600 Bürgermeister als Personenschutz

Liliana Segre ist eine Dame von 89 Jahren, die Ruhe, Würde und Intelligenz ausstrahlt. Sie ist in Italien eine der am häufigsten im Netz (und nicht nur dort) attackierten Personen obwohl sie selbst weder einen Twitter-Account hat noch auf Facebook präsent ist. Dennoch wird sie tagtäglich auf widerwärtige und menschenverachtende Weise beleidigt und bedroht.

Liliana Segre ist Jüdin. Sie war 13 Jahre alt, als sie zuerst von der Schule ausgeschlossen, dann verhaftet und schließlich nach Auschwitz deportiert wurde. Die Flucht in die Schweiz mit ihrem Vater (die Mutter starb, als sie ein Jahr alt war) scheiterte, weil die schweizerischen Grenzbehörden sie abwiesen. Liliana, die in Auschwitz viermal die sogenannte „Selektion“ durchlitt und als Zwangsarbeiterin in einer Siemens-Munitionsfabrik eingesetzt wurde, musste Ende Januar 1945 im Zuge der Evakuierung des Konzentrationslagers den „Todesmarsch“ nach Deutschland antreten, bis sie im KZ Malchow interniert und schließlich im April 1945 von der Roten Armee befreit wurde.

Seit vielen Jahren ist Segre als Zeitzeugin der Shoah unermüdlich aktiv: in Schulen, Universitäten, durch Dokumentarfilme und Veröffentlichungen. In der ihr eigenen ruhigen, fast nüchternen Art, die umso intensiver wirkt, berichtet sie über die Hölle, die sie – noch ein Kind, vom Vater sofort getrennt und völlig allein – durchlebt hat. Sie berichtet über das Grauen und deren bestialische Vollstrecker, aber auch über die Momente der Nähe, des Trostes durch Mitgefangene, die manchmal auch Kinder wie sie waren. Das Teilen einer Karotte, eine zarte Berührung, ein Wort.

Segres Initiative gegen Rassismus, Antisemitismus und hate speech

Im Januar 2018 – zum achtzigsten Jahrestag der Einführung der Rassengesetze durch die italienischen Faschisten – ernannte Staatspräsident Mattarella Frau Segre zur Ehrensenatorin auf Lebenszeit, „da sie durch ihre außerordentliche Verdienste im sozialen Bereich dem Vaterland Ehre gemacht hat“.

"Der Personenschutz sind wir!"

„Der Personenschutz sind wir!“

Als Senatorin legte Segre von Anfang an den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit auf die Themen Demokratie, Antirassismus, Gleichberechtigung und Schutz von Minderheiten. Sie war die Initiatorin eines Antrags zur Einrichtung eines Sonderausschusses „zur Bekämpfung von Rassismus, Antisemitismus und der Anstiftung zu Hass und Gewalt“, der Ende Oktober vom Senat beschlossen wurde. „In den letzten Jahren ist eine wachsende Spirale von Phänomenen des Hasses, der Intoleranz, des Rassismus und Antisemitismus festzustellen, die sich gegen Einzelne und ganze Gruppen richten und sich insbesondere über neue Kommunikationsmedien im Netz kapillar verbreiten“, heißt es in dem Antrag. Diese Entwicklung stelle eine Gefahr für die Demokratie und das zivile Zusammenleben dar. Mit der Einrichtung der Sonderkommission trage der Senat auch der „No hate parlamentary alliance“ des Europarates Rechnung, die das Ziel hat, national wie international die Anstiftung zum Hass in all seinen Formen zu verhindern, insbesondere auch die sogenannte „hate speech“.

Die Rechte enthält sich – und bleibt sitzen

Segres Antrag wurde im Senat mit 151 Ja-Stimmen (von Partito Democratico, 5-Sterne-Bewegung, Liberi e Uguali, Autonomie) und 98 Enthaltungen (von Salvinis Lega, Melonis Fratelli d‘ Italia und Berlusconis Forza Italia) mehrheitlich beschlossen. Die gesamte Rechte blieb auf den Sesseln kleben, während die anderen Senatoren aufstanden und Liliana Segre – der Auschwitzüberlebenden, Initiatorin und designierten Ausschussvorsitzenden – applaudierten.

Für die Lega und FdI, die mit den faschistischen Schlägern von Forza Nuova und Casa Pound gut befreundet sind und selbst gegen Migranten und ethnische Minderheiten hetzen, ist ein solches Verhalten – leider – konsequent. Dass aber auch Berlusconis Forza Italia – die Mitglied der Europäischen Volkspartei und eine „Schwesterpartei“ der CDU/CSU ist – einem Antrag zur Bekämpfung von Antisemitismus und Rassismus ihre Stimme verweigert und unfähig ist, sich vor einer Auschwitzüberlebenden zu erheben, ist keine Lappalie, sondern ein Einschnitt von Tragweite.

Berlusconis Begründung: „Wir sind für die Einrichtung eines solchen Sonderausschusses und hatten selbst einen Antrag gegen Antisemitismus und Rassismus eingebracht“ – schrieb er in einem Brief an die Zeitung „Il Giornale“ (die seinem Bruder gehört) – „aber der Antrag der Regierungsmehrheit enthielt technisch-juristische Fehler mit gefährlichen Folgen, weil er die Einführung neuer Meinungsdelikte vorsieht, was für uns Liberale unakzeptabel ist“.

Vielsagende Begründungen

Moment. Antisemitismus, Rassismus, Anstiftung zu Hass und Gewalt sind „neue Meinungsdelikte“? Sind deren Ächtung und Bekämpfung nicht ein wesentlicher Bestandteil der italienischen Verfassung und vieler Gesetze? Genau darauf nimmt der von Segre eingebrachte Beschlussantrag Bezug: „Der Sonderausschuss hat die Aufgaben, Phänomene von Intoleranz, Rassismus, Antisemitismus und Anstiftung zu Hass und Gewalt zu beobachten, zu erforschen und zu kontrollieren, die sich gegen Personen oder gesellschaftliche Gruppen aufgrund ihrer Ethnie, Religion, Herkunft, sexuellen Orientierung und Identität oder besonderen physischen bzw. psychischen Merkmale richten. Der Ausschuss soll die konkrete Umsetzung internationaler Vereinbarungen und nationaler Gesetze in diesem Bereich überprüfen und steuern“.

Hinter den verkorksten Rechtfertigungsversuchen Berlusconis und anderer FI-Vertreter steht in Wahrheit ihr endgültiger Kotau vor der souveränistischen Ultrarechten, die sich in den Verfassungswerten und in dem demokratischen Spektrum, die sie vertritt, nicht wiedererkennt. Von den anderen Mitgliedern der EVP – einschließlich der CDU/CSU – war übrigens kein Wort der Kritik am Abstimmungsverhalten ihrer „italienischen Parteifreunde“ und an deren Affront gegenüber einer Ehrensenatorin und Holocaust-Überlebenden zu hören.

Salvinis und Melonis „Begründungen“ sind naturgemäß offener als die von FI (in der immerhin auch einige scharfe Kritik an der Entscheidung ihrer Partei übten). Salvini erklärte, in dem Antrag werde „etwas als Rassismus vorgegaukelt, was für uns eine Überzeugung ist, nämlich ‚Italiener zuerst!’“. Ein Bekenntnis zur Diskriminierung, die im direkten Widerspruch zu Art. 3 der Verfassung steht: „Alle Bürger haben gleiche soziale Würde und sind vor dem Gesetz gleich, unabhängig von Geschlecht, Rasse, Sprache, Religion, politischer Meinungen und persönlichen wie sozialen Lebensumständen“. Meloni und FdI sprachen von „politischer Zensur gegenüber denjenigen, die sich nicht ‚politisch korrekt‘ verhalten“. Also Freibrief nach dem Motto „Man wird das wohl mal sagen (und ggf. tun) dürfen“. Nein, wird man nicht. Denn Verfassung, Gesetze und internationale Vereinbarungen sind nicht „politisch korrekte Meinungen“, sondern die Grundlage des demokratischen Rechtsstaates, bindend für alle Institutionen und Bürgerinnen und Bürger.

Anmerkung am Rande: Segre berichtet, Meloni habe sie angerufen und gesagt: „Wissen Sie, wir haben uns enthalten, weil wir für den Schutz der Familie sind’“ (so die Chefin einer postfaschistischen Partei zu einer Frau, deren Familie von den Nazis beinah vollständig vernichtet wurde). Segre blieb ruhig: „Ich habe ihr nur geantwortet: ‚Cara Signora, das bin ich auch, bin selbst mit meinem Mann seit über 60 Jahren verheiratet. Aber sagen Sie mir bitte, was hat das mit einem Ausschuss zur Bekämpfung von Hass und Rassismus zu tun?“. Eine Frage, die Meloni überforderte.

Auschwitzüberlebende unter Personenschutz

Nach dem Senatsbeschluss häuften sich, noch mehr als sonst, wüste Beleidigungen und Drohungen gegen Liliana Segre. Als Jüdin, als Frau, als alter Mensch. Der Präfekt von Mailand ordnete daraufhin einen ständigen Personenschutz für die Senatorin an. „Es ist eine Schande für Italien, dass eine Auschwitzüberlebende unter Personenschutz gestellt werden muss“, so Vertreter jüdischer Organisationen, des Partisanenverbandes und mehrerer Parteien. Salvini nur achselzuckend: „Ich bekomme doch auch Drohungen!“.

Aber es häufen sich auch die Solidaritätsbekundungen mit Segre und ihre öffentlichen Ehrungen. Viele italienische Kommunen – u. a. Triest, Ivrea, Ferrara, Firenze, Bologna, Genova, Pescara und Palermo – ernannten sie zur Ehrenbürgerin. In Mailand, wo Segre wohnt, versammelten sich ca. 5000 Bürger im Bahnhof am Gleis 21, wo der Zug abfuhr, der sie und andere nach Auschwitz deportiert hatte. Mitte Dezember demonstrierten auf Initiative der Stadtoberhäupter von Mailand und Pesaro 600 Bürgermeisterinnen und Bürgermeister. Sie nahmen Segre in ihre Mitte und riefen „Der Personenschutz sind wir!“. Tausende von Mailändern begleiteten den Zug.

Das sind starke und eindrucksvolle Signale. Es bleibt aber die bittere – und beunruhigende – Feststellung, dass in Italien eine „moderate“ Rechte nicht existiert. Berlusconi hatte dafür schon vorher ganze Arbeit geleistet und ist nun endgültig zum Büttel der Rechtsradikalen geworden.