Mehr Abwehr als Rettung

Im Bozener Portal „Salto“ schrieb ein Kommentator zu meinem Beitrag „Es ist Mord“: „Was ich mich aber frage: Warum nehmen die reichen Golfstaaten keine Flüchtlinge auf? Sunnitische Brüder und Schwestern vom Horn von Afrika, aus Syrien, aus Afghanistan?“

Tja, warum tun die das nicht? Ehrlich gesagt denke ich darüber wenig nach. Die Antwort könnten nur Unfreundlichkeiten über diese Länder sein. So wie sie mir auch zu den Nachbarn in Europa einfallen, die sich ebenfalls vor der Aufnahme von Flüchtlingen drücken.

Was ist Christenpflicht?

Was ich an dem Kommentar interessant finde, sind seine stillschweigenden Voraussetzungen. Für ihn sähe unsere Welt offenbar besser aus, wenn sich Christen um Christen, Sunniten um Sunniten, Schiiten um Schiiten usw. kümmerten. Wobei mir schon ein wenig der Atem stockt: War es nicht im 30-jährigen Krieg so, dass Katholiken freundschaftlichst den Katholiken und Protestanten den Protestanten zu Hilfe kamen? Ergebnis: ein verwüstetes und entvölkertes Mitteleuropa. Knapp 400 Jahre später scheinen jetzt die Sunniten und Schiiten ihren eigenen 30-jährigen Krieg in Angriff nehmen zu wollen. Rät uns der Kommentator, mit verschränkten Armen zuzuschauen – und nur aufzupassen, dass sich kein Flüchtling nach Europa rettet?

In den westlichen Staaten glauben wir seit dem 30-jährigen Krieg, der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der französischen Revolution einen Schritt weiter zu sein. Die Entdeckung der Menschenrechte hat unseren Horizont ein wenig erweitert und unser Leben reicher, aber sicherlich nicht einfacher gemacht. Eine Konsequenz war die Einführung eines Asylrechts für jeden Menschen – nicht nur für die vom gleichen Glauben. Übrigens scheint auch das Christentum in diesem Punkt gelernt zu haben (wofür es allerdings knapp 2000 Jahre gebraucht hat). Wer heute von „Christenpflicht“ spricht, meint doch wohl die Pflicht, für alle Menschen einzustehen. Oder habe ich da etwas missverstanden?

Einwanderung als Chance

Im Kommentar steckt eine weitere Annahme. Er sieht in den Flüchtlingen offenbar nur die irgendwo abzuladende Last (aber nicht in meinem Hinterhof). Hier möchte ich den Autor zu einem Perspektivwechsel einladen. Könnte man in den Flüchtlingen nicht auch eine Chance sehen? Die europäischen Gesellschaften vergreisen. Genauer kenne ich zwar nur die Daten über den demografischen Wandel in Deutschland, aber ich bin mir sicher, dass sie in Italien ähnlich aussehen. In Deutschland führen die niedrigen Geburtenraten und das Anwachsen der Alterspyramide dazu, dass die erwerbstätige Bevölkerung bis 2030 um ca. 5 Mio. sinken wird, während die Zahl der Rentner steigt. So dass heute sogar der Demografiebericht der Bundesregierung vermerkt, dass Deutschland, soll es seine derzeitige Erwerbsbevölkerung in etwa halten, ein positives Wanderungssaldo von jährlich circa 400.000 Menschen bräuchte. Wovon man im Augenblick trotz steigender Flüchtlingszahlen nur träumen kann. Die Wirtschaft beklagt schon heute das Fehlen qualifizierter Arbeitskräfte. Die Bundesagentur für Arbeit ermittelte, dass 30 % derer, die bei uns Asyl suchen, eine Ausbildung als Facharbeiter und jeder fünfte einen Hochschulabschluss hat. Aber auch im Bereich der sog. „einfachen“ Tätigkeiten zeichnet sich ein Arbeitskräftemangel ab, schon aus dem einfachen Grund, weil sie hier immer weniger Menschen noch machen wollen. Sogar im krisengeschüttelten Italien gibt es Wirtschaftsbereiche (siehe die Landwirtschaft, siehe die “Badanti“), die sich trotz hoher Arbeitslosigkeit nur noch mit halblegalen Migranten über die Runden retten. So wäre es schon aus ökonomischen Gründen kurzsichtig, die Flüchtlinge, die zu uns nach Europa kommen wollen, postwendend in die „reichen Golfstaaten“ zu schicken.

Der EU-Gipfel

In einem Punkt kann sich der Kommentator beglückwünschen. Der EU-Sondergipfel vom 23. April, der eigentlich eine Antwort auf das neueste Massaker im Mittelmeer finden sollte, hat in seinem Sinn entschieden. Zwar soll über die Einführung einer Quotenregelung noch beraten werden, darüber gibt es innereuropäischen Streit. Aber jetzt ist schon erkennbar, dass Europa ein Kunststück zu vollbringen gedenkt: einerseits ein wenig menschlicher werden, das heißt mehr Menschen vor dem Ertrinken retten, andererseits sich noch wirksamer abschotten. So soll das jährliche Budget, über das die laufenden Frontex-Missionen (zu denen auch Triton gehört) verfügen, verdreifacht werden, was vor allem heißt, dass ihnen mehr Schiffe zur Verfügung stehen. Aber auch zukünftig soll Grenzsicherung und nicht Rettung ihre primäre Aufgabe sein. So soll ihr Einsatzgebiet nicht wie bei Mare Nostrum auf das ganze Mittelmeer erweitert werden, sondern (zumindest vorerst) auf die europäische Küstennähe beschränkt bleiben. Pro Asyl kommentiert mit Recht, dass man „mit diesem Beschluss die jüngsten Flüchtlingskatastrophen mit mehr als 1000 Todesopfern nicht verhindert“ hätte. Wer nicht schon vorher ertrunken ist, sondern es bis in die Nähe der europäischen Küste schafft, der hat jetzt eine bessere Chance. Das ist der Unterschied.

Bombenstimmung auf dem EU-Flüchtlingsgipfel

Bombenstimmung auf dem EU-Flüchtlingsgipfel

Da aber die nordafrikanischen Staaten zurzeit als Abschottungspartner nicht mehr so recht taugen, soll der Ring noch weiter in den afrikanischen Süden verlegt werden. Militärische Missionen zur Friedenssicherung wie in Mali oder im Sudan sollen auch für den Kampf gegen die „illegale“ Emigration Richtung Europa instrumentalisiert werden. Die sich abzeichnende Verquickung von militärischen Auslandseinsätzen, für den „Frieden“, mit der europäischen Abschottungspolitik finde ich besonders widerlich. Auch „Entwicklungshilfe“ soll dafür nutzbar gemacht werden, indem sie nur solchen Ländern gewährt wird, die sich zur anstandslosen Rückübernahme von Flüchtlingen bereit erklären. In einer Parallelwelt ließe sich das vielleicht als Versuch verkaufen, „die Not, die Menschen in die Flucht treibt, an ihrer Wurzel zu bekämpfen“. In dieser Welt wird es vor allem bedeuten, korrupte Regimes, die sich an kein Menschenrecht halten, für Geld zu Komplizen einer brutalen europäischen Abschottungspolitik zu machen.

Ja, und dann will man natürlich noch viel härter gegen die Schlepper vorgehen. Es ist wahr: Ihr Treiben ist verbrecherisch, aber es ist nicht die Ursache des Elends. Die Ursachen sind in erster Linie die Not in den Herkunftsländern und das europäische Asylrecht, das es den Flüchtlingen im Normalfall zwar erlaubt, ihren Asylantrag auf europäischem Boden zu stellen – aber den Weg nach Europa gleichzeitig illegalisiert. Das verbrecherische Treiben der Schlepper ist die Wirkung. In der EU scheint man in den letzten Wochen ernsthaft erwogen zu haben, alle libyschen Fischerboote in Stücke zu bombardieren. Zumindest für das italienische Innenministerium ist dieser Gedanke auch heute noch nicht vom Tisch. Dies könnte auch Flüchtlinge treffen? Hauptsache, es trifft die Schlepper. Im Kampf gegen sie will sich Europa die schmutzigen Hände waschen. Aber auch wenn man jetzt die Jagd auf sie nur intensiviert und die Strafen härter werden: Die Fluchtversuche und das Sterben werden weitergehen. Nur die Preise werden steigen.

Ein Kommentar

  • Manella Schlitter

    ich – und pressestimmen – finde den von ihnen erwaehnten kommentar logisch und folgerichtig.
    ausser syrien, wo aus gruenden eines krieges menschen fliehen muessen, ist die notlage sonst nicht so eindeutig. viele laufen vor ihren schlechten regierungen davon. erstaunlich ist, dass es diesen und afrikanischen reichen laendern voellig egal zu sein scheint, was mit ihren bruedern passiert. wie und ob sie ueberleben. man hat sie nach europa entsorgt.
    europa soll sehen, wie es mit all denen fertig wird.

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