Ukrainekrieg: Draghi ergreift die Initiative

„Die Zeit für eine Friedensrunde ist gekommen. Alle – allen voran die USA und Russland – müssen sich mit ganzer Kraft dafür einsetzen“. So Italiens Ministerpräsident Mario Draghi bei der Pressekonferenz anlässlich seines Besuchs in Washington vor einigen Tagen.

Besuch bei Biden

Draghis Reise in die USA (die Medien sprachen sogar von einer „Mission“) wurde in Italien mit Spannung erwartet. Der italienische Regierungschef, der – anders als zum Beispiel Macron und Scholz – zum amerikanischen Präsidenten auch ein persönliches Verhältnis hat, kann es sich erlauben, ihm seine Sicht der Dinge nicht nur diplomatisch verpackt darzulegen.

In seinem Auftritt vor der Presse wies Draghi auf die veränderte Lage im Ukrainekrieg hin: Wen man zunächst für unbesiegbar gehalten habe, sei es in Wirklichkeit nicht. Nun sei es für die internationale Gemeinschaft vordringlich, sich neben der weiteren – auch militärischen – Unterstützung der Ukraine auf einen konkreten Plan zur Beendigung des Krieges zu einigen. Europa und Italien wollten hier eine aktive Rolle übernehmen, es sei aber von entscheidender Bedeutung, dass sich auch die USA in diese Richtung bewegen.

Die EU und die USA seien zwar enge Verbündete und unterstützten gemeinsam die Ukraine, das bedeute aber nicht, dass sie notwendigerweise in jedem Punkt die gleiche Sichtweise hätten, setzte Draghi hinzu, und man müsse verhindern, dass sich daraus getrennte Vorgehensweisen ergeben. „Ich sage das vorbeugend“, erklärte er – man kann davon ausgehen, dass er dies „vorbeugend“ auch Biden sagte.

Tatsächlich gibt es bei den strategischen Zielen von EU und USA unübersehbare Unterschiede: Die europäischen Länder (vor allem Frankreich, Deutschland und Italien) wollen die Ukraine dabei unterstützen, Putins Offensive zu stoppen, um dann den Weg für eine „diplomatische Lösung“ freizumachen, die für die Ukraine akzeptabel ist und der EU eine möglichst rasche Beendigung der zunehmend belastenden Kriegsfolgen ermöglicht. Zumindest Teile der US-Administration scheinen hingegen in einem fortdauernden Konflikt auch Vorteile zu sehen, da er Russland dauerhaft schwächt und möglicherweise zum Sturz des Putin-Regime führen könnte. Unabhängig von der – entscheidenden – Frage, wie realistisch die jeweiligen Ziele sind, handelt es sich nicht gerade um nebensächliche Divergenzen.

Der italienische „Vier-Stufen-Plan“

Dass der Besuch in Washington und die von dort ausgesendete Botschaft nicht als isolierte Aktion, sondern als Teil einer umfassenderen Initiative der Draghi-Regierung zu sehen sind, zeigt sich auch daran, dass wenige Tage später der italienische Außenminister Di Maio (5Sterne) in New York war, um dem UN-Generalsekretär Guterres den Vorschlag eines „Vier-Stufen-Plans“ zu überreichen, nachdem dieser auch den Unterhändlern der sieben wichtigsten Industrienationen (G7) vorgelegt worden war. UN, EU und OSZE sollen dabei auch andere Länder wie die Türkei und Indien einbeziehen.

Hier die vier Etappen des von Italien vorgeschlagenen Plans:

1) Am Anfang soll ein Waffenstillstand stehen, der noch während des Kriegsgeschehens ausgehandelt werden soll.

2) Einigung auf eine künftige Neutralität der Ukraine, die international durch mehrere Staaten garantiert werden und ausdrücklich mit einem Eintritt der Ukraine in die EU kompatibel sein soll.

3) Eine bilaterale Vereinbarung zwischen Ukraine und Russland über den Status von Krim und Dombass (mit Regelungen, die einst schon im sogenannten Minsker Abkommen enthalten waren). Darin sollen Fragen der Grenzziehung, der Autonomie und des Schutzes sprachlicher und kultureller Rechte mit dem Ziel einer weitgehenden Autonomie der betroffenen Gebiete geklärt werden, ohne die ukrainische Souveränität über das gesamte Nationalgebiet anzutasten.

4) Multilaterale Vereinbarung über den Frieden und die Sicherheit in Europa mit folgenden Prioritäten: eine stabile Nachkriegsordnung, die einen vollständigen Rückzug der russischen Streitkräfte aus den besetzten Gebieten voraussetzt (Mindestziel: Rückkehr zum Status vor dem Kriegsbeginn am 24. Februar), Abrüstung, Konfliktprävention und vertrauensbildende Maßnahmen zwischen EU und Russland.

Der Vorschlag der italienischen Seite ist durchaus ehrgeizig und seine Realisierbarkeit ungewiss, auch aufgrund kritischer Punkte wie der Status von Krim und Dombass. Er verdient dennoch Aufmerksamkeit, denn er wurde nicht nur in Europa mit Deutschland und Frankreich abgestimmt, sondern hat auch den Segen des amerikanischen Präsidenten. Nicht offiziell zwar, aber faktisch. Das war Draghis Hauptanliegen bei seinem Besuch in Washington, so dass er die dort erhaltenen Signale ausdrücklich positiv bewerten konnte.

Die ukrainische Reaktion

Die ukrainische Regierung, der den Plan vorgelegt wurde, hat auf die italienische Initiative grundsätzlich positiv reagiert, allerdings mit einigen Einschränkungen. Der einflussreiche Sprecher von Außenminister Kuleba, Oleg Nikolenko, nannte die Vorschläge „interessant“, sie würden sorgfältig geprüft, gleichzeitig „müsse jede politische Entscheidung vom Respekt der Souveränität und territorialen Integrität der Ukraine innerhalb der von der internationalen Gemeinschaft anerkannten Grenzen ausgehen“. Das bezieht sich auf den – besonders problematischen – Punkt 3 des italienischen Vorschlags zum Status von Krim und Dombass: Wie fast die Gesamtheit der internationalen Gemeinschaft (mit Ausnahme Russlands, Abchasiens und Südossetiens) erkennt die Ukraine die selbsternannten autonomen Republiken von Donetsk und Lugansk nicht an und zählt auch die Krim zum ukrainischen Territorium.

Von russischer Seite gibt es bisher keine eindeutige Reaktionen. Putins Sprecher Peskov erklärte, Russland sei nicht auf diplomatischem Weg über den italienischen Vorschlag informiert worden, man habe daher nur über die Medien davon erfahren und kenne die Einzelheiten nicht. „Ehrliche Verhandlungspartner“ seien jedenfalls „immer willkommen“.

Als indirekte, aber positive Signale interpretiert die italienische Seite die Telefonate zwischen den Verteidigungsministern von Russland und USA, Shoigu und Austin, zu denen es unmittelbar nach Draghis Besuch bei Biden kam, und zwischen dem amerikanischen und russischen Stabschef ein paar Tage später, bei dem laut Pentagon „verschiedene Sicherheitsfragen besprochen und die Beibehaltung von Kommunikationskanälen vereinbart“ wurde.

Widerstände innerhalb der Regierungskoalition

Das Interesse der italienischen Regierung, eine aktive Rolle bei den Bemühungen um eine Beendigung des Krieges zu spielen, ist seiner proeuropäischen und atlantischen Positionierung geschuldet, hat aber auch innenpolitische Gründe: einerseits die hier bestehenden Sorgen um die Folgen der Sanktionen, die Italien (wie auch Deutschland) wegen seiner hohen Abhängigkeit von russischen Energieträgern vor große Herausforderungen stellen, und andererseits um die sich abzeichnende globale Ernährungskrise vor allem in afrikanischen Ländern, die zu massiven Migrationsbewegungen führen würde, mit Italien und den anderen Mittelmeerländern als ersten Zielen.

Doch gerade innenpolitisch stößt Draghi auf größte Widerstände, und zwar von Parteien, die Teil seiner Regierung sind: in erster Linie von Salvinis Lega und Contes 5Sternen, aber auch von Putins einstigem Busenfreund Berlusconi, der kürzlich mit einigen Erklärungen (vom Kaliber:„Europa sollte mit einem gemeinsamen Friedensvorschlag die Ukrainer zu überzeugen versuchen, Putins Forderungen zu akzeptieren“) seine Partei in Aufruhr setzte.

Die Kritik aus dem Inneren der Regierungskoalition betrifft nach wie vor in erster Linie die Erhöhung des Verteidigungsetats und die Waffenlieferungen an die Ukraine. Salvini und Conte warnen, dies könnte zu einer Verlängerung bzw. Ausweitung des Krieges führen, was die Belastungen für die italienische Bevölkerung weiter steigern würde. „Ich kann keinen neuen Waffenlieferungen zustimmen, wenn die italienischen Arbeitnehmer gleichzeitig den Gürtel enger schnallen müssen“ erklärte Salvini nach dem Bericht des Ministerpräsidenten vor dem Parlament am vergangenen Donnerstag. Was nicht gerade von Empathie mit dem ukrainischen Volk getragen ist, für das es nicht allein um schlechtere Lebensbedingungen, sondern um das Überleben geht. Aber durchaus populistisch wirksam sein könnte.

Der Vorsitzende der 5Sterne Conte bläst ins gleiche Horn und droht mit einer Abstimmung zum Thema Waffenlieferungen im Parlament – obwohl eine solche bereits stattgefunden hat, wobei sich eine breite Mehrheit (die 5SB eingeschlossen) für den Regierungskurs aussprach. Wie Salvini schielt auch Conte auf die Wählergunst, da sich beide Parteien bei Umfragen im Abwind befinden. Die 5SB ist in dieser Frage tief gespalten: Während Conte gegen die „Aufrüstung“ durch die – auch von ihm mitgetragene – Regierung wettert, steht Außenminister Di Maio, ebenfalls 5Sterne, felsenfest auf Regierungslinie – Waffenlieferungen eingeschlossen.

Den Sozialdemokraten (PD), die als einzige Partei Draghis Kurs ohne Wenn und Aber unterstützen, aber gleichzeitig in den 5Sternen immer noch potentielle Bündnispartner sehen möchten, bereitet deren Janusköpfigkeit und Unzuverlässigkeit zunehmend Sorgen. Leider zu recht.

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