Aufstand der Wohlhabenden

In Venetien und der Lombardei waren die Bürger am 23. Oktober aufgerufen, sich in einem Referendum für oder gegen mehr regionale Autonomie auszusprechen. Die Frage war zunächst, wie hoch die Beteiligung sein würde. In Venetien, wo zur Gültigkeit des Referendums ein Quorum von mindestens 50% notwendig war, nahmen 57,2% an der Abstimmung teil. Also deutlich über dem Quorum, wenn auch nicht in eklatantem Umfang. In der Lombardei, wo es kein solches Quorum gibt, waren es ca. 38%, die meisten davon aus ländlichen Gebieten. Die Großmetropole Mailand verweigerte sich im Wesentlichen der Abstimmung.

Nicht wie Katalonien, aber …

Die Autonomisten Zaia und Maroni

Die Autonomisten Zaia und Maroni

Eine übergroße Mehrheit der Wählenden sprach sich erwartungsgemäß für mehr Autonomie aus: 98,1% in Venetien, 95% in der Lombardei. Die Regionspräsidenten Zaia und Maroni (beide Lega Nord) jubelten, eine „neue Ära“ sei eingeläutet, nun gehe es darum, die Kräfte für „eine Jahrhundertschlacht“ zu sammeln.

Venetien und die Lombardei sind nicht Katalonien. Die dortigen Volksbefragungen hielten sich im Rahmen der Verfassung. Sie haben lediglich Empfehlungscharakter und dürfen sich nur auf Bereiche beziehen, für die laut Verfassung eine Verlagerung von Kompetenzen von der Zentralregierung zu den Regionen zulässig ist (auch wenn, um Stimmen zu fischen, zusätzlich mit Themen wie Zuwanderung und innerer Sicherheit geworben wurde, die in der Kompetenz der Zentralregierung liegen und auf die das Referendum keinen Einfluss hatte).

Schon bei der Formulierung der Fragen, die auf dem Abstimmungsbogen standen, zeigten sich Unterschiede zwischen dem politischen Vorgehen beider Regionalregierungen.

Die in der Lombardei gestellte Frage lautete: „Wollt ihr, dass die Region Lombardei, angesichts ihrer Besonderheiten und im Rahmen der nationalen Einheit, die notwendigen institutionellen Schritte einleitet, um vom Staat die Anerkennung zusätzlicher Formen und Bedingungen für Autonomie zu fordern, mit entsprechenden Ressourcen und im Sinne des Art. 116 der Verfassung, bezüglich aller Bereiche, die im o.g. Artikel als dafür zulässig anerkannt werden?“

Auf dem Abstimmungszettel in Venetien stand nur kurz: „Willst du, dass der Region Venetien zusätzliche Formen und besondere Bedingungen von Autonomie zuerkannt werden?“.

Während man also in der Lombardei ausdrücklich auf die bestehenden Rahmen von Verfassung und nationaler Einheit Bezug nahm, wurde in Venetien nur grundsätzlich „mehr Autonomie“ gefordert.

Zaia will Sonderstatut für Venetien

Wie unterschiedlich die Strategien von Zaia und Maroni sind, wurde erst nach der Abstimmung richtig deutlich. Der Präsident der Region Venetien, der sich – anders als Maroni in der Lombardei – auf einer hohen Popularität stützen kann, fordert plötzlich für Venetien den gleichen Status wie für die autonomen Regionen mit Sonderstatut (Sardinien, Sizilien, Südtirol, Friaul und Aosta). Er stellt damit eine „Maximalforderung“, für die, anders als bei erweiterten Autonomierechten nach Art. 116, nicht allein ein entsprechendes Gesetz, sondern eine Änderung der Verfassung (mit Zweidrittelmehrheit) notwendig wäre, welche rechtlich auch kein Gegenstand des Referendums sein durfte.

Ministerpräsident Gentiloni nannte Zaias Vorstoß „eine Provokation“. Er bekräftigte, dass sich der Sonderstatut für die autonomen Regionen aus deren besonderer Geschichte und aus der Präsenz sprachlicher Minderheiten begründe, was für Venetien nicht gelte. Sogar Zaias Parteifreund Maroni sprach von einem „falschen Weg“. Das hat Gründe: Seine Region Lombardei ist die wirtschaftlich stärkste Italiens und verfügt über die engsten europäischen und internationalen Verflechtungen. An Sonderwegen oder gar separatistischen Phantasien ist die dortige Führungselite nicht interessiert.
Dass es zu einer Verfassungsänderung im von Venetien geforderten Sinn kommen kann, ist ohnehin unwahrscheinlich. Das weiß auch Zaia. Aber er möchte mit seiner radikalen Forderung den Druck auf die Regierung erhöhen, um möglichst weitreichende Zugeständnisse bei den Autonomierechten zu erreichen.

Vor allem geht es ums Geld

Der zentrale Punkt ist dabei der sogenannte „Steuersaldo“ („residuo fiscale“), das sich aus der Differenz zwischen dem Steueraufkommen der Region und den ihr davon verbleibenden bzw. von der Zentrale zurückerstatteten Ressourcen ergibt. Zaia und Maroni pochen darauf, die Regierung müsse diesen Differenzbetrag ihren Regionen „zurückgeben“. Es geht dabei nicht um Peanuts. Die Lombardei und Venetien stehen an der Spitze der italienischen „Geber“, während die süditalienischen Regionen allesamt „Nehmer“ sind. In der Lombardei geht es dabei um fast 54 Milliarden Euro jährlich, in Venetien um über 15 Milliarden.

Und hier zeigt sich nun doch, bei allen Unterschieden, eine Parallele zu Katalonien: Wohlhabende Regionen empfinden die Anforderungen eines „nationalen Länderausgleichs“ immer mehr als Zumutung und fühlen sich nicht zur Solidarität mit den schwächeren Regionen verpflichtet. „Ein Projekt der Entsolidarisierung“ nennt Herfried Münkler in der Wochenzeitschrift „Die Zeit“ die aktuellen separatistischen Strömungen in Europa.

Man könnte vielleicht meinen, dies sei angesichts der gerade im „Mezzogiorno“ verbreiteten Korruption und Ineffizienz gerechtfertigt. Doch abgesehen davon, dass es Korruption und Ineffizienz auch in Norditalien gibt: Dem Staat die Möglichkeit entziehen, die öffentlichen Ressourcen im Sinne einer ausgeglichener Entwicklung im gesamten Land einzusetzen, würde dessen Handlungsfähigkeit grundsätzlich in Frage stellen. Dass ein Gemeinwesen – ob auf lokaler, nationaler, europäischer oder globaler Ebene – von den Stärkeren eine Mitverantwortung einfordert, ist genauso notwendig und legitim wie die Beachtung des Subsidiaritätsprinzips.

Außerdem scheinen Venetien und die Lombardei zu vergessen, dass sie den Wohlstand ihrer Regionen auch dem Beitrag der Zugewanderten aus Süditalien (und inzwischen auch aus ärmeren Weltgegenden) verdanken.

Risiken und Nebenwirkungen

Wie sich Zaias Vorpreschen auf die Verhandlungen mit der Regierung und auf die politische Entwicklung insgesamt auswirken wird, ist noch nicht abzusehen. Klar ist aber, dass es die Strategie von Lega-Leader Salvini konterkariert. Dieser setzt schon lange auf eine „national-lepenistische“ Wende seiner Partei. Wozu er auch wohl oder übel gezwungen ist, wenn er seinem Ziel, sich als Anführer der gesamten italienischen Rechten zu profilieren, näher kommen will. Dafür braucht er auch die Stimmen des Südens. Und die bekommt er sicher nicht, wenn die Lega zu den separatistischen Visionen einer „Republik Padanien“ seligen Andenkens zurückkehrt. Um dies zu unterstreichen, ließ er übrigens – just ein paar Tage nach den Volksbefragungen – den Zusatz „Nord“ aus dem Logo der Lega streichen.
Zwar weiß auch Salvini, dass Zaia keinen „katalanischen Weg“ verfolgt. Aber gerade Katalonien zeigt, wie sich Bewegungen in bestimmten Situationen dem Zugriff ihrer politischen Führer entziehen können und Prozesse in Gang setzen, die von ihnen nicht mehr beherrscht werden.
Noch sind in Venetien und der Lombardei keine solche Tendenzen sichtbar. Aber instabile politische Zustände können zu solchen Entwicklungen führen. Zumal wenn es politische Kräfte gibt, die – wie Grillos Bewegung – aus der Verschärfung politischer Instabilität ihr Programm machen. Es ist kein Zufall, dass die Grillini die von der Lega initiierten Volksabstimmungen in Venetien und in der Lombardei kräftig unterstützten und zu deren Erfolg maßgeblich beitrugen.