Gedanken beim Anblick eines Fotos
– von einem Geflüchteten, der an Land getragen wird
In Sachen Vergangenheitsbewältigung halten wir Deutschen uns für klasse. Im Vergleich zu anderen europäischen Völkern sogar für extraklasse – siehe vergleichsweise die Italiener, die glauben, mit der Erinnerung an zwei Jahre Resistenza zwanzig Jahre Faschismus zudecken zu können. Da waren wir beim Aufarbeiten doch gründlicher, oder? Zwar wissen wir, dass zur moralischen Reife auch Bescheidenheit gehört, aber zumindest im stillen Kämmerlein, wenn uns keiner sieht, gönnen wir uns einen kleinen Hintergedanken: Wir sind „besser“. Klar, wir mussten es erst werden. Aber heute sind wir es, eben wegen der Bewältigung. Es gibt da zwar auch bei uns wieder den braunen Flecken der AfD (samt Anhang), aber der hält sich im europäischen Vergleich doch in Grenzen, zumindest bisher.
Eine „Pietà“ …,
Vor wenigen Tagen wurde dieses Foto im Hafen von Malta aufgenommen. Ein junger syrischer Matrose trägt einen jungen Äthiopier, von dem man erfährt, dass er Borhan heißt, von Bord eines libanesischen Viehfrachters. Borhan ist zum Skelett abgemagert, der Frachter hat ihn und 41 weitere äthiopische und sudanesische Bootsflüchtlinge aus dem Mittelmeer gefischt. Als das übliche Gezerre begann – zunächst zwischen Italien und Malta um die „Zuständigkeit“, dann wegen der Weigerung der europäischen Staaten, die Flüchtlinge aufzunehmen –, ließen die maltesischen Behörden das Schiff drei Tage vor dem Hafen von La Valletta dümpeln, ohne die Anlandung der Geretteten zu genehmigen. Bis „aus medizinischen Gründen“ zwei junge Äthiopier an Land gelassen wurden. Das Foto zeigt, in welchem Zustand sich einer von beiden befand. Die Journalisten der „Repubblica“ fanden es so eindrucksvoll, dass sie es zur modernen „Pietà“ ernannten, zur Ikone des Leidens, des Mitleidens und hier auch des Helfens. Sie hatten professionelles Gespür, das Foto wurde in den folgenden Tagen hundertfach reproduziert. Als sich Malta drei Tage später bereit erklärte, auch den Rest der Gruppe aufzunehmen (weil es aus Europa die geforderten Garantien bekommen hatte), gab es erleichterte Kommentare, dass nun „die Humanität gesiegt“ habe. Dann war der Hype vorbei, die Medien wandten sich anderem zu.
Aber in dem Foto steckt mehr als nur der „humanitäre Moment“: die Schönheit, die wir in der Komposition von Leiden, Mitleid und brüderlicher Hilfe entdecken (der syrische Matrose, der Borhan trägt, hatte sich auf dem Frachter mit ihm angefreundet und nennt ihn, wie man hört, „Bruder“). Jeder Gerettete aus dem Mittelmeer weist heute auch auf die hin, die es nicht geschafft haben: auf Tausende, die auf ihrer Flucht aus Libyen ertrinken (2019 waren es nach offiziellen Statistiken 2900), auf Zehntausende, die von der libyschen Küstenwache wieder eingefangen und zwangsweise nach Libyen zurückgebracht werden (2019 waren es laut dem UNHCR 8200), und auf die Hunderttausenden, die immer noch in privaten und „staatlichen“ libyschen Lagern vegetieren.
… die auch eine Botschaft aus der Hölle ist
Das Foto ist deshalb auch eine Botschaft aus der Hölle. Borhan wurde in Libyen schwer gefoltert. Man hat ihm dabei ein Bein, aus dem noch die Knochen herausragen, zertrümmert, er wurde seitdem nicht operiert und ist zum Skelett abgemagert. Dass in den libyschen Lagern erpresst, versklavt, vergewaltigt, gefoltert und getötet wird, ist tausendfach dokumentiert.
Aber das Wort „Hölle“ ist auch irreführend. Die christliche Hölle ist Teil einer göttlichen Weltordnung, mit einem Jenseits, in dem eine Gerechtigkeit geübt wird, die es in dieser Welt nicht gibt. Die Hölle, aus der der junge Äthiopier entkam, ist kein Ort der Gerechtigkeit. Und sie wurde nur von Menschen geschaffen. Die libyschen Henkersknechte, die sie heute betreiben, handeln seit zwei Jahren auch im europäischen Auftrag, also in unserem Namen. Seit dem „Ausrutscher“ von 2015 verfolgt die EU die Strategie, die Migranten, die nach Europa wollen, schon im Vorfeld und noch außerhalb der europäischen Grenzen abzufangen. Angela Merkel schloss 2016 ein Abkommen mit dem türkischen Autokraten Erdogan, um die sog. Balkanroute stillzulegen. Die italienische Regierung wollte 2018 das Gleiche für die Route über das Mittelmeer erreichen, die von Libyen nach Italien führt. Da Libyen im Unterschied zur Türkei ein failed state ist, ließ sie sich hier auf ein noch schmutzigeres Geschäft ein: Sie begann die libysche Seite mit einer „Küstenwache“ auszustatten, deren Hauptaufgabe es ist, Bootsflüchtlinge abzufangen und in Lager zu verfrachten, in denen unmenschliche Zustände herrschen. Ihre abschreckende Wirkung wird (stillschweigend) billigend in Kauf genommen. Italien tat es nicht im Alleingang, sondern mit ausdrücklicher Billigung der restlichen europäischen Regierungen, auch der deutschen.
Es geschieht ja außerhalb Europas
Es könnte funktionieren. Denn so zynisch es klingt, versucht die europäische Politik damit gleich zwei Probleme anzugehen: Sie will Europa die Flüchtlinge vom Leib halten, aber auch das dahinter stehende moralische Problem bewältigen: Es ist immer unschön, jemandem, der um Hilfe bittet und dafür auch oft gute Gründe hat, diese Hilfe zu verweigern. Aber wenn es außerhalb der europäischen Grenzen geschieht, fällt es weniger in unsere Verantwortung. Es könnte fast scheinen, als ob es nicht geschieht. Und was nicht geschieht, kann uns auch nicht den Schlaf rauben.
Empathie kann sich nur für das entfalten, was nah und greifbar ist. Damit lässt sich die Verantwortung stückeln und klein arbeiten. Am besten wir erfahren gar nicht erst, was in den Lagern geschieht. Oder wir müssen zumindest wegschauen. Wenn dann Flüchtlinge wie Borhan das Tabu durchbrechen, indem sie durch ihr Erscheinen und körperliche Präsenz zum Zeugen der hässlichen Realität werden, die wir selbst mit erschaffen haben, aber verdrängen möchten, bleibt uns immer noch ein letzter Ausweg. Wir können uns von den Borhans zu Tränen rühren lassen und auf ihre sofortige Rettung drängen, wenn sie vor unserer Tür stehen. Und uns gerade damit gegenüber der Hölle panzern, aus der sie kommen und in der sich immer noch Zehntausende befinden, die für uns aber weiterhin anonym bleiben. Das funktioniert sogar auch dann, wenn wir wissen, dass es unsere eigene Regierung ist, die sie fürsorglich von uns fernhält und ihrem anonymen Schicksal überlässt. Wir müssen dann eben Borhan nur noch ein wenig fester umarmen. Und dabei die Augen schließen.
Sind wir Deutschen also „besser“? Ein wenig schon, ein Salvini hätte bei uns im Moment noch keine Chance. Aber wie die Italiener und das restliche Europa schließen wir die Augen davor, was in den libyschen Lagern und im Mittelmeer geschieht. Auch wenn solche Botschaften kommen wie die von Borhan.