„Ich habe gelernt“

Nach der Wahl Contes an die Spitze der 5 Sterne erhält jetzt auch die PD eine neue Führung.

Enrico Letta wurde am vergangenen Sonntag auf der (digitalen) Wahlversammlung der PD mit 860 Ja-Stimmen, 2 Gegenstimmen und 4 Enthaltungen zum Generalsekretär (in Deutschland wäre es der Vorsitzende) der PD gewählt. Er tritt die Nachfolge von Nicola Zingaretti an, der nach parteiinternen Angriffen überraschend zurückgetreten war.

Wer ist der neue Leader der Sozialdemokraten?

Lettas politischer Werdegang begann in der Democrazia Cristiana, zu deren linksliberalem Flügel er gehörte, und trat dann in die Partei „La Margherita“ ein, die diese Tradition fortsetzte und 2007 gemeinsam mit einer KPI-Nachfolgepartei die PD gründete. Er war Minister in verschiedenen Regierungen und von April 2013 bis Februar 2014 Ministerpräsident einer Koalition, die aus der PD, Berlusconis FI und einigen Zentrumsparteien bestand. Seine Amtszeit war kurz, weil der frisch zum PD-Generalsekretär gekürte Matteo Renzi den Anspruch erhob, sofort auch Regierungschef zu werden, und dafür den (fast kompletten) Vorstand der PD hinter sich brachte. Nach diesem „kalten Putsch“ der eigenen Partei verlässt Letta die (partei)politische Arena. Aber nicht als gebrochener Mann, sondern indem er seinem Leben eine Orientierung gibt, die ihm neue Entwicklungsmöglichkeiten bringt. Er wird Dozent am renommierten Institut für politische Studien (grande école Sciences Po) in Paris, das die jungen politischen Eliten aus Europa und aller Welt ausbildet und wo er die Leitung der „Ècole d‘ affaires internationales“ übernimmt.

Die sieben Jahre, in denen er sich dieser Aufgabe mit großem Erfolg, Kompetenz und Leidenschaft widmet, hätten ihn „grundlegend verändert“, betont Letta immer wieder. Er habe von seinen Schülern, die aus vielen Ländern der Welt kommen, enorm viel gelernt, sagt er auch in der Rede, mit der er jetzt auf der Delegiertenversammlung seine Kandidatur begründete. Durch die Begegnungen und den Austausch mit ihnen habe er eine neue Perspektive und einen schärferen Blick auf die zentralen politischen Herausforderungen – national, europäisch und global – gewinnen können.

Schon vorher hatte sich Letta – auch auf europäischer und internationaler Ebene – hohes Ansehen erworben. Der frühere EU-Ratspräsident Van Rompuy schlug ihn seinerzeit als Nachfolger vor, und Merkel und Hollande hatten bereits Zustimmung signalisiert. Wer sich jedoch vehement dagegen stellte, war der Regierungschef seines eigenen Landes, Matteo Renzi („Nie akzeptiere ich Letta als Ratspräsidenten!“).

Während der sieben Jahre seiner Tätigkeit in der „École Sciences Po“ gewinnt Letta weitere Anerkennung und baut sich ein beachtliches Netz an internationalen Beziehungen auf, die es ihm ermöglichen, seinen Blick weit über den italienischen Tellerrand hinaus zu richten. Für die PD, die eher unter provinzieller Enge leidet, ein wichtiger Pluspunkt.

Von höchster Seite umworben

„Ho imparato“ („Ich habe gelernt“) betitelte Letta sein 2019 herausgegebene biographisches Buch. Dies bezieht sich auf seinen politischen Werdegang und (vor allem) auf die Arbeit mit seinen Schülern und die vielfältigen damit verbundenen Aktivitäten auf internationaler Ebene. Natürlich umfasst dies auch die Verarbeitung bitterer politischer Erfahrungen, beginnend mit der Verjagung aus dem Amt des Ministerpräsidenten durch die eigene Partei, angeführt von dem „demolition man“ Matteo Renzi. (Dies war für ihn „eine wahre Lektion fürs Leben, fast ein Segen“, schreibt Letta in seinem Buch).

Ein Lernprozess, der auch dann zum Ausdruck kommt, wenn er vor der Delegiertenversammlung erklärt, er sei „kein Anhänger von Einstimmigkeit, sondern von Wahrhaftigkeit“. Eine deutliche Botschaft. Denn unter denen, die ihn jetzt (fast) einstimmig zum Generalsekretär gewählt haben, sind auch diejenigen, die ihn 2014 als Regierungschef eiskalt stürzten. Es ist eine Anklage gegen die parteiinternen Fraktionskämpfe und Seilschaften, die nicht offen und transparent, sondern durch zerstörerische Machtspiele im Verborgenen ausgetragen werden und denen jetzt auch Zingaretti zum Opfer fiel.

Dass Letta kurz zögerte, bevor er sich auf die drängende Bitte vieler politischer Weggefährten hin zur Kandidatur bereit erklärte, ist angesichts solcher Erfahrungen und des derzeitigen Zustands der PD kein Wunder, zumal er seine Arbeit in Paris sehr geschätzt und geliebt hat. „Ich habe ein anderes Leben und einen anderen Beruf“, soll er zunächst abgewinkt haben. Aber das Zögern dauerte nur zwei Tage, dann kam sein „Io ci sono“ (ich bin dabei).

Was bzw. wer bewog ihn zum Umdenken? Er habe „die Politik und die Partei im Herzen“, erklärte er, und es ist ein Teil der Antwort. Es geschah sicherlich auch aus Pflicht- und Verantwortungsgefühl. Aber es gibt auch andere Faktoren, die vielleicht den Ausschlag gaben: Nicht nur viele prominente Parteifreunde, u. a. der EU-Wirtschaftskommissar Gentiloni, sondern auch höchste Repräsentanten des Staates wirkten auf ihn in diesem Sinne ein. Ministerpräsident Mario Draghi, zu dem Letta ein gutes persönliches Verhältnis hat (sie arbeiteten zur gleichen Zeit im Finanzministerium), soll ihn angerufen und gesagt haben, dass der „Gesundheitszustand“ der PD für den Zusammenhalt und die Stabilität seiner Regierung von höchster Bedeutung sei. Einige Kommentatoren meinen sogar Hinweise dafür zu haben, dass sich auch Staatspräsident Mattarella höchstpersönlich einschaltete (auch ihn verbinden mit Letta frühere gemeinsame politische Zeiten).

Lettas programmatische Rede

Letta scheint tatsächlich gelernt zu haben. Er stellte vor seiner Zustimmung klare Bedingungen: Er werde nur antreten, wenn er von einer soliden Mehrheit getragen wird und politisch eine reale Handlungsvollmacht bekommt. Beides braucht er auch dringend, wenn er die PD aus ihrer zersetzenden Selbstbeschäftigung heraus auf den Weg der Erneuerung führen will.

Sein Auftritt und seine programmatische Rede vor der Delegiertenversammlung waren entsprechend. Der früher zurückhaltende, fast schüchterne und etwas blass wirkende Letta präsentierte sich selbstbewusst und souverän. Und ambitioniert, was sowohl seine politische Agenda als auch die Erneuerung der Partei betrifft. Neben der vordringlichen Bekämpfung der Pandemie rückte er – mit Blick auf den anstehenden nationalen Recoveryplan – die Wende zu einer nachhaltigen Entwicklung ins Zentrum, die er in der Verbindung von „Umweltschutz und sozialer Gerechtigkeit“ sieht (was für ihn keine Floskel sein dürfte, da er sich damit auch bei der Arbeit mit seinen Schülern intensiv beschäftigt hat); Bildung, Kompetenzvermittlung und Arbeitsperspektiven vor allem für die jungen Generationen, Geschlechtergleichstellung und inklusive Teilhabe auch für Migranten (u. a. durch Einführung des jus soli) sind weitere Schwerpunkte. Er spricht sich für die Einführung eines sozial gerechteren – progressiven – Steuersystems und für eine effizientere Justiz aus, die mit ihrer Schwerfälligkeit eine der größte Hemmnisse für in- und ausländische Investitionen darstelle. „Wir werden progressiv in den Werten sein, reformerisch in der Methodik und radikal im Verhalten“, fasste Letta seine Leitlinien zusammen.

Nicht weniger anspruchsvoll sind seine Anforderungen an die Partei. Er sei selbst früher ein Mann der „Correnti“ (parteiinterne Fraktionen) gewesen, bekannte er, aber so könne „Politik nicht funktionieren“. Statt Bauchnabelschau und Machtkämpfe in Hinterzimmern zu betreiben, müsse sich die PD für Junge, Frauen und diejenigen öffnen, die sich vor Ort engagieren, und die Debatte um den politischen Kurs mit aller Transparenz führen. Hier teilt Letta den – lange vernachlässigten – dezentralen Parteistrukturen (den sog. „Stadtteil-Zirkeln“) wieder eine wichtige Rolle zu, die jetzt mit einer intensiven Diskussion über die von ihm vorgestellten Schwerpunkte beginnen soll.

Vor allem dürfe die PD keine Partei sein, die ihr Schicksal an der Regierungsmacht bindet. „Wir sind kein nationaler Rettungsdienst, wir stehen nicht unter dem Zwang, uns immer an der Regierung zu beteiligen, sonst werden wir zu einer Partei der Macht um jeden Preis, was unser Tod wäre “. Entscheidend sei, die Menschen für die eigenen politische Ziele zu gewinnen, aber auch bereit zu sein, das Risiko einer Niederlage einzugehen. „Nur wer keine Angst vor der Niederlage hat, kann gewinnen“ erklärte er.

Beginn einer neuen Phase für Mittelinks?

Dabei sei es unerlässlich, offen für Bündnisse zu sein, um ein „nuovo Centrosinistra“ aufzubauen, das eine reale Alternative zur Rechten bilde. Die PD müsse dazu „die Initiative und die Leadership“ ergreifen und dabei besonders die Zusammenarbeit mit der 5-Sternebewegung festigen. „Die Regierung Draghi ist unsere Regierung – aber es gibt auch eine Zeit danach“. Dass dafür ein Bündnis von PD und 5SB der entscheidende Faktor und „alternativlos“ ist, davon ist Letta schon seit Beginn der Conte2-Regierung überzeugt.

Für dieses Bündnis könnte mit den zwei neuen Leadern Giuseppe Conte und Enrico Letta auch eine neue Phase beginnen. Sie sind beide angetreten, um ihre jeweilige Partei aus der Krise zu führen, und scheinen in vielen grundlegenden politischen Fragen auf einer Linie zu sein. Auch persönlich ergänzen sie sich ganz gut: auf der einen Seite der leicht zugängliche und zugewandte Kommunikationsstil des selbsternannten „avvocato del popolo“ (Conte), auf der anderen die etwas distanzierte, ruhige und selbstbewusste Art des intellektuell und politisch erfahrenen Strategen (Letta).

Abschließende Bemerkung: Dass Renzi mit seinem selbst gepriesenen „machiavellistischen Meisterstück“ am Ende (unfreiwillig) ausgerechnet die zwei Akteure auf die politische Bühne zurückholte, für deren Sturz er damals und heute verantwortlich war (und die ihn auch deshalb gründlich kennen), klingt nach einer Ironie des Schicksals. Und könnte die wohl erdachten Pläne des „Verschrotters“ gehörig durcheinander bringen.