Hasardeure

„Wir haben die Armut abgeschafft!“ rief Di Maio (5-Sterne-Bewegung), Vizepremier und Minister für Soziales und Wirtschaftliche Entwicklung, am vergangenen Donnerstag vom Balkon des Regierungssitzes seinen herbeigetwitterten fahnenschwenkenden Anhängern zu. Seine Minister standen hinter ihm, die Finger zum Siegeszeichen gespreizt. Die Armut, von der über 9 Millionen in Italien betroffen sind, von einem Tag auf den anderen abgeschafft? Donnerwetter!

„Wohltaten“ auf Pump

Am 27. September beschloss die Regierung das „Dokument zu Wirtschaft und Finanzen/DEF“, das die zentralen Eckpunkte des Haushaltsgesetzes enthält, das im Oktober dem Parlament vorgelegt werden muss. Ein Eckpunkt ist die Bereitstellung von 10 Milliarden für das von der 5SB versprochene „Bürgergeld“ (eine Art „Hartz IV“ für Arbeitslose). Dass dadurch „die Armut abgeschafft“ wird, ist natürlich Unsinn. Über 5 Millionen Menschen leben in Italien laut Statistik in „absoluter“ und über 9 Millionen in „relativer Armut“. Mit den vorgesehenen 10 Milliarden würden ca. 2,5 Millionen eine Unterstützung erhalten.

Wenn überhaupt. Denn ein Teil der Summe geht in die Einrichtung von Jobagenturen, die für die Abwicklung der Unterstützung zuständig sind und die es – anders als in Deutschland – bisher nur an wenigen Standorten gibt. Wie lange das dauert, weiß keiner. Doch Di Maio jubiliert, damit sei in Italien „die Armut abgeschafft“. Allerdings nur für „echte Italiener“. Die im Land legal lebenden Zuwanderer, auch die aus anderen EU-Ländern kommenden, werden keine Unterstützung erhalten, obwohl sie überdurchschnittlich von Armut betroffen sind. Wieder eine Apartheid-Maßnahme, die sowohl die eigene Verfassung als auch das EU-Recht verletzt.

Ca. weitere 10 Milliarden sind für die Steckenpferde der Lega reserviert: die Rücknahme der Rentenreform und die Einführung einer „Flat tax“ (allerdings nur für kleine Unternehmen und Selbstständige). Mit weiteren Vorhaben kommt man auf Mehrausgaben von ca. 40 Milliarden. Woher sollen sie angesichts der monströsen und stetig anwachsenden Staatsverschuldung kommen?

Das ist auch die Frage, die Finanzminister Tria stellte. Er meinte, der Anstieg des Defizits dürfe die – mit der EU bereits vereinbarte – Grenze von 1,6% nicht überschreiten. Eine stärkere Erhöhung würde die wirtschaftliche Stabilität des Landes ernsthaft gefährden und sei unverantwortlich.

Russisches Roulette um die Zukunft des Landes

Doch die Zukunft des Landes ist nicht Di Maios und Salvinis Sorge. Sie wollen die eigenen Wähler mit populistischen Versprechungen bei Laune halten und neue gewinnen. Das gilt besonders für die 5SB, die wegen des rabiaten – und leider erfolgreichen – fremdenfeindlichen Kurses Salvinis gegenüber der Lega an Zustimmung verliert.

Also blieben die Appelle des Finanzministers nicht nur ungehört, sondern führten dazu, dass er massiv unter Beschuss geriet, vor allem seitens der 5SB. Ihm und seinen Mitarbeitern wurde vorgeworfen, die Arbeit der Regierung „ zu sabotieren“. In einem Gespräch mit Journalisten drohte der einflussreiche Regierungssprecher Casalino gar, man werde an den Beamten des Ministeriums, die sich quer stellen, „massiv Rache nehmen“ („Diese A… sollen gehorchen – oder wir schmeißen sie raus!“).

Ähnlich Di Maio: „Ich verlange, dass das Finanzministerium das Geld findet, damit wir unsere Versprechen erfüllen können!“ Dass die Frage der finanziellen Deckung politischer Vorhaben Angelegenheit der gesamten Regierung – also auch seine – ist, kommt ihm nicht in den Sinn. Stattdessen: „Hören wir damit auf, immer nur an kleine Zahlen zu denken! Denken wir lieber an die Bürger!“.

Kleine Zahlen? Der italienische Schuldenberg ist auf die unvorstellbare Summe von 2.342 Milliarden angewachsen, er erhöht sich pro Minute um weitere 70.000 Euro, pro Stunde um über 4 Millionen. Allein die Schuldenzinsen betragen 65 Milliarden jährlich. Doch der Herr Minister meint, man bräuchte zur Finanzierung der Regierungsprojekte nur „ein wenig aus dem Defizit schöpfen“. Und wie schöpft man Geld aus einem riesigen Geldloch? Indem man einfach das Loch noch größer macht.

Di Maio und Salvini haben sich durchgesetzt. Ministerpräsident Conte, ohnehin nur Vollstrecker des Willens seiner beiden Vizen, segnete den Schuldenkurs ab. Finanzminister Tria kapitulierte (und trat nur deshalb nicht von seinem Amt zurück, weil ihn Staatspräsident Mattarella zu bleiben bat). Zur Finanzierung der Regierungsvorhaben soll das Defizit statt auf die vorgesehenen 1,6% auf 2,4% erhöht werden. 27 von den nötigen 40 Milliarden werden auf Pump „beschafft“. Ein paar weitere sollen durch (bisher nicht spezifizierte) Kürzungen und eine Amnestie für Steuerhinterzieher zusammenkommen, die von der Regierung mit dem schönen Namen „pace fiscale“ getauft wurde. Wie schon von der Berlusconi-Regierung mehrfach praktiziert, dürfen die Steuerbetrüger sich durch die Zahlung eines Teilbetrages freikaufen. Um einer kurzfristigen Einnahme willen schafft der Staat den Anreiz, mit dem Hinterziehen von Steuern fortzufahren.

Auf Frontalkurs gegen Europa

Nach der Bekanntgabe des Beschlusses zur Erhöhung des Defizits ist der Spread – Abstand der Zinsen, die der italienische Staat zahlen muss, um seine Staatsanleihen loszuwerden, zu den Zinsen, die der deutsche Staat zahlt, und ein Indikator für das Vertrauen in die italienische Wirtschaft – inzwischen auf über 300 Punkte angestiegen, die Mailänder Börse schloss mit einem Einbruch von 3,7% ab.

Zunächst hielt sich die EU-Kommission mit negativen Bewertungen zurück und beschränkte sich darauf, „Sorge“ um die Stabilität des Landes (und damit auch der EU) zum Ausdruck zu bringen. Doch schon auf dem Treffen der Finanzminister der Euro-Zone am vergangenen Montag wurden die Töne schärfer. Kommissionspräsident Juncker warnte, ein Nachgeben gegenüber Italien könnte zu einem Präzedenzfall werden, der die Existenz der Euro gefährdet. Ähnlich kritisch äußerten sich der EU-Wirtschaftskommissar Moscovici und andere EU-Vertreter.

Bis Dezember wird die EU-Kommission offiziell Stellung zu dem dann verabschiedeten Haushalt nehmen. Es ist abzusehen, dass sie eine solche drastische Erhöhung des Defizits im bereits hochverschuldeten Italien ablehnt, der Konflikt mit der italienischen Regierung wird sich weiter zuspitzen. Einige Kommentatoren meinen, das sei genau das, was Di Maio und vor allem Salvini wollen. Denn damit hätten sie die „Schuldigen“ für das Scheitern ihres großartigen Pumpprogramms gefunden. Erst sollten es der eigene Finanzminister und seine Mitarbeiter sein, nun werden es die EU, „die Märkte“ und – nicht zu vergessen – „die Merkel“ sein. Dahinter stehe das wirkliche Ziel: Austritt aus dem Euro und aus der EU. Schon jetzt wirft Di Maio der EU-Kommission vor, mit „Markt-Terrorismus“ das Vertrauen in die italienische Wirtschaft zerstören zu wollen.

Ob der Italexit wirklich der „strategische Plan“ von Lega und 5SB ist, bleibt Spekulation. Sicher ist, dass beide Parteien ein „Nein“ der EU zu ihrem Kurs ohne jede Hemmung zur Munition für ihren antieuropäischen Wahlkampf im nächsten Jahr machen werden. Mit guten Aussichten (vor allem für die Lega) auf einen fetten Wahlsieg, der es ihnen ermöglicht, Europa auch von innen weiter zu destabilisieren.

Opposition: Und sie bewegt sich doch

Die Opposition aus dem linken Lager, von der sozialdemokratischen PD bis zu den kleineren Splitterparteien, haben den Regierungsbeschluss scharf kritisiert: Er enthalte keine nennenswerten arbeitsmarktpolitischen Ansätze, sondern setze vor allem auf „Fürsorgeinstrumente“, auf Belohnung von Steuerhinterziehern und eine Renten- und Schuldenpolitik, die zu Lasten der jungen Generationen geht.

Vor zwei Tagen fand in Rom eine von der PD veranstaltete Kundgebung statt, die sich sowohl gegen die fremdenfeindliche Flüchtlings- und Zuwanderungspolitik der Regierung als auch gegen deren neuesten Haushaltsbeschlüsse richtete. Sie war – zur Überraschung vieler, wohl auch der Organisatoren selbst – ein Erfolg: Ca. 70.000 Menschen versammelten sich auf der Piazza del Popolo in Rom (unter ihnen viele Jugendliche), um der rechtspopulistischen Koalition von Lega und 5SB ihr „Nein“ entgegenzusetzen. Von ihren zerstrittenen Parteiführern forderten sie immer wieder lautstark: „Unità! Unità! Unità!“. Möge der Ruf die Ohren, Köpfe und Herzen derer erreichen, an die er gerichtet war. Es wäre ein erster Schritt.

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