Wende im Treibsand

Schaut man sich beide Urnengänge an, die Italien in dieser ersten Jahreshälfte hinter sich brachte, so reibt man sich die Augen. Bei den nationalen Wahlen im Frühjahr erwartete man einen Wahlsieg von Mittelinks und das Ende Berlusconis. Ergebnis: Auf Mittelinks entfiel nur ein Drittel des Wählerkuchens, B. zog fast gleich, und Grillo betrat als dritte große Kraft die Bühne. Entsprechend niedrig waren bei den Kommunalwahlen im Mai die Erwartungen, denn die Ausgangsposition für Mittelinks war schlecht: die PD an der Regierung, aber gespalten und führungslos, in einem Bündnis, das ein großer Teil der Anhängerschaft als Verrat sieht. Nun die nächste Überraschung: Mittelinks landet einen Kantersieg, von Norditalien bis Sizilien.

Die PD im kommunalen Wahlkampf (Rom)

Die PD im kommunalen Wahlkampf (Rom)

Die territoriale Schwäche von PdL und 5-Sterne-Bewegung

Welchen Reim soll man sich darauf machen? Die optimistische Interpretation: Das Alptraum-Ergebnis der Parlamentswahlen vom Frühjahr ist passé, aus den Ballons PdL und M5S entweicht endlich die Luft. Die Ära von Mittelinks kann beginnen.

Ilvo Diamanti arbeitete in der „Repubblica“ heraus, dass darin viel Selbsttäuschung steckt, wenn es auch eine Teilwahrheit enthält. Ich beginne mit Letzterem: Die Kommunalwahlen brachten ans Licht, dass B.s Machtsystem den Unterbau verlor, den es einmal hatte. B.s Sprung in die Politik begann vor 20 Jahren, als er sich in Mailand – und dann im ganzen Norden – mit der Lega verband. Es war ein Bündnis des Medien-, Immobilien- und Finanzkapitals, verkörpert durch B., mit der kleineren Geschäftswelt, vertreten von der Lega. Im Zentrum und Süden Italiens erreichte B. eine ähnliche Verankerung durch das Bündnis mit der postfaschistischen Alleanza Nazionale (AN).

Wenn jetzt in den Kommunen des Nordens die Lega von der Bildfläche verschwindet, verliert die PdL ihre dortigen Wurzeln. Ähnlich im Zentrum und Süden, wo die Fusion mit der ehemaligen AN beide Seiten ausgehöhlt hat. Auch bei Grillo deckten die Kommunalwahlen auf, dass seine junge M5S bisher eher eine „Ein-Mann-Partei“ ist. In Sizilien wurde sie bei den Parlamentswahlen noch zur stärksten Partei, jetzt fiel sie dort fast in die Bedeutungslosigkeit zurück.

Reparaturversuche

Dass sich die PD im Unterschied zu B.s PdL und Grillos M5S bei den Kommunalwahlen so überraschend gut schlug, bedeutet, dass sie trotz innerer Zerrissenheit und ihren letzten Fehlleistungen lokal immer noch über glaubwürdige Repräsentanten verfügt. Was auf nationaler Ebene ihre Schwäche ist – der Pluralismus der „Correnti“ -, erweist sich hier als Fähigkeit zur Vielfalt. Auf dieser Ebene ist die PD nach Diamanti, „eine personalisierte Partei. Auf nationaler Ebene präsentiert sie sich uneinig und (aufgrund der Schwäche ihres Führungspersonals, A.d.R.) unpersönlich. Die anderen Parteien, die PdL und auch die M5S, sind auf nationaler Ebene personalisierte Parteien. Aber ohne örtliche Basis“.

So haben jetzt alle Parteien Grund, sich die Wunden zu lecken. Für die Strategen von PdL und M5S zeigten die Kommunalwahlen, dass sich ihre Parteien nun endlich auch „territorial verankern“ sollten. Als ob das bei „Ein-Mann-Parteien“ so einfach wäre – Luftwurzeln, mit denen man sich nachträglich im Boden verankert, wachsen nicht auf Befehl. Während Grillo weiterhin damit beschäftigt ist, die „Bewegung“ durch Rausschmiss der Dissidenten zu seiner Kreatur zu machen, will B. eine neue Partei aus dem Boden stampfen: eine Partei mit „neuem“ Etikett („Forza Italia“, wie 1994) und möglichst wenig „Apparat“. Lokale Unternehmer sollen die örtliche Koordination übernehmen. Womit man gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen würde: Die Unternehmer übernähmen die Finanzierung und damit auch (genial!) die „örtliche Verankerung“. (Es scheint allerdings, dass B. auch die Unternehmer-Herzen nicht mehr so einfach zufliegen).

Kann sich die PD reformieren?

Die PD hat das umgekehrte Problem – wie kann eine lokal gut verankerte Partei auch national schlagkräftig werden? Auch in der PD wird viel von der Notwendigkeit einer „Neugründung“ gesprochen. Ein im Herbst anstehender Parteikongress soll es richten. Kein ganz leichtes Unterfangen, denn bisher ist keine neue Führungsfigur in Sicht, die diese Herkulesarbeit übernehmen könnte (auch einem Renzi dürfte sie nicht gelingen). Sie gleicht dem Versuch, ein Schiff auf hoher See von Grund auf umzubauen. Bis heute wurden noch nicht einmal jene 101 Wahlleute ausfindig gemacht, die der PD bei der Wahl des neuen Staatspräsidenten in den Rücken fielen und diese damit – gewollt oder ungewollt – in ein neuerliches Bündnis mit B. zwangen.

Die „lokale Verankerung“ der PD könnte unter diesen Umständen zum zusätzlichen Hindernis werden. Die gewonnenen Kommunalwahlen könnten den Reformeifer lähmen – nach dem Motto: ist doch alles halb so schlimm. Und die Seilschaften, die sich auf nationaler Ebene bekriegen, können gerade wegen ihrer territorialen Verankerung zu unüberwindlichen Verteidigern angestammter Besitzstände und damit des Status quo werden.

Womit alles bliebe, wie es ist. Die PD wäre stark in den Kommunen, aber schwach auf nationaler Ebene. Wo ihr die PdL und die M5S in die Quere kommen, weil ihre Führer Gefühlslagen bedienen, welche in der Krise gerade auf dieser Ebene massenwirksam werden: den diffusen Wunsch, in die gute alte Zeit der Schuldenmacherei zurückzukehren (B.), und den universellen Protest (Grillo). Ihre Wähler-Ressource ist der politische Treibsand, der sich nicht mehr an irgendeine Partei gebunden fühlt und sich jederzeit in die Wahlverweigerung zurückfallen lassen kann. In Italien sind es viele Millionen. Bleiben sie zuhause, gewinnt Mittelinks, gehen sie wählen, machen sie Italien (fast) unregierbar. Niemand weiß, was sie morgen tun.

Eine „Tendenzwende“ lässt sich somit aus den vergangenen Wahlen nicht ablesen. Sondern eher, dass „sich niemand mehr sicher fühlen kann“ (Diamanti). Nicht einmal die Rechte.

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