Turbulenzen vor den EU-Wahlen

Zwei Monate vor der Europa-Wahl wächst die Unruhe auf Italiens politischem Parkett. Mehr als in Deutschland befinden sich die italienischen Parteien bereits im Wahlkampfmodus. Nicht nur, um Wähler zu mobilisieren, sondern auch, um in und zwischen den Parteien die jeweiligen Positionen zu schärfen.

Regierungslager ist zerstritten

Das betrifft insbesondere die Kräfte im rechten Spektrum, die zur Regierungskoalition gehören. Die drei größten Parteien – Fratelli d’Italia, Lega und Forza Italia – zelebrieren zwar nach wie vor in der Öffentlichkeit das Mantra ihrer „unverbrüchlichen Einheit“, Umarmungen und Küsschen inklusive. Besonders demonstrativ tun das die zwei „ziemlich besten Feinde“ Meloni und Salvini. „Unser Bündnis ist felsenfest und wird fünf Jahre und darüber hinaus dauern“ (Meloni); „Zwischen Giorgia und mir passt kein Blatt“ (Salvini).

Man muss kein Politikexperte sein, um nicht mitzukriegen, dass jenseits dieser Inszenierung die Fetzen fliegen. Die herannahenden Wahlen erhöhen den Druck vor allem auf Salvini. Die Lega schwächelt bei den Umfragen, Salvinis immer radikalerer Rechtskurs scheint nicht einmal in der eigenen Partei gut anzukommen. Die Unzufriedenheit mit dem Leader wächst und wird inzwischen nicht nur hinter vorgehaltener Hand, sondern auch öffentlich artikuliert. So kritisieren jetzt einige Bürgermeister und Kommunalpolitiker der Lega in einem offenen Brief den aktuellen Kurs scharf. „Warum arbeiten wir nicht mehr mit föderalistischen Kräften zusammen, sondern stattdessen mit Leuten, die nicht unseren Abscheu vor Faschismus und Hakenkreuzen teilen? Wir können nicht begreifen, wie man in Europa ein Bündnis mit der deutschen AfD schließen kann, die mit unserer kulturellen und politischen Geschichte nichts zu tun hat“. Der Unmut ist so stark, dass Salvini dem Wunsch der Basis nach der Einberufung eines Kongresses (dem er bisher ausgewichen ist, weil er dort die Abwahl riskiert) jetzt nachgeben musste. Er wird also stattfinden, allerdings erst im Herbst, nach der Europa-Wahl.

Dazu kommt der Druck von außen: Die Oppositionsparteien haben am vergangenen Mittwoch einen gemeinsamen Misstrauensantrag gegen den Vizepremier eingebracht. Der wurde zwar erwartungsgemäß von der Regierungsmehrheit abgelehnt, schwächt aber dennoch die Position Salvinis, der sich nicht mal traute, im Parlament zu erscheinen und sich der Opposition zu stellen. Diese wirft ihm seine wiederholte Aussagen zu Gunsten von Putin vor, zuletzt anlässlich des Todes von Navalny und der Wahlergebnisse in Russland – und vor allem, weil er den seit 2017 bestehenden „Freundschaftsvertrag“ zwischen der Lega und Putins Partei „Vereinigtes Russland“ immer noch nicht gekündigt hat. Eine inzwischen vorgelegte schriftliche Stellungnahme der Lega, sie habe die Zusammenarbeit seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine „eingefroren“, reicht den Abgeordneten der Opposition nicht: Sie verlangen eine förmliche Kündigung des Vertrages.

Zankapfel Kandidatur von der Leyen

Salvini wird also sowohl innerparteilich als auch von der Opposition bedrängt – und seine Bündnispartner Meloni und Tajani rühren keinen Finger, ihm zur Seite zu springen, im Gegenteil. Er weiß, dass die Europa-Wahl für ihn einen Wendepunkt darstellt. Umso mehr setzt er darauf, die Reihen der europäischen Fraktion „Identität und Demokratie/ID“ zu schließen, der neben der Lega auch Le Pens Rassemblement National und die AfD gehören und die in direkter Konkurrenz zu Melonis „Europäischen Konservativen und Reformer/EKR“ steht.

Nach dem ersten ID-Treffen vom Dezember in Florenz lud jetzt die Lega nach Rom ein. Die AfD war diesmal nicht dabei, dafür sorgte eine Video-Botschaft von Marine Le Pen für Aufsehen, in der sie direkt Meloni attackierte. „Giorgia, Frau Präsidentin, werden Sie nun ein zweites Mandat von Ursula von der Leyen als EU-Kommissionspräsidentin unterstützen? Ja oder Nein?“ fragte sie provokativ. Und lieferte gleich die Antwort: „Ich denke: Ja. Der Einzige, der sich gegen von der Leyens katastrophale Politik stemmt, ist Matteo Salvini“. Der bedankte sich und legte nach: „Ich kann nur hoffen, dass unsere Verbündete nicht vorhaben, die EU zusammen mit Macron und den Sozialisten zu regieren“.

Meloni reagierte prompt: „Alle wissen, welche Strategie ich in Europa verfolge und ich gehe davon aus, dass sie von der gesamten Koalition mitgetragen wird: eine rechte Mehrheit auch in Europa durchzusetzen. Es ist ein Fehler, aus Wahlkampfgründen die Koalition spalten zu wollen. Das ist der beste Gefallen, den man der Linken machen kann“.

Melonis schwieriger Balanceakt

Die Ministerpräsidentin ist alarmiert und hat Grund dazu. Die Wahl im Juni ist auch für sie von enormer Bedeutung, und die aktuellen Umfragen sind nicht günstig: Seit einiger Zeit sinken auch bei den Fratelli d’ Italia, langsam aber stetig, die Zustimmungswerte (26,7% Anfang April, d. h. -0,3% im Vergleich zum 25. März). Sie bleiben zwar stärkste Kraft (gefolgt von der PD, derzeit 20,1%), aber Melonis selbst gesetztes Ziel, bei der EU-Wahl „mindestens 26% zu erreichen“, gilt nicht mehr als sicher.

Das dürfte nicht allein an den koalitionsinternen Streitereien und laufenden Ermittlungsverfahren gegen einzelne Regierungsmitglieder liegen, sondern auch daran, dass Melonis „Europa-Strategie“ doch nicht so klar ist, wie sie vorgibt. Der kritischste Faktor bildet tatsächlich ihre Haltung zu der Kandidatur von Ursula von der Leyen. Hier möchte sich Meloni eigentlich – bis zur Zeit nach der Wahl, wenn die politischen Kräfteverhältnisse dann klar sind – die Hände frei halten. Also hütet sie sich einerseits, offen für von der Leyen zu werben, und andererseits pflegt sie weiterhin ihr herzliches Verhältnis zur Kommissionspräsidentin, einschließlich gemeinsamer Auslandsinitiativen zum Thema Migration, wie in Tunesien und zuletzt in Ägypten.

Ein schwieriger Balanceakt, der sich für Meloni im Wahlkampf als offene Flanke erweisen kann. In den Medien kursiert in letzter Zeit (aus den sogenannten „gut informierten Regierungskreisen“) die Nachricht einer möglichen Kurskorrektur, wonach Meloni demnächst versuchen wird, einen eigenen Kandidaten der „Europäischen Konservativen und Reformer“ als Alternative zu von der Leyen zu lancieren. Das könnte vielleicht Salvini etwas ausbremsen, würde aber wiederum den dritten Bündnispartner Forza Italia verprellen, der als Mitglied der EVP von der Leyens Kandidatur unterstützt – also ausgerechnet den„stabileren“ Partner, der sich bisher (weitgehend) an die Koalitionsdisziplin hält und die Ministerpräsidentin mit (öffentlicher) Kritik verschont.

Es wird auch über eine weitere Option spekuliert, mit der Meloni sich aus der Affäre ziehen und die renitenten Bündnispartner zähmen könnte: sich für eine Kandidatur von Mario Draghi auszusprechen (daran hatte auch schon Macron gedacht). Es wäre „ein Vorschlag, der nicht abgelehnt werden kann“, weder von Salvini noch von Tajani – nicht so sehr wegen Draghis hochkarätigem Profil (der spielt im politischen Geschäft leider selten die entscheidende Rolle), sondern vor allem, weil er Italiener und parteilos ist. Und dazu ein Vorschlag, mit dem sie auch Mittelinks in Verlegenheit bringen könnte. Allerdings wäre dies kein Name für Wahlkampfzeiten, sondern – wenn überhaupt – für die Zeit danach. Das Hauptproblem dabei: Super-Mario hat bereits nach Macrons Vorstoß wissen lassen: Er will nicht und wird nicht. Und bekanntlich tut er, was er sagt.

Spannungen auch im Oppositionslager

Auch für die Oppositionsparteien steht im Juni viel auf dem Spiel. Denn auch wenn die italienische Rechte (v. a. Lega und Forza Italia) bescheidene Ergebnisse erreichen sollten, könnten die Zugewinne ultrarechter und nationalistischer Parteien aus anderen Ländern, – allen voran Rassemblement National und AfD – für eine erhebliche Stärkung des europafeindlichen, undemokratischen Lagers sorgen.

Die PD, in Italien die größte Oppositionspartei, beschäftigt sich zurzeit hauptsächlich mit der kniffligen Frage der Kandidaturen, vor allem der besonders „gewichtigen“. Dass Generalsekretärin Schlein als „Zugpferd“ eingesetzt werden soll, gilt als sicher (zumal ihre Kontrahentin Meloni wahrscheinlich ebenfalls antreten wird, auch wenn sie sagt, sie habe noch nichts entschieden). Offen ist aber noch, auf welcher Position und in wie vielen Wahlkreisen Schlein kandidieren soll. Hier gehen die Meinungen in der PD auseinander. Einige halten es für unverzichtbar, dass sie – in einem oder mehreren Wahlkreisen – als Spitzenkandidatin in die Wahl geht. Andere sehen die Gefahr, dass die PD-Strategie, auch populäre Kandidatinnen und Kandidaten aus der Zivilgesellschaft (u. a. die Journalistin Lucia Annunziata und die Menschenrechtlerin Cecilia Strada) an prominenter Stelle zu platzieren, dadurch abgewertet werden könnte. Dazu kommt – wie immer – der Kampf unter den verschiedenen Parteiflügeln um die Listenplätze.

Wie Meloni sagt auch Schlein, sie „überlege“ noch. Und betont, man müsse dabei mehr über Themen als über Namen reden: über die sozialen Fragen und die Zukunft Europas in krisenhaften Zeiten. Und man müsse sich auch in Europa darauf konzentrieren, dass die progressiven Kräfte geschlossen gegen die Rechte antreten. Das mag richtig sein, löst allerdings nicht die Frage der Kandidaturen, bei der nach Meinung vieler in der Partei „die Zeit davonläuft“.

Mit den Kandidaturen beschäftigt sich auch die 5SB, aber mit weniger Elan als die PD. Die Erwartungen von Conte und seiner Partei an die EU-Wahlen sind ohnehin gedämpft, und man verfügt auch nicht über ausreichend geeignetes Personal, das potentielle Wähler mobilisieren könnte. Conte hat bereits (vorsichtshalber) erklärt, dass er nicht antreten wird: Ihm ist das Risiko zu groß, bei einem ungünstigen Wahlergebnis der 5Sterne könne er auch persönlich beschädigt werden.

Keine Einigkeit herrscht bei den kleinen Zentrumsparteien, denen es (bis jetzt) nicht gelungen ist, sich zusammenzutun. So wird Renzis Italia Viva mit Boninos +Europa ein sogenanntes „Zwecksbündnis“ eingehen, während Calendas Azione allein antritt. Ob sie es überhaupt schaffen werden, jeweils über die nötige 4%-Hürde zu kommen, ist fraglich.

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