Das Spiel mit dem Volk

B. hat ein Problem mit seinem Volk. Für den 12. Juni stehen gleich drei Volksabstimmungen an, hinter denen bereits Hunderttausende, in einem Fall sogar anderthalb Millionen Unterschriften stehen. Und die sich gegen Gesetze wenden, welche B.s Mehrheit bereits verabschiedet hat: Wiedereinführung der Kernenergie, Privatisierung des Wassers, und – für B. besonders wichtig – die „Legitime Verhinderung“, die es ihm ermöglicht, gegen ihn laufende Gerichtsverhandlungen immer wieder platzen zu lassen. Die Umfragen zeigen, dass B. in allen drei Volksabstimmungen mit einer Niederlage rechnen kann.

Eigentlich sollten dem Populisten B. Plebiszite heilig sein. Aber diesen gegenüber griff er von Anfang an in die Trickkiste, um sie zu verhindern. Zunächst setzte er seine Hoffnung auf das hohe „Quorum“, das laut Verfassung für den Erfolg jedes Referendums zu erreichen ist: Mindestens 50 Prozent aller wahlberechtigten Bürger müssen sich an ihm beteiligen, um sein Ergebnis verbindlich zu machen. Damit dieses Quorum nicht erreicht wird, versuchte die Regierung wenigstens am Datum zu drehen: Sie verhinderte, was eigentlich vernünftig gewesen wäre: dass die Abstimmung über die Referenden mit den sowieso im Mai anstehenden Kommunalwahlen zusammengelegt wurde. Und gab die Parole aus, dass die italienischen Familien am 12. Juni besser „ans Meer“ fahren sollten.

Dann kam Fukushima, und plötzlich zeigten die Umfragen, dass für den 12. Juni eine krachende Niederlage der Regierung zu erwarten war. Denn nicht nur schnellte der Anteil der italienischen Kernkraftgegner (der schon vor Fukushima bei 70 % lag) noch weiter (auf 75 %) hoch, sondern es gab auch Anzeichen, dass es zu einer Massenbeteiligung an den Referenden kommen würde. Das war B.s Schreckensszenario: Fukushima treibt die Italiener in die Abstimmungslokale, um gegen die Kernkraft zu votieren, und da sie nun schon einmal dort sind, stimmen sie auch gegen die (sowieso unpopuläre) Privatisierung des Wassers, und im gleichen Abwasch gegen die „Legitime Verhinderung“.

Um zu retten, was noch zu retten war, blieb der Regierung ein letztes Mittel. Nach der Verfassung sind nur „außer Kraft setzende“ Volksabstimmungen zulässig, d. h. Referenden, die sich gegen geltende Gesetze richten. Wenn wir die beanstandeten Gesetze im letzten Moment wieder zurückziehen, so B.s Überlegung, dann finden die Referenden nicht statt. Ein zurückgezogenes Gesetz ist eine befristete Betriebsstörung, ein verlorenes Referendum eine Katastrophe. Im Eilverfahren brachte er eine Gesetzesänderung durch den Senat, welche den beschlossenen Wiedereinstieg Italiens in die Kernenergie vorerst auf Eis legte. Entsprechend soll nun auch mit dem Gesetz zur Privatisierung des Wassers verfahren werden. Womit, so das Kalkül, beiden Referenden die Grundlage entzogen wäre. Nur das Gesetz zur „Legitimen Verhinderung“ wird nicht zurückgezogen, weil B. in diesem Punkt keine Zeit hat. Und weil – so die Hoffnung – hier die Beteiligung unter dem Quorum bleiben wird, wenn die Zugpferde Atomenergie und Wasser aus dem Rennen sind.

Es gab ein paar oppositionelle Stimmen, die dies als Erfolg der Bürgerinitiativen feierten. Aber der Jubel war verfrüht, wie sich in einer Pressekonferenz am 26. April zeigte, die Berlusconi und Sarkozy gemeinsam abhielten. Es war wohl die Anwesenheit Sarkozys, die B. dazu verführte, Klartext zu reden: Das Moratorium bei der Kernenergie diene mitnichten dem Zweck, sich wieder aus dem Einstieg in die Kernenergie zu verabschieden. Im Gegenteil. „Wenn wir heute das Referendum abhalten würden, wäre die Kernenergie für viele Jahre in Italien unmöglich geworden. Die Regierung hat Verantwortung gezeigt und ein Moratorium beschlossen, um damit zu erreichen, dass sich vielleicht nach einem oder zwei Jahren die öffentliche Meinung wieder der Notwendigkeit der Rückkehr zur Kernenergie bewusst wird“. Es sei „gesunder Menschenverstand, uns nicht für weiß wie viel Jahre den Weg zu dem Ziel zu versperren, das nach unserer Auffassung unser unausweichliches Schicksal ist… Wir sind absolut überzeugt, dass die Kernenergie die Zukunft der ganzen Welt ist“.

Seinem Ziel, die Volksabstimmung über die Kernenergie zu verhindern, hat B damit vielleicht einen schlechten Dienst erwiesen. Denn das italienische Verfassungsgericht hat schon früher geklärt, dass eine einfache Gesetzesänderung nicht ausreicht, um ein einmal genehmigtes Referendum abzusagen. Dies könne nur dann geschehen, wenn sie die Intention der Volksabstimmung übernimmt. B.s Äußerungen belegen, dass die Regierung mit dem Moratorium die gegenteilige Absicht verfolgt. Jetzt muss das italienische Kassationsgericht entscheiden, ob das Referendum trotz der sog. „Gesetzesänderung“ am 12. Juni stattfindet.

B. hat bei der Gelegenheit gezeigt, was er unter der von ihm beschworenen „höchsten Souveränität“ des Volkes versteht. Er stellt sie über Recht und Verfassung, denn damit legitimiert er, dass er, der vom Volk Gewählte, selbst über beidem steht. Aber sie hat für ihn trotzdem eine Grenze, und zwar dort, wo das Volk einen Willen zeigt, der von dem seinen abweicht. Das Volk ist mündig, wenn es ihn zu seinem Leader wählt. Es ist unmündig, wenn es sich unter dem Eindruck von Fukushima anschickt, die Kernenergie abzuwählen. Dann verbietet er dem Volk den Mund. Er versucht es zumindest.