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Die beiden Kammerpräsidenten

Die beiden Kammerpräsidenten

Renzi hat es geschafft: Fast alle laufen ihm in diesen Wochen davon. Zumindest die, die noch einen eigenen Kopf haben. Erst Prodi, der Übervater und frühere Ministerpräsident, den Renzi aus der Beraterrolle wegbiss. Dann Intellektuelle wie Gad Lerner. Dann Pietro Grasso, der Senatspräsident, der sich mit den Worten verabschiedete: „Ich weiß nicht, ob ich aus der PD ausgetreten bin, oder ob es nicht eher die PD ist, die nach Bersani weggetreten ist“. Nun auch Laura Boldrini, die Präsidentin der Abgeordnetenkammer. Was die Abschiede von Grasso und Boldrini bedeutsam macht, zeigt eine Besonderheit ihrer politischen Karriere: Sie kandidierten beide 2013 als Parteilose auf zwei Bündnislisten. Dass sie zu den neuen Kammerpräsidenten gewählt wurden, signalisierte die Öffnung der neuen Mehrheit Richtung Zivilgesellschaft: Grasso war vorher ein bekannter Staatsanwalt gegen die Mafia, Boldrini eine Sprecherin des UNHCR, die als Menschenrechtsaktivistin mit den NGOs zusammenarbeitete. Dass jetzt beide auf Distanz zur PD gehen, bedeutet, dass wichtige Kontakte von der Partei zur Zivilgesellschaft wieder abreißen.

(Dass Laura Boldrini während ihrer Zeit als Parlamentspräsidentin zum Hassobjekt der 5-Sterne-Bewegung wurde, ehrt sie zusätzlich. Für Grillo können Organe der repräsentativen Demokratie nur morsch und korrupt sein. Boldrini, die nicht in dieses Schema passt, musste er desavouieren. Also fragte er im Blog: „Was tätet ihr, wenn ihr euch mit der Boldrini allein im Auto wiederfändet?“ Es sollte sie zermürben, die Vorschläge kamen zahlreich. Aber sie hielt stand).

Pisapias Projekt

Trotz ihrer Vergangenheit als linke Menschenrechtsaktivistin ist Boldrini keine Sektiererin. In den letzten Monaten schloss sie sich Pisapias „Campo Progressista“ an, das den Zerfall von Mittelinks aufhalten will: eine Sammlungsbewegung, sozial, ökologisch, feministisch und in der Migrationsfrage humanitär. Und die sich an den nächsten Wahlen beteiligt (s. „Pisapias kleines Manifest“), um der PD ein Regierungsbündnis anzubieten, deren Perspektive sonst nur (wenn überhaupt!) Berlusconi sein könnte.

Es ist vor allem das angestrebte Bündnis mit der PD, das der Initiative Pisapias Bodenhaftung gibt und von der Neugründung einer linken „Bekenntnispartei“ unterscheidet (die es schon zuhauf gibt, sie wäre nur eine mehr). Die Perspektive ist keine „Partei der richtigen Meinung“, sondern die Populisten an der Machtübernahme zu hindern. Das Bündnis mit der PD ist aber auch der fragile Punkt dieser Initiative, denn es hat drei starke Voraussetzungen: Erstens muss die Sammlungsbewegung stark genug werden, um für ein solches Bündnis relevant zu sein. Zweitens muss der (sektiererische) Teil der Linken, der seinen politischen Hauptfeind in Renzi sieht, von der Initiative so weit wie möglich ferngehalten werden. Und drittens muss Renzi selbst mitspielen, d. h. auf wichtigen Gebieten seine bisherige Politik ändern. Und dabei vielleicht auch – noch schwerer! – seine eigene Person in Frage stellen, z. B. bei der Frage, wer der Kandidat für den nächsten Ministerpräsidenten sein soll.

Mission impossible?

In den letzten Monaten konnte man oft genug den Eindruck gewinnen, dass es eine mission impossible ist. Weil mit ihm nicht nur eine allzu doktrinäre Linke, sondern – vor allem – auch Renzi überfordert ist. Nach der Wahlniederlage in Sizilien hatte er Fernsehauftritte, in denen keine Spur von Reflexivität zu entdecken war. Wegen des angestrebten Bündnisses mit ihm wurde Pisapias Campo Progressista zum Seismographen für den Zustand, in dem sich das Mittelinks-Lager überhaupt befindet.

Als der Campo am vergangenen Sonntag eine nationale Convention abhielt, um das weitere Vorgehen zu beraten, hatte Laura Boldrini ihren Auftritt, bei dem sie mit Leidenschaft die politischen Grundabsichten des Campo darlegte. Um dann festzustellen, was der Initiative eigentlich den Boden entzog: „So wie die Dinge jetzt liegen, angesichts der (bei Renzi, HH) nicht vorhandenen Bereitschaft zum Kurswechsel, scheinen die Voraussetzungen für ein Bündnis mit der PD leider nicht mehr zu bestehen.“ Ein Verdikt, dem das zweimal wiederholte „leider“ die Leichtfertigkeit nahm. Es bedeutete nichts Geringeres als das Ende jeder Hoffnung, die politische Selbstzerstörung von Mittelinks vor der Wahl aufzuhalten.

Der Beifall der Versammlung zeigte, dass ihr Boldrini aus dem Herzen sprach. Pisapia, der Gründer der Initiative, hielt sich zwar auch diesmal noch ein Hintertürchen offen. Denn sonst bliebe eigentlich nur noch, was er gerade vermeiden will: die Gründung einer Partei, die zwar im besten Fall die „richtigen“ Ziele verfolgt und manchen Wählern eine Antwort darauf gäbe, was zum Teufel sie im Frühjahr eigentlich noch wählen können. Aber eben doch nur – vorerst – eine „Bekenntnispartei“. Über die sich im schlechtesten Fall schnell die Bekenntnislinken hermachen, im Namen einer falschen Einheit der „wahren“ Linken.

Ein „Fall für Neurologen“?

Es gibt Stimmen, die Renzi einen „Fall für den Neurologen“ nennen. Das systematische Verprellen aller potenziellen Bündnispartner, der Selbstvergleich mit Macron und das wahnhafte Festhalten an der 40 %-Hoffnung scheinen nur Realitätsverlust anzuzeigen (Auslöser: die Niederlage beim Referendum). Die einzige bei Renzi noch zu entdeckende Rationalität wäre das Kalkül: Mit meiner nochmaligen Wahl zum PD-Generalsekretär verfüge ich über ein Faustpfand, das ich mir nicht wieder wegnehmen lasse. Dass die bevorstehende Wahl verloren ist, nehme ich in Kauf. Laufen jetzt der PD die besten Leute weg: umso besser, sie können mir nicht mehr in die Quere kommen. Umso schneller wird die Partei zu meinem Instrument. Mit dem ich dann in die übernächste Wahl gehe. Was in der Zwischenzeit aus Italien und Europa wird, ist zweitrangig. Ich bleibe im Spiel.

Aber Renzi ist auch noch zu Überraschungen fähig. Am vergangenen Montag, acht Tage nach der Sizilienwahl, legte er im PD-Direktorium den Plan vor, zur Vorbereitung der Wahl im nächsten Frühjahr eine breite Koalition zu schmieden, die auch die abgespaltene Linke umfasst. Schwamm über die Vergangenheit, niemand muss etwas abschwören. Die Zukunft ist ein weißes Blatt Papier, das man gemeinsam schreiben wolle. Piero Fassino, der ehemalige Bürgermeister von Turin (arbeitslos, weil er bei der letzten Gemeinderatswahl von der 5-Sterne-Bewegung geschlagen wurde), wurde zum Beauftragten des Direktoriums, um mit allen potenziellen Kandidaten über Einzelheiten zu verhandeln.

Ein Angebot, das scheinbar niemand ablehnen kann. Nun wird gerätselt: Handelt es sich um einen wirklichen Kurswechsel? Oder geht es eher um die Frage, wer schuld ist, wenn es nicht zum gemeinsamen Vorgehen kommt? Dass es auch zu einem „Spiel über Bande“ werden könnte, zeigen die ersten ablehnenden Reaktionen aus dem Bersani-Lager. Umso besser, dann sind eben sie schuld, könnte Renzis Rechnung sein. Auf jeden Fall hätte er wieder das Heft in die Hand genommen. Sizilien? Vergangenheit. Über die wir ja nicht mehr reden wollen.