Italien und das Merkelsche EU-Semester: vier Hausaufgaben für Conte

Vorbemerkung der Redaktion: Die Italiener dürften sich noch an die Forderung erinnern, dass Italien „erst einmal seine Hausaufgaben machen“ müsse, ehe es daran denken könne, Europa zu reformieren. Die darin steckende Arroganz weckte in den vergangenen Jahren Empfindlichkeiten, die den italienischen Rechtspopulisten von Berlusconi bis Salvini Auftrieb gaben (vor allem wenn die Aufforderung von deutscher Seite kam). Der folgende Artikel, den Carlo Bastasin am 30. Juni in der „Repubblica“ veröffentlichte, wagt es, wieder von „Hausaufgaben“ zu sprechen, aber mit einem veränderten Zungenschlag. Auch Bastasin nennt die alte Forderung „pervers“, hebt aber den „Paradigemenwechsel“ hervor, der hier in Deutschland stattgefunden habe (was aber in Italien immer noch zu wenig zur Kenntnis genommen wird).  Er verweist aber auch auf die Mitverantwortung, welche gerade deshalb dem gegenwärtigen Regierungsbündnis für die weitere Entwicklung Europas zuwächst.

Der Wirtschaftswissenschaftler Carlo Bastasin ist Redakteur der Wirtschaftszeitung „Sole 24 Ore“ mit den Spezialgebieten Europa, Deutschland, Italien, und Senior Fellow der LUISS-Schule für europäische politische Ökonomie und des amerikanischen think tanks Brookings Institution. Er schrieb verschiedene Bücher, u. a. „Saving Europe – how national governments nearly destroyed the Euro“ (2012). Wir übersetzen den Artikel ungekürzt.

Carlo Bastasin

„Am Abend des 18. März liefen über die europäischen Bildschirme die schockierenden Fotos der Militärlaster, die die Särge der Virus-Opfer durch Bergamo transportierten. Kurze Zeit später wandte sich Angela Merkel an die Deutschen mit der Aufforderung, sich bei dem, was sie die ’schlimmste Krise der Nachkriegszeit‘ nannte, solidarisch zu zeigen. Dass Italien sowohl aus humanitären wie auch aus ökonomischen Gründen eine besondere Rolle in der deutschen Agenda spielt, weiß jeder, der die Brüsseler Verhandlungen über die Wiederaufbaufonds aus der Nähe verfolgt. Fast alles dreht sich um Italien, vom Zweifel an dessen Fähigkeiten bis zur Gewissheit seines Bedarfs.

Vor der Pandemie beschränkten sich die Ambitionen der jetzt beginnenden deutschen EU-Präsidentschaft darauf, Ursula von der Leyen zu unterstützen. Heute ist alles anders. Die deutsche Presse spricht von ’schicksalhaften‘ Herausforderungen, aber auch von einem ‚Paradigmenwechsel‘: ein Europa, das gemeinsam Schulden aufnimmt und Geld verschenkt, die befürchtete Transfer-Union. Ein Berater der Kanzlerin, der wie sie in der DDR aufwuchs, spricht darüber wie über eine ‚hegelsche Phase‘: Gegen die alten Grundsätze sind wir heute in der Phase der Antithese, nun muss eine Synthese gefunden werden.

Es ist in der Tat noch lange nicht gesagt, dass eine solidarische Antwort auf die Pandemie-Krise die nachhaltige Weiterentwicklung der europäischen Politik bedeutet. Es könnte eine ‚Ausnahme-Antwort auf ein Ausnahme-Ereignis‘ bleiben, um die Worte der Kanzlerin im Bundestag zu zitieren, oder aber ein institutionelles Wachstum der Europäischen Union bedeuten, die sich von nun an eigene Instrumente schafft, um den Herausforderungen zu begegnen, die noch vor den gemeinsamen Interessen der Staaten die gemeinsamen Interessen der Bürger berücksichtigen. Die Auflösung dieser Ambivalenz – Veränderung als Episode oder als historische Evolution – wird über die europäische Zukunft entscheiden. Zum großen Teil hängt es von der italienischen Fähigkeit ab, die Ressourcen gut zu nutzen, wie sie jetzt von den „Wiederaufbaufonds“ noch nie in solchem Umfang bereitgestellt wurden, ob die mit der Pandemie verbundene Initiative ein permanentes Instrument zur Unterstützung der Integration Europas und seiner globalen Rolle wird.

Nichts Geringeres als diese Verantwortung lastet heute auf den Schultern der italienischen Politik. Gegenüber Italien wird nicht mehr das moralische Vorurteil vorgebracht, das die Eurokrise charakterisierte. Aber manchmal kann man den Eindruck haben, dass wir alles tun, um solche Vorurteile wieder wachzurufen. Dies geschieht, wenn der Ministerpräsident im Hinblick auf den ESM (Europäischer Stabilitäts-Mechanismus, A.d.R.), mit dem sich Italien von anderen Ländern Anleihen zu günstigen Zinsen beschaffen kann, schleunigst antwortete: ‚Wer hier Haushaltspläne macht, das bin ich‘. Oder als er mitten in den Verhandlungen über die Beziehung zwischen europäischen Investitionen und nationalen Reformen vorschlug, die Mehrwertsteuer zu senken. Bis jetzt sind die Vorurteile noch nicht, wie 2011, zum Hindernis für neue Vereinbarungen geworden, aber sie werden doch wieder in der Penibilität sichtbar, mit der die deutsche Präsidentschaft Dossiers erarbeitet, welche die Fondsvergabe begleiten werden. Je größer die Skepsis ist, desto penibler wird die Gesetzgebung der Länder kontrolliert werden, denen geholfen werden soll.

Es sind zumindest vier Dinge, welche die italienische Regierung sofort machen könnte: Sie könnte die Entscheidung über den ESM vorziehen, statt sie zu verschieben; sie könnte bereits in den nächsten Wochen die Aktualisierung des DEF (Eckpunktepapier über den nächsten Haushalt, A.d.R.) fertigstellen und den neuen Haushaltsentwurf noch vor dem September vorlegen. Sie könnte ferner –  wie von uns (Bastasins Zeitung ‚Sole 24 Ore‘, A.d.R.) seit Monaten gefordert – den nationalen Reformplan vorstellen, der entsprechend den spezifischen Empfehlungen der Europäischen Kommision vom 20. Mai zu überarbeiten wäre. Schließlich müsste sie vermeiden, den Italienern vor den Regionalwahlen (im Herbst, A.d.R.) nur die Hilfen aus den Fonds und erst nach den Wahlen auch ihre politischen Kosten zu präsentieren. Politische Ehrlichkeit wird sich auf die Verhandlungen über die Zukunft Europas auswirken.

Im Übrigen gehen die europäischen Verhandlungen über die Wiederaufbaufonds hinaus und betreffen auch andere Baustellen der Währungsunion: die Zukunft des Stabilitätspakts und die Banken- und Kapitalunion. Wenn Italien die gemeinsamen Ressourcen zu nutzen weiß, dann wird es auch gelingen, die europäische Wirtschafts-Governance mit viel mehr Energie und Ambition anzugehen, als es früher der Fall war. Man wird dann – ohne Vorurteile – den perversen Mechanismus durchbrechen können, nach dem auf europäischer Ebene eine gemeinsame Risikoverantwortung erst dann möglich sein  soll, wenn die Risiken auf nationaler Ebene auf Null reduziert sind.

Es ist unerlässlich, die geopolitische Rolle Europas weiterzuenwickeln, und in Berlin hat man verstanden, dass dies nur möglich ist, wenn die Währungsunion nicht im Zustand permanenter Fragilität verbleibt. Die Länder, die zur Eurozone gehören, müssen stärker und integrierter sein. Die interne und internationale politische Lage unterstützen den Kurs der Kanzlerin. Der geopolitische Horizont ist voll bedrohlicher Unwetter, die aus allen Richtungen kommen und Europa drängen, stärker zu werden. Was die innenpolitische Situation betrifft, hat Merkels Partei – zum ersten Mal nach Jahren – wieder die 40%-Marke überschritten. Mit 45%  hätte sie die absolute Mehrheit im Parlament. Eine Entwicklung, die sich noch vor drei Jahren niemand hätte vorstellen können, als Merkel die Europäer zum ersten Mal aufforderte, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen.“