Die „sanfte Radikalität“ von Elly Schlein

Das Ergebnis der Europa-Wahl im italienischen Süden ist durch zwei Faktoren gekennzeichnet: erstens die besonders niedrige Wahlbeteiligung (43,73%, auf den Inseln sogar nur 37,3%), die vor allem auf Kosten der 5-Sterne-Bewegung ging, und zweitens das gute Ergebnis der PD, die mit 24,3% deutlich vor Melonis Partei Fratelli d’Italia (23,5%) lag, gegen den sonstigen Trend.

Das sind die zwei Botschaften, die aus dem Teil des Landes kommen, der am stärksten die Folgen von Arbeitslosigkeit, Prekariat, wachsender sozialer Ungleichheit und fehlender Infrastruktur zu tragen hat. Ungleichheiten, die mit der von der Regierung geplanten Einführung einer „differenzierten Autonomie“ noch weiter wachsen, da von ihr die sowieso stärkeren Regionen im Norden und Zentrum des Landes weiter profitieren werden.

PD punktet auch im Süden

Während die niedrige Wahlbeteiligung im Süden schon lange Tradition ist, ist das positive Abschneiden der PD alles andere als selbstverständlich, da Wahlen in diesen Regionen sonst stark vom politischen „clientelismo“ einer oft mafiosen Rechten und von populistischen Kräften wie der 5-Sterne-Bewegung dominiert werden. Die PD wurde hier hingegen meist als Heimat eines wohlhabenden Bürgertums und von städtischen Bildungsschichten gesehen, fern der realen Sorgen und Nöte von Bürgern auf den unteren Rängen der Sozialskala.

Auch wenn man sich vor einer übertriebenen „Personalisierung“ politischer Phänomene hüten sollte: Es ist unübersehbar, dass die neue Leitfigur der PD Schlein hier eine wichtige Rolle gespielt hat. Sowohl die Art ihres Auftretens im Wahlkampf als auch ihre Fokussierung auf soziale Themen haben viele Menschen erreicht und überzeugt. Anders als Meloni, die – abgesehen von einer einzigen zentralen Kundgebung in Rom – sich ihren Anhängern im Wesentlichen über die „social media“ präsentierte, hat die PD-Generalsekretärin in einer Gewalttour zwei Monate lang ganz Italien bereist – mit mehreren Auftritten täglich in größeren und kleinen Orten, auf Plätzen und Veranstaltungen, mit Besuchen in Betrieben und den Peripherien, auch in sogenannten „Problemvierteln“, in denen sich sonst kein Politiker, egal welcher Partei, blicken lässt. Überall suchte sie das direkte Gespräch mit den Bürgerinnen und Bürgern, wobei sie nicht nur selbst redete, sondern Fragen stellte und zuhörte.

Neben der enormen Disziplin und dem Durchhaltevermögen, mit der Schlein ihre Krafttour bewältigte, fallen Art und Stil ihrer Kommunikation auf: Sie brüllt nicht und beschimpft nicht die Gegner, sie sucht nicht nach billigen Effekten und sie will – heutzutage selten in der Politik – nicht Wut anheizen, sondern Zusammenhalt fördern. Eine junge Frau beantwortete nach einer Kundgebung die Frage eines Journalisten so: „Sie ist ruhig und dennoch entschlossen und auch wenn sie scharfe Kritik übt, ist sie nie beleidigend. Sie hat eine sanfte Radikalität, die mir gefällt“. Andere Kundgebungsteilnehmer äußerten sich ähnlich.

Wir setzen stur auf Einheit“

Es gibt noch etwas, was Schlein von den meisten ihrer Vorgänger (Romano Prodi ausgenommen) unterscheidet: Sie setzt nicht auf Abgrenzung und Spaltung innerhalb des linken bzw. oppositionellen Lagers, sondern auf Einigung und Zusammenschluss. Die Zahlen im Süden geben ihr Recht: trotz niedriger Wahlbeteiligung und Rückgang der 5SB kommen PD, 5Sterne und AVS (Allianz Grüne/Linke) im Süden gemeinsam auf 46,8%, die vereinte Rechte nur auf 41,12%. Es ist offensichtlich, dass es zu dieser Einheitsstrategie keine Alternative gibt. Auch wenn sie mit den 5Sternen schwer zu erreichen ist, deren (Noch-)Vorsitzender Conte sich oft so verhält, als sei es sein Hauptziel, nicht die Meloni-Regierung, sondern den vermeintlichen Konkurrenten PD auszubremsen.

Schlein hat sich bisher durch Contes Profilierungssucht nicht irritieren lassen. Bei allen Differenzen sei ein Zusammenschluss der Opposition unerlässlich, um eine konkrete Alternative gegen die Rechte aufzubauen, bekräftigt sie immer wieder. Selbstbewusst betont sie angesichts von Contes Seitenhieben, dass die PD dabei die treibende Kraft sei, ist aber realistisch genug, um nüchtern einzuräumen: Allein kann auch die PD dieses Ziel nicht erreichen (und die 5Sterne können es erst recht nicht). Also werde sie weiterhin „stur auf Einheit setzen“.

Nach dem schlechten Wahlergebnis der 5Sterne, auch im Süden, steht Conte stark unter Druck. Innerhalb der Partei werden sogar Rufe nach seinem Rücktritt laut. Auch wenn sie mangels personeller Alternativen ohne Konsequenz bleiben: Es gibt bereits mehrere Anzeichen dafür, dass seine Lust an Alleingängen und arrogantem Auftreten gegenüber der PD etwas gedämpft wurde. Er beteuert jetzt, der Platz der 5SB könne nur „im progressiven Lager“ sein, und hat sich mit seiner Partei der Protestkundgebung der Linke am vergangenen Dienstag (18. Juni) in Rom angeschlossen, die sich gegen die Verfassungsänderung zur Direktwahl des Ministerpräsidenten und gegen die Einführung der „autonomia differenziata“ richtete. Er war dort mit Schlein und Fratoianni (AVS) einer der Hauptredner und schloss demonstrativ die PD-Chefin in seine Arme.

Auch innerparteilich ist Schlein gestärkt

Schleins „stures Setzen auf Einheit“ gilt nicht nur für den Zusammenschluss der Oppositionskräfte, sondern auch innerhalb der Partei. Wer die PD und ihre Geschichte kennt, weiß, welche schädliche Rolle oft die verschiedenen innerparteilichen „correnti“ („Strömungen“) gespielt haben. Auch Schleins Weg in die Führung war von ihnen begleitet, und es gibt innerhalb der PD Gruppierungen, die die neue Generalsekretärin als zu „links“ und zu sehr als „Außenseiterin“ sehen. Manche männlichen Parteigrößen (wie der autokratisch regierende Präsident der Region Kampanien, Vincenzo De Luca) ) tun sich auch schwer damit, dass an der Parteispitze nun eine selbstbewusste junge Frau steht, die sich von internen Machtstrukturen nicht beeindrucken lässt und versucht, auch innerparteilich den Weg für Erneuerungen freizumachen.

Ein Prozess, der nicht minder schwierig ist als das Bestehen von Wahlen. Auch hier setzt die PD-Chefin auf „sanfte Radikalität“, bei der sie versucht, das Beharren auf ihren Kurs mit der Inklusion unterschiedlicher Parteiströmungen zu verbinden. Ob sie dabei auf Dauer Erfolg haben wird, ist noch nicht abzusehen. Immerhin hat sie es bereits geschafft, dass ihr (knapp) unterlegener Konkurrent bei der Wahl zur PD-Führung, der beliebte Präsident der Region Emilia-Romagna Stefano Bonaccini – der eher zentrumsorientiert ist – Schleins Sieg sofort anerkannt hat und ihr seitdem loyal zur Seite steht. Damit sendet er auch seinen Anhängern ein Signal, die in Teilen noch mit der Außenseiterin fremdeln. Bonaccini selbst kennt Schlein gut, sie war in der Emilia-Romagna seine Stellvertreterin. ihre Zusammenarbeit funktionierte trotz mancher unterschiedlicher Positionen reibungslos.

Es gibt aber etwas, das für die Generalsekretärin innerparteilich zum Problem werden könnte: So offen und empathisch sie gegenüber den „einfachen“ Mitgliedern und den Bürgerinnen und Bürgern auftritt, denen sie auf den Plätzen, in ihren Arbeitsstellen und Wohnvierteln begegnet: Dem Parteiapparat gegenüber ist sie zwar nicht misstrauisch, aber doch „reserviert“. Sie tendiere dazu, sich mit nur wenigen Vertrauten abzustimmen, bemängeln einige, die nicht zu diesem Kreis gehören. Wenn das zutreffen sollte, kann es tatsächlich ein Schwachpunkt sein, auch wenn man durchaus verstehen kann, dass sie ihre Energien nicht unbedingt bei endlosen internen Debatten in der Parteizentrale verbrauchen möchte, sondern lieber nach draußen drängt – „in die reale Welt“.

Aber insgesamt hat das Wahlergebnis Schleins Führungsposition gestärkt und ihren Kurs bestätigt. Ihr Insistieren auf die zentralen sozialen Probleme – das marode öffentliche Gesundheitssystem, die zu niedrigen und zu prekären Arbeiten, die fehlenden beruflichen Perspektiven für Frauen und junge Generationen – mag in Teilen reduktiv oder gar obsessiv wirken. Sie hat es aber damit geschafft, Meloni und ihre Regierung mit ihren leeren Ankündigungen und Versprechungen massiv in diesen für die Menschen zentralen Fragen zu konfrontieren.

Die Schattenseite dieser Strategie ist, dass sie dabei auf genauso wichtige – und auch in der PD umstrittene – Themen wie der Aggressionskrieg Russlands gegen die Ukraine selten eingeht. Und wenn sie es tut, beschränkt sie sich darauf, ihre „Formel“ zu wiederholen: Ja zu den Waffenlieferungen an die Ukraine, verbunden mit dem (recht allgemein gehaltenen) Ruf nach „mehr diplomatischen Anstrengungen“ zur Beendigung des Krieges.

Die nächsten Herausforderungen

Fast gleichzeitig mit den EU-Wahlen brachte die Regierung im Senat in erster Lesung zwei Vorhaben durch, die auch für die Opposition zentral sind:

1) Die Verfassungsreform, mit der die Direktwahl des Regierungschefs eingeführt werden soll, die eine Schwächung des Parlaments und eine Einschränkung der Kompetenzen des Staatspräsidenten bewirken würde („Modell Orban“). Die erste Abstimmung in der Abgeordnetenkammer und ein zweiter Durchgang in beiden Zweigen des Parlaments werden folgen. Anschließend wird es mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Referendum kommen, da die Regierung die notwendige Zweidrittelmehrheit verfehlen wird.

2) Das Gesetzesdekret über die „differenzierte Autonomie“ der Regionen, welche die Spaltung des Landes zwischen Norden und Süden vertiefen wird. Auch hier streben die Oppositionsparteien ein Volksreferendum an und haben bereits angekündigt, dafür mit vereinten Kräften die notwendigen Unterschriften zu sammeln.

Die Entscheidung über beide Vorhaben wird schwerwiegende politische Folgen haben. Klar ist, dass sich sowohl das Regierungslager und erst recht die Opposition diesen Herausforderungen geschlossen stellen müssen. Das Ergebnis ist offen.

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