Das Nein zum italienischen Friedensplan

Man kann nicht behaupten, dass der italienische vierstufige Friedensplan, über den wir vor einer Woche berichteten, eine schlechte Idee war. Er setzt allerdings voraus, dass der bisherige Konfliktverlauf eigentlich jede Seite zu der rationalen Überlegung bringen müsste, dass hier für niemanden ein schneller Sieg zu erwarten ist und ihr eine Fortsetzung mehr schaden als nützen könnte. Obwohl es sich hier eher um eine Skizze als um einen „Plan“ handelt, scheint die Grundidee ausgewogen zu sein, indem sie zuallererst dem humanitären Imperativ einer Beendigung des Tötens durch einen möglichst schnellen Waffenstillstand genügen will, dann aber einen Ausgleich der Interessen auf der Grundlage des Völkerrechts sucht. Mit dem Zugeständnis der Ukraine, sich auf die eigene künftige Neutralität und auf eine (neu verhandelte) Regelung der Autonomie für die russophonen Minderheiten im Donbass und auf der Krim einzulassen, und dem Zugeständnis Russlands, die Weiterexistenz eines ukrainischen Staates in den heutigen Grenzen mit internationalen Garantien und mit dem Recht zum EU-Eintritt zu akzeptieren und die eigenen Truppen bis zu dem Status vor dem 24. Februar (Kriegsbeginn) zurückzuziehen. Und alles im Rahmen eines neuerlichen Anlaufs zur Schaffung einer stabilen Nachkriegsordnung zwischen EU und Russland.

Ein Vorschlag zur Vernunft

Die Vernunft dieses Plans besteht darin, dass er sich im bewaffneten Konflikt zwischen Russland und der Ukraine nicht einfach auf die ukrainische Seite stellt, das heißt sich nicht auf das Ziel beschränkt, der russischen Seite eine möglichst krachende Niederlage beizubringen, sondern eine tatsächliche Befriedung anstrebt, und zwar nicht nur zwischen Russland und der Ukraine, sondern auch zwischen Russland und der gesamten EU. Worin zunächst der Versuch steckt, einen Ausweg aus dem objektiven Dilemma zu finden, vor dem alle Hilfsversuche für die Ukraine stehen: Waffenlieferungen, mit denen sich die Ukrainer wirksam verteidigen können – nur sie würden ja Sinn machen –, könnten Putin zur weiteren Eskalation provozieren (deren „Dominanz“ er, der Aggressor, bekanntlich sowieso hat), denn er hat sich nun einmal selbst in eine Situation gebracht, in der jeder Nicht-Sieg für ihn eine Niederlage wäre. Eine Eskalation, die nicht nur die Ukraine, sondern ganz Europa, wenn nicht die ganze Welt zum Schlachtfeld machen könnte. Aber auch das Nichtliefern derartiger Waffen könnte katastrophale Folgen haben: Es würde nicht nur einen europäischen Nachbarn opfern, sondern könnte auch Putins Appetit auf weitere Expansion anregen, denn er maßt sich ja bekanntlich ein „natürliches“ Anrecht auf die Wiederherstellung des früheren Sowjet-Imperiums an.

Weder „Demütigung“ noch Appeasement, samt Nebenabsichten

Vor einem ähnlichen Dilemma standen 1938/39 die europäischen Demokratien, als das hochgerüstete Deutschland zunächst die Tschechoslowakei zerschlug, worauf sie noch mit dem Versuch eines Appeasement reagierten, und ihnen schon ein Jahr später durch den Überfall auf Polen bewiesen wurde, dass sie sich verrechnet hatten. Ihre Entscheidung, nun auch ihrerseits Hitler den Krieg zu erklären, endete nach sechs Jahren mit dessen Niederlage und ersparte Europa und der Welt ein „tausendjähriges Reich“, aber kostete Millionen von Toten und Vertriebenen.

Heute müsste sich die Fähigkeit, aus der Geschichte zu lernen, auch darin ausdrücken, den Rückfall in eine solche katastrophale Alternative zu vermeiden. Der Friedensplan der italienischen Regierung versucht es, indem er weder die totale Niederlage des Aggressors anstrebt noch den Fehler eines Appeasement wiederholt, das den Angegriffenen opfert. Weshalb der Plan auch während des Friedensprozesses nicht nur an den Sanktionen festhalten will, sondern auch vorsieht, den Angegriffenen weiterhin mit den Waffen zu versorgen, die er zur Verteidigung braucht.

Natürlich stecken in dem Plan auch Nebengedanken. Zunächst ist es ein „europäischer“ Plan, in dem sich auch das Bewusstsein ausdrückt, dass es zwischen Europa und den USA einen nicht ganz unwesentlichen Unterschied der Interessenlagen gegenüber Putins Aggression gibt: Stärker als die USA sind die Europäer daran interessiert, dass sich der Ukraine-Konflikt nicht zu einem kontinentalen Flächenbrand ausweitet. Zweitens ist der Plan ein Anzeichen für eine gemeinsame europäische Außenpolitik, die sich nicht darin erschöpft, Anweisungen der USA zu folgen. Drittens gibt es für den Plan auch ein innenpolitisches Motiv: Die pazifistisch verbrämte Opposition Salvinis und Contes gegen Waffenlieferungen an die Ukraine (und gegen die Erhöhung des italienischen Verteidigungshaushalts) wird zunehmend lauter, wobei die Meinungsumfragen über die Stimmung im Volk beider Hoffnung nähren, sich damit einen Teil der schwindenden Wählergunst zurückholen zu können. Könnte sich Draghi jetzt als Protagonist des Plans präsentieren, der einen ernsthaften Friedensprozess einleitet, könnte er damit der internen Opposition vielleicht einigen Wind aus den Segeln nehmen.

Das russische Njet

Aber für den Beginn eines solchen Friedensprozesses ist nun einmal der Wille aller Konfliktparteien nötig, sich auf ihn einzulassen. Und der ist, wie sich schnell zeigt, auf der russischen Seite bislang nicht vorhanden. Als erster preschte Dimitri Medvedev vor, der stellvertretende Vorsitzendes des russischen Sicherheitsrats, der mit höhnischer Herablassung kommentierte: „Man hat den Eindruck, dass der Plan nicht von Diplomaten vorbereitet wurde, sondern von lokalen Politologen, die ihr Wissen aus Provinzzeitungen beziehen und nur auf der Grundlage von Falschmeldungen der Ukrainer operieren“ (Corriere della Sera, 25. Mai). Was heißt: An ernsthaften Verhandlungen sind wir gegenwärtig nicht interessiert. Tatsächlich beginnt die Schwierigkeit schon beim ersten Schritt, dem auszuhandelnden Waffenstillstand: Zielt er auf eine schlichte Vereinbarung (ukrainische Interpretation) oder auf die Anerkenntnis der im Kampf erreichten Stellungen (russische Interpretation)? Medvedev stellte ergänzend schon einmal klar: „Die Idee eines Autonomie-Status der Krim und des Donbass innerhalb der Ukraine wäre die Ursache für einen vollgültigen Krieg“.

Getreidesilos in Odessa

Inzwischen hat die russische Seite einen weiteren Grund, um sich auf keinen baldigen Friedensschluss einzulassen. Denn ihr ist etwas in den Schoß gefallen, womit sie alle Ukraine-Unterstützer unter Druck setzen kann: Das in den ukrainischen Schwarzmeerhäfen gebunkerte Getreide muss exportiert werden, z. B. nach Afrika, bevor es verfault. Das ermöglicht ein Erpressungsmanöver, bei dem die russische Seite am längeren Hebel sitzt: Die Schiffe mit den Getreide-Containern können nur dann aus den Schwarzmeerhäfen auslaufen, wenn die ukrainische Seite zuvor die Minen entfernt, welche sie dort selbst ausgelegt hat, um die erwartete russische Invasion vom Meer her zu verhindern. Diese Minenräumaktion wäre aber jetzt nur mit russischer Zustimmung möglich – welche, wie bereits aus Moskau zu hören ist, nur gegeben wird, wenn vorher die Sanktionen gegenüber Russland außer Kraft gesetzt wurden. Komfortabler könnte die Situation für Putins Propaganda kaum sein: Wenn der Westen an seinen Sanktionen festhält, trüge er die Schuld an der Hungersnot in Afrika, ebenso wie für die Erhöhung der Lebenshaltungskosten im eigenen Land.

Die ISPI-Untersuchung

Am 10. Mai veröffentlichte das italienische Institut für internationale Politische Studien ISPI ein „Eurobarometer“ über die europäische Reaktion auf die russische Invasion in die Ukraine und ist dabei zu zwei interessanten Ergebnissen gekommen. Als erstes ermittelte es für den gesamten europäischen Raum hohe Zustimmungswerte (in der Größenordnung von 85 %) zu zwei Feststellungen, die zueinander in einer gewissen Spannung stünden: (1) solle sich Europa so schnell wie möglich aus der Abhängigkeit von russischem Gas und Öl befreien und (2) wirkten sich die steigenden Energiekosten jetzt schon signifikant auf die eigenen Lebenshaltungskosten aus. Vor allem aus dem zuletzt genannten Befund folgert ISPI, dass sich die zurzeit noch hohe Zustimmung zu den Sanktionen bald vermindern könne. Anfang Mai standen die Getreide-Krise und die Inflation auch im nicht-energetischen Bereich noch nicht im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Dies hat sich jetzt verändert, was der Warnung des ISPI („Brüssel, wir haben ein Problem“) noch mehr Gewicht geben dürfte.

Die Karten der Ukraine und des Westens, um der Putinschen Aggression gegen die Ukraine entgegentreten zu können, sind vielleicht doch nicht so gut, wie es jetzt so manche Äußerung suggeriert, dass Russland diesen Krieg eigentlich militärisch schon verloren habe. Denn der Konflikt ist ja auch ein Kampf um die öffentliche Meinung und um die Frage, wer hier den längeren Atem hat. Und da könnten die westlichen Demokratien angesichts der indirekten Kriegsfolgen immer noch den Kürzeren ziehen.

Das zweite Ergebnis der ISPI-Untersuchung betrifft im engeren Sinn Italien. In neun europäischen Ländern wurde gemessen, wieviel Prozent der Befragten sich mit der Reaktion der NATO auf den Krieg zufrieden zeigen und wie viele von ihnen der Feststellung zustimmen, dass die Hauptverantwortung für die gegenwärtige Situation bei Russland lieg. Das Ergebnis zeigt überraschenderweise, dass sich Italien bei beiden Variablen eindeutig am untersten Ende der Skala befindet: Nur weniger als 40 % sind hier mit dem Handeln der NATO zufrieden, und es sind ebenfalls weniger als 40 %, die die Hauptverantwortung bei Russland sehen. In Deutschland liegen die entsprechenden Werte bei jeweils ca. 57 %, worin es noch von den Niederlanden und Polen und zumindest bei der Hauptverantwortung Russlands von Finnland und Schweden übertroffen wird. Warum sich aber Italien bei diesen Variablen so weit vom restlichen Europa entfernt, darüber können wir zurzeit nur spekulieren.

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