aus den militanten Ankündigungen geworden ist. Die Antwort auf diese Frage ist nicht nur für Italien wichtig, sondern auch für andere europäische Länder, wo Rechtsradikale mit ähnlichen Parolen die Lösung der Migrationsprobleme versprechen (und damit auch punkten, siehe die deutsche AfD). Am Beispiel der Meloni-Regierung kann man sehen, was solche „Rezepte“ wert sind, wenn es um reale Herausforderungen geht.

Die Zahl der Bootsflüchtlinge steigt

Mit über 100.000 Bootslandungen innerhalb von sieben Monaten (Stichwort 15. August) ist die Zahl der Migranten und Flüchtlingen, die Italien über die Mittelmeerroute erreichten, doppelt so hoch wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Melonis Versprechungen, die Einreisen mit veränderten Bestimmungen für die Anlandung zu stoppen, haben nichts bewirkt. Ihre einzige Wirkung bestand darin, die Rettungseinsätze der NGO-Schiffe zu behindern und dadurch die Anzahl der Ertrunkenen – 2.100 Todesfälle allein in diesem Jahr – weiter steigen zu lassen.

Inzwischen musste der harte Kurs gegen die NGOs – partiell – geändert werden. Wegen der steigenden Anzahl der Kleinboote, mit denen die Flüchtlinge kommen, mehren sich die Seenotfälle, und die überforderte italienische Küstenwache sieht sich gezwungen, die NGOs fast täglich um Hilfe zu bitten. Geblieben ist allerdings die absurde Regelung, den Schiffen weit entfernte Häfen in Nord- und Mittelitalien zuzuweisen, die tagelange Fahrten erfordern – um die Flüchtlinge dann mit Bussen an andere Orte (oft wieder im Süden) zu verlegen. Eine reine Schikane, die zusätzlichen Stress für die Geretteten und die Schiffsmannschaften bedeutet.

Auch die Vereinbarung mit Tunesiens Machthaber Saied, die von Meloni, EU-Präsidentin von der Leyen und dem niederländischen Premier Rutte vor kurzem medienwirksam vorgestellt wurde (wofür der tunesische Diktator 150 Millionen kassiert) hat bisher nichts bewirkt, im Gegenteil: Inzwischen kommen die meisten Menschen in Kleinbooten von der tunesischen Küste nach Italien. Sie steuern Lampedusa an, da die Insel das nächstliegende Ziel in Italien ist. Mit der Folge, dass der dortige Hotspot, der eine Aufnahmekapazität für 400 hat, mit über 3000 Personen hoffnungslos überfüllt ist. Zwar wird ein Teil der Migranten und Flüchtlinge weiter an andere Orte transportiert, aber aufgrund der täglich ankommenden Boote bleibt der Hotspot auf Dauer überbelegt.

Demgegenüber beträgt die Anzahl von Flüchtlingen, die über sogenannte humanitäre Korridore auf legalem und sicherem Weg nach Italien kommen, lediglich 1.042 (im Zeitraum Januar – August 2023). Eine verschwindend kleine Zahl, die nicht annähernd ausreicht, um Schutzbedürftige, die sich in akuter Notlage befinden, in Sicherheit zu bringen.

Das sogenannte „decreto flussi“

Die einzig konkrete Maßnahme, die einer relevanten Anzahl von Migranten die legale Einreise ermöglicht, ist in dem seit 2002 geltenden „Bossi-Fini-Gesetz“ (genannt nach zwei Ministern der Berlusconi-Regierung) enthalten. Demnach dürfen Ausländer, die vor der Einreise einen Arbeitsvertrag vorweisen können, nach Italien kommen und eine Aufenthaltserlaubnis erhalten, die an dem Arbeitsplatz gebunden ist. Dabei geht es in erster Linie um die Anwerbung von billigen Arbeitskräften für die Landwirtschaft oder für die häusliche Pflege von Alten und Kranken.

Auch die Meloni-Regierung hält an dieser Regelung fest, da sie genau weiß, dass ansonsten die Unternehmer – vor allem die Landwirte, die existentiell darauf angewiesen sind – auf die Barrikaden gehen würden. Das aktuelle Gesetzesdekret („decreto flussi“) ermöglicht es 450.000 Migranten mit Arbeitsvertrag, in Italien zu arbeiten, diesmal für einen Zeitraum von drei (statt bisher zwei) Jahren. Viele von ihnen werden allerdings nicht Neuzuwanderer sein, sondern solche, die bereits in Italien sind und durch das Dekret nun ihren Aufenthaltsstatus „legalisieren“ können.

Anders als die Maßnahmen zur Bekämpfung der „Illegalen“ wurde dieses Dekret ganz im Stillen verabschiedet – wohl weil es in Widerspruch zu dem Antimigrations-Kurs der Regierung steht.

Rückführungen und Umverteilungen: ebenfalls ein Flop

Fehlanzeige gibt es auch bei der versprochenen Rückführung von Migranten ohne Anspruch auf Asyl (was allerdings auch schon für die Vorgängerregierungen, egal von welcher Couleur, galt): Ihre Zahl beträgt in diesem Jahr bisher lediglich 2.500. Das größte Hindernis besteht darin, dass die Herkunftsländer sich weigern, die Abgeschobenen wieder aufzunehmen.

Ebenso wenig klappt die Umverteilung auf andere EU-Länder. Die meisten Zuwanderer sehen Italien nur als Durchreiseland – sie möchten eigentlich nach Deutschland, Schweden, Frankreich und anderen nordeuropäischen Ländern. Dagegen steht aber das Dublin-Abkommen, wonach das Land, in dem der Asylantrag gestellt wird, für die Aufnahme zuständig ist. Alle Vorstöße, das Dublin-Abkommen zu ändern, sind in der EU bisher gescheitert, weil unter den Mitgliedstaaten kein Konsens über eine solidarische europäische Lösung erreicht werden konnte. An der Spitze der Gegner einer Reform stehen die Rechtsparteien – Melonis FdI und Salvinis Lega inklusive -, die im EU-Parlament dagegen stimmten. Und die sogenannte „ obligatorische Umverteilung“, die Teil des in der EU vor kurzem beschlossenen Asylpakts ist und als „Durchbruch“ gefeiert wurde, ist eine Mogelpackung: Nach wie vor dürfen Mitgliedstaaten (wie Ungarn und Polen) sie verweigern und sich davon mit einem bescheidenen (und einmaligen) Bußgeld freikaufen.

Migrationspolitik als permanenter Notstand erzeugt Chaos

Noch mehr als die Vorgängerregierungen behandelt Melonis Rechtskoalition Migration und Flucht nicht als globales Phänomen, das nach strukturellen, langfristig angelegten Maßnahmen verlangt, sondern als permanenten Ausnahmezustand, der von der Regierung im April sogar ganz offiziell als „nationaler Notstand“ ausgerufen wurde, zunächst für die Dauer von sechs Monaten. Dieser ermöglicht der Regierung, ad hoc-Maßnahmen in Kraft zu setzen, ohne dass sie vom Parlament abgesegnet werden – u. a. beschleunigte Asylverfahren an der Grenze und die Errichtung neuer Aufnahme- und Abschiebezentren. Nichts davon ist bisher passiert. Im Gegenteil: In der Praxis hat der „Flüchtlingsnotstand“ nicht zu mehr, sondern zu weniger Koordination und zu einem Aussetzen von Integrationsmaßnahmen geführt. Die Probleme wurden nicht reduziert, sondern verschärft.

Ein Beispiel dafür bietet das Chaos bei der Unterbringung in den Kommunen. Dort kommen täglich Busse mit Neuankömmlingen aus den sizilianischen Hotspots an, die nach Willen der Regierung in sogenannten „Centri di accoglienza straordinari/CAS“ (eine Art Abschiebezentren) unterzubringen sind. Diese sind aber inzwischen überfüllt, für die Einrichtung neuer Zentren sind keine Mittel veranschlagt. Das Absurde ist: freie Plätze gäbe es schon, allerdings nicht in den CAS, sondern in dem Programm „SAI“ (Sistema di accoglienza e integrazione), das Zuwanderer dezentral in kleineren Unterkünften unterbrachte und auf kommunaler Ebene durch sprachliche, soziale und berufliche Integrationsmaßnahmen begleitete. Nur zu gerne würden die Bürgermeister diese freien Plätze und Integrationsangebote nutzen, allein: Sie dürfen es nicht, denn mit dem sogenannten „Cutro-Dekret“ (genannt nach dem Ort der Schiffskatastrophe im Februar dieses Jahres) bestimmte die Regierung, dass neu ankommende Asylbewerber das SAI-Programm nicht in Anspruch nehmen dürfen, sondern nur anerkannte Asylberechtigte und Kranke.

Gibt es Alternativen?

Italiens Beispiel zeigt, dass rechtspopulistische „Rezepte“ nicht nur rechtlich fragwürdig und menschenrechtswidrig, sondern auch untauglich sind, um die mit Migration und Flucht verbundenen Problemen anzugehen. Was zu der Frage führt: Gibt es Alternativen, um die Zuwanderungsbewegungen – zumindest partiell – so zu steuern, dass sowohl die Bedürfnisse von schutzbedürftigen Asylsuchenden als auch die von arbeitssuchenden Migranten und den aufnehmenden Ländern berücksichtigt werden?

Eine alte Debatte, die in letzter Zeit, auch in Deutschland, erneut entbrannt ist. Nicht zuletzt aufgrund der wachsenden Zustimmung für rechtsradikale Kräfte. Von Sigmar Gabriel (SPD) und Teile der CDU kommt der Vorschlag, das in der Verfassung verankerte individuelle Recht auf Asyl und die Genfer Flüchtlingskonvention gänzlich abzuschaffen. Stattdessen sollten jährlich Flüchtlingskontingente vom UN-Flüchtlingswerk ausgewählt und in der EU verteilt werden. Alle anderen sollen bereits an der Grenze abgewiesen werden – wie? Mit Militär? Ein politisch und moralisch problematischer und auch schwer umsetzbarer Vorschlag.

Zur Ehrlichkeit der Debatte gehört, anzuerkennen, dass eine „absolute Kontrolle“ des globalen Migrationsphänomens nicht möglich ist. Dennoch gäbe es Interventionen, die die jetzige desaströse Lage zumindest verbessern – wenn es politisch gewollt wäre. Der erste Schritt wäre, anstelle des jetzigen Dublin-Verfahrens, eine wirklich verpflichtende EU-Vereinbarung zur Verteilung der Asylsuchenden auf alle Mitgliedstaaten, begleitet von einer europäischen Rettungsmission zur Seenotrettung.

Weiter müssten mit Unterstützung des UN-Flüchtlingswerks humanitäre Korridore, die diesen Namen verdienen, in den schlimmsten Krisenregionen eingerichtet werden, um legale und sichere Wege für Schutzbedürftige zu ermöglichen.

But not least sollten die europäischen Länder, die aufgrund des demographischen Wandels immer dringender ausländische Fachkräfte (und nicht nur solche) benötigen, Anwerbeprogramme auflegen, die neben einer sprachlichen auch eine berufliche Qualifizierung bzw. Weiterqualifizierung beinhalten – die Vorstellung, den eigenen Bedarf durch bereits im Ausland qualifizierte Arbeitskräfte abdecken zu können, ist ausbeuterisch, besonders wenn sich schon Hunderttausende von jungen Leuten in den Aufnahmezentren drängen. Bei der Steuerung und Auswahl könnten – entsprechend ausgestattet – die Botschaften und Konsulate in den Herkunftsländern eine wichtige Funktion übernehmen. (Mit den Herkunftsländern abgestimmte Programme, um die Lage dort zu verbessern, sind erst recht notwendig, aber deren Realisierung ist sehr schwierig und würde – wenn überhaupt – etliche Jahre erfordern.)

Würde das reichen, um alle Probleme zu lösen? Sicherlich nicht, aber es wäre immerhin besser als das gegenwärtige Desaster.

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