Moralische Herausforderungen des Ukraine-Krieges

Bei den Massendemonstrationen, die in den letzten Wochen in Italien gegen den Ukraine-Krieg stattfanden, erweckte das Meer von blau-gelben Ukraine- und Regenbogen-Fahnen mit Pace-Aufdrucken den Anschein von Geschlossenheit. Dass dieser Anschein aber auch Brüche überdeckt, zeigt sich bei der Frage, welche praktischen Folgerungen aus diesen Bekundungen zu ziehen sind. Man ist sich zwar einig, dass die EU die Flüchtlingsströme aufnehmen müsse – auch wenn es Millionen sind. Aber an den Fragen, ob und wie man die ukrainische Selbstverteidigung auch durch Waffenlieferungen unterstützen und ob nun auch jedes EU-Land seinen Verteidigungshaushalt auf 2 Prozent hochfahren solle, scheiden sich die Geister. Und zwar nicht nur im italienischen Parlament, wo sich wegen dieser Differenzen immerhin jeder dritte Abgeordnete weigerte, bei der Übertragung von Selenskyjs Rede anwesend zu sein, und wo sich der Streit über die Erhöhung der Rüstungsausgaben sogar zur Regierungskrise auswachsen könnte.

Das Dilemma des Pazifismus

Rom, 5. März: Der „reine“ Pazifismus

Dieser Streit wird in ganz Europa geführt, aber in Italien besonders heftig. Die zentrale Solidaritätsdemonstration, die am 5. März in Rom stattfand und zu der nach Angaben der Veranstalter ca. 50.000 Menschen kamen, sprach sich gegen Waffenlieferungen an die Ukraine aus; eine Woche später fanden in vielen Städten dezentrale Demonstrationen statt, von denen sich zumindest die in Florenz, an der etwa 20.000 teilnahmen, ausdrücklich gegen die Position der „Äquidistanz“ abgrenzte, die in der römischen Demonstration noch Fürsprecher fand. Diese Gebrochenheit bestätigen auch die Umfragen (z. B. vom IPSOS-Institut): Deutlich über 60 % der Befragten sehen in Putin den Aggressor, aber dass die Ukrainer Widerstand leisten sollten, befürworten nur 42 %, während 43 % meinen, dass sie sich besser ergeben sollten, um weiteres Blutvergießen zu vermeiden. Eine klare Mehrheit ist für ökonomische Sanktionen gegen Russland, aber kaum weniger deutliche Mehrheiten sprechen sich gegen die Unterstützung des ukrainischen Widerstands mit Waffen und die Erhöhung des italienischen  Verteidigungshaushalts aus. Der Riss geht auch durch die Gewerkschaftsverbände, die – als „Richtungsgewerkschaften“ – ein Erbe der Nachkriegszeit sind, aber sich in den letzten Jahren auf Einigungskurs zu befinden schienen. Nun war es plötzlich die „linke“ CGIL, die zur römischen Demonstration aufrief (CGIL-Generalsekretär Landini: „Man kann Waffen nicht mit Waffen bekämpfen“), während die „moderatere“ CISL für die Teilnahme an der Demonstration in Florenz mobilisierte. Der Meinungsstreit geht auch durch die ANPI, die Organisation ehemaliger Partisanenkämpfer, die immer noch über einiges Ansehen verfügt. Obwohl sie angesichts ihrer eigenen Geschichte eigentlich auf der Seite des nationalen Befreiungskampfs stehen müsste (der in ihrem Fall bewaffnet war), kam es auf dem Kongress, den sie gerade abgehalten hat, darüber zu einer Auseinandersetzung, die unentschieden endete. Wobei die Auschwitz-Überlebende und heutige Ehrensenatorin Liliana Segre ein leidenschaftliches Plädoyer gegen die „Äquidistanz“ hielt, die sie den Gegnern von Waffenlieferungen gegenüber den Kontrahenten des Ukraine-Konflikts unterstellt (und dabei Art. 52 der Verfassung zitierte: „Die Verteidigung des Vaterlandes ist heilige Bürgerpflicht“).

Im Parlament spitzt sich die Auseinandersetzung auf die Frage zu, ob wegen der russischen Bedrohung der italienische Verteidigungshaushalt auf 2 %  erhöht werden solle, wie es jetzt die EU für alle Mitglieder empfiehlt. Conte, dessen Ansehen seit der Präsidentenwahl gesunken ist, möchte ein Stück Popularität dadurch zurückgewinnen, dass er nun verkündet, das nötige Geld sei eigentlich besser für soziale Zwecke auszugeben – ein Sinneswandel, der paradox erscheint, da er einer derartigen Erhöhung schon vor vier Jahren zugestimmt hatte (als er Italien noch mit der Lega regierte). Da er sich aber scheut, das Problem bis zum offenen Bruch mit Draghi auszureizen, scheint man hier nun auf einen Kompromiss zuzusteuern: eine „Abstufung“ der Erhöhung bis zum Jahr 2028.

Das Déjà-vu: Frankreich vor Hitlers Überfall auf Polen

Was gegenwärtig in Italien geschieht, dürfte Historikern Déjà-vu-Erlebnisse bescheren. Liest man noch einmal nach, was z. B. der französische Historiker Maurice Vaisse schon 1985 (in den Vierteljahrsheften des IfZ München) über den „Pazifismus und die Sicherheit Frankreichs 1930 – 1939“ schrieb, so stößt man trotz unterschiedlicher Rahmenbedingungen auf viele Analogien: die Erfahrung des Ersten Weltkriegs mit Millionen von Toten (in dem die traumatische Erfahrung des Gaskrieges ein Gegenstück zu der heutigen Angst vor einem Nuklearkrieg bildet); der Aufstieg Nazideutschlands, dessen wahre Absichten – Aufrüstung, Krieg, Revanche und imperiale Unterjochung – noch nicht erkannt waren; eine starke französische Friedensbewegung, in der es auch „Hitler-Versteher“ wegen der Versailler Verträge gab; der spanische Bürgerkrieg samt französischer „Nichteinmischung“; das Dilemma zwischen Abrüstung und Sicherheit, in das der Pazifismus durch den Aufstieg des Faschismus geraten ist. Und der sich daraufhin in eine ganze Palette unterschiedlicher Reaktionen zersplitterte, die von antizipierender Unterwerfung („Lieber Hitler als Krieg“) über Appeasement  (München), illusorische Hoffnungen auf eine internationale „Schiedsgerichtsbarkeit“ (damals verbunden mit dem Völkerbund, heute mit der Uno) bis zum Aufbau einer wirksamen Verteidigung reichte. Wobei schon damals langsam klar wurde, dass der pure Pazifismus, der sich von vornherein dem Angreifer unterwirft, schnell seine „Reinheit“ verliert, wenn er (ungewollt) zum Komplizen des Aggressors wird – die Nazipropaganda lernte schnell, sich auf „das Umfeld des (französischen) Pazifismus zu stützen“ (Vaisse). Erst als Deutschland Polen überfiel, setzte sich im September 1939 mit der französischen und englischen Kriegserklärung an Deutschland die Gegenposition durch. Den dahinter stehenden Lernprozess fasste der Schriftsteller Henri de Montherlant zusammen, als er damals im Pariser Ostbahnhof „Tausende von Männern mit Uniformmützen“ sah: „Es geht nicht darum, dass man bekennt, den Frieden zu lieben. Es geht darum, stark genug zu sein, dass man denen, die den Krieg wollen, den Frieden aufzwingen kann“. 

Das moralische Dilemma eines Pazifismus, der sich dieser Konsequenz zu verweigern sucht, bekommt eine weitere Dimension, wenn es ein anderes Land ist, das sich gegen eine Aggression zu wehren sucht und um Hilfe bittet. Die Verweigerung dieser Hilfe, die sich mit dem Willen zur Kohärenz mit der eigenen pazifistischen Gesinnung begründet, geht über den Beschluss zur eigenen Wehrlosigkeit gegen den Aggressor hinaus, denn nun spricht sie auch einem Dritten die Freiheit ab, sich anders zu entscheiden. Wenn der „linke Landini“, der Generalsekretär der CGIL, für die römische Demonstration dekretierte, dass „man Waffen nicht mit Waffen bekämpfen kann“, erweitert er die individuelle Freiheit, sich dem Aggressor auch unterwerfen zu können, zum allgemeingültigen Prinzip.

Was wäre aus Europa geworden, wenn 1939 Frankreich und England Deutschland nicht den Krieg erklärt hätten, nachdem Hitler Polen überfiel?

Das deutsche Dilemma: Wie hart dürfen die Sanktionen sein?

Das zweite Dilemma, das der Ukraine-Krieg Europa beschert, betrifft nicht die Lieferung von Waffen, sondern die Härte der wirtschaftlichen Sanktionen gegen Russland. Dies ist vor allem zu einem deutschen Problem geworden. Wirtschaftsminister Habeck, der sich eigentlich wohltuend von anderen Politikern durch die Fähigkeit zum Selbstzweifel abhebt, begründet die deutsche Zurückhaltung gegenüber noch schärferen Sanktionen mit der „Verantwortung“ für die deutsche Wirtschaft und Bevölkerung, die durch ein plötzliches Ausbleiben der russischen Gas- und Erdöllieferungen in die Krise gestürzt würden. Eine Rücksichtsnahme, deren Kehrseite der ukrainische Schriftsteller Markijan Kamys so zusammenfasste: „Die Ukraine wird methodisch in eine Mondlandschaft verwandelt, und zwar mit Bomben, die mit dem von Europa kassierten Geld finanziert werden“. Was Kamys hier Europa anlastet, meint in erster Linie Deutschland, das im europäischen Vergleich die höchste Abhängigkeit von den russischen Lieferungen aufweist – und deshalb nicht nur Gazprom am meisten zahlt, sondern der entschiedenste Gegner von Sanktionen ist, die diese Lieferungen in Gefahr bringen könnten. Zur Entlastung der heutigen deutschen Regierung wird gern darauf hingewiesen, dass die Entscheidungen, die zur deutschen Abhängigkeit von russischen Energielieferungen führten, sicherlich ein Fehler waren, aber schon vor Jahren gefällt wurden. Aber müsste eine heutige deutsche Regierung nicht auch für die Fehler früherer Regierungen „Verantwortung“ übernehmen? Und zwar gerade gegenüber dem Land, das nun am meisten unter den Konsequenzen dieses Fehlers zu leiden hat? Das Habecksche Argument bedeutet, dass die heutige deutsche Regierung das daraus für die Ukraine erwachsende Problem durch eine Zweiteilung zu bewältigen sucht: eine Verantwortung erster Klasse für das Wohlergehen der eigenen Wirtschaft und eigenen Bevölkerung, eine Verantwortung zweiter Klasse für das Schicksal eines anderen europäischen Landes, das vom Putinschen Russland nun sogar in seiner physischen Existenz bedroht wird. Durch einen Krieg, der auch mit Geldern aus Deutschland finanziert wird.