Europawahl: Zu Tode taktiert?

Der 13. Mai war für Forza Italia (FI) ein wichtiger Tag: Als Mitglied der EVP eröffnete sie an diesem Tag in Rom ihren Europawahlkampf, wozu sich auch Ursula von der Leyen als ihre „Spitzenkandidatin“ angesagt hatte. Unter normalen Umständen hätte zu ihrem Empfang ein großer Bahnhof gehört: einerseits in Gestalt der römischen Führungsriege von FI, andererseits vielleicht auch mit Giorgia Meloni, die zwar nicht zur EVP gehört, aber mit FI zusammen Italien regiert. Und die mit Von der Leyen in den letzten Monaten ein Einvernehmen demonstrierte, das längst über diplomatische Höflichkeiten hinauszugehen schien, nicht nur mit Küsschen und Umarmungen, sondern auch mit gemeinsamen Unternehmungen, wie zum Beispiel „heiklen“ Besuchen bei nordafrikanischen Diktatoren.

Am 13. Mai wurden diese Erwartungen nicht erfüllt: Zwischen Meloni und von der Leyen herrschte plötzlich – und wie man hört, auch inoffiziell – totale Funkstille. Konnte man dies noch notdürftig mit Gründen der Etikette erklären – als Spitzenkandidatin der EVP und Chefin der europäischen Konservativen (EKR) sind sie Konkurrenten -, so wurde sie auch von Tajanis FI mit einer offenen Demütigung empfangen: Zur offiziellen Kundgebung war sie, die offizielle Kandidatin, trotz ihrer Anwesenheit in Rom nicht eingeladen (Tajani: „Als Teilnehmerin nicht vorgesehen“). Stattdessen wurde sie mittags mit einem Essen abgespeist, an dem außer Tajani die FI-Minister der Regierung teilnahmen, und dann gab es für sie am Nachmittag noch ein wenig Beschäftigungstherapie: erst ein Treffen mit Funktionären der italienischen Landwirtschaft, dann eine Fragestunde mit jugendlichen Parteiaktivisten. Während ohne sie in einem römischen Versammlungssaal die große Choreografie abgespult wurde.

Zweifel an der Person

Eine grobe Unhöflichkeit, zu deren Gründen man aber erst vordringt, wenn man vorher ein paar Vorhänge beiseite zieht. Zunächst schien es plötzlich Zweifel an ihrer Person zu geben, die schon sichtbar wurden, als sich am 6. März in Bukarest 800 Delegierte versammelt hatten, um sie – ohne Gegenkandidaten! – zur Spitzenkandindatin der EVP zu wählen. Schon hier zeigte sich Sand im Getriebe: Bei der Abstimmung stimmten nur 400 für sie (bei 89 Gegenstimmen) – 300 waren verschwunden. Damit wurde zwar die erforderliche Mehrheit nur ganz knapp erreicht, aber gewählt war gewählt – ein überzeugender Durchmarsch war es nicht. Der Zweifel äußerte sich nun auch am 13. Mai beim italienischen Ableger der EVP: Wenige Stunden vor Ursula von der Leyens Ankunft erlärte Licia Ronzulli, die ehemalige Berlusconi-Favoritin und heutige Vize-Präsidentin des Senats, Von der Leyen zur „lahmen Ente“, die eine „schwache Präsidentschaft“ hinter sich habe (Ronzulli pflegt in Forza Italien zu sagen, was Tajani höflich verschweigt).

Ursula von der Leyen hat auch diesen Affront stoisch überstanden – man kann ihr nicht nachsagen, dass sie nicht flexibel ist, wenn sie unter Druck steht und an der Macht bleiben will. Beispiel Green Deal: Als sie ihn zum ersten Mal vorstellte, präsentierte sie ihn noch als Meisterleistung der von ihr geführten Kommission. Als dann aber im Winter die Bauern revoltierten, stand sie schnell an der Spitze derer, die meinten, dass man dann eben Teile des Green Deals zurückziehen müsse. Beispiel „Öffnung nach rechts“: Als sich Manfred Weber, der Generalsekretär der EVP, für eine Öffnung gegenüber Melonis Konservativen einzusetzen begann, worin viele Beobachter auch eine Intrige gegen Ursula von der Leyen sahen, nahm ihm diese den Wind aus den Segeln, indem sie plötzlich auf Kuschelkurs mit Giorgia Meloni ging, auch bei menschenrechtlich prekären Themen wie der Migrationspolitik. Auf diese Weise behielt sie die Initiative – aber erwarb sich auch den Ruf, auf Druck in jede Richtung nachgiebig zu sein. Was nicht gerade zu ihrer Beliebtheit beitrug, sondern sie in jeder Hinsicht zum Abschuss freigab: für die einen war sie „zu rechts“, für die anderen „zu links“, für die einen „zu grün“, für die anderen eine „Sonntags-Grüne“. Als sie Ronzulli eine „lahme Ente“ nannte, fügte sie hinzu, dass die von ihr geführte Kommission von „ideologischen und extremistischen Impulsen getrieben“ gewesen sei. Eine Bemerkung, die man getrost auch auf das Bild ausdehnen kann, das sich die Rechte von Ursula von der Leyen macht. Wozu man das spezifische Vokabular der italienischen Rechten kennen muss: „Ideologisch“ ist es für sie, wenn der Umweltschutz wirtschaftliche Interessen bedroht, also z. B. der Landwirtschaft eine Verringerung des Pestizid-Einsatzes aufgezwungen werden soll. Das ist zwar von der Leyen gegenüber ungerecht, wenn man an ihre Zugeständnisse gegenüber den Bauernverbänden denkt, aber es zeigt die Angriffsflächen, die sie durch ihre allzu große Flexibilität bietet.

Das große Spiel

Aber man muss noch einen weiteren Vorhang wegziehen, um zum Kern der Überlegungen vorzudringen, in denen es auch um die Rolle geht, welche heute die Rechte Ursula von der Leyen zuweist. Hier geht es um Wichtigeres als eine Person: um die politische Macht in der EU. Meloni hat es in den vergangenen Monaten oft genug gesagt: Sie möchte, dass es nach der Europawahl am 9. Juni eine andere politische Mehrheit gibt, welche die europäischen Weichen stellt. Eine Mehrheit, welche (1) auf jeden Fall die Grünen ausschließt – das ist sowieso klar – und (2) möglichst bald auch die Sozialisten, und sich stattdessen nach rechts öffnet. Ihr wichtigster Seelenverwandter in der EVP schien zunächst der Generalsekretär und Strippenzieher Manfred Weber zu sein, der auch schon ein Rezept dafür entwickelt hat, wie man die Öffnung nach rechts in Deutschland am besten „verkaufen“ könne: einerseits durch die Versicherung, dass die Postfaschistin Meloni doch „gar nicht so schlimm“ sei, siehe ihr Verhalten zum Ukraine-Konflikt und ihr Verhältnis zur Nato und zu den USA, andererseits durch die Beteuerung – nach bekanntem Muster -, nun aber gegenüber der europäischen Ultrarechten um Salvini, Marine Le Pen und der AfD eine „rote Linie“ ziehen zu wollen, die nun wirklich unüberschreitbar sei.

Was schon damals einen Schönheitsfehler hatte: Meloni hat selbst diese „Linie“ längst überschritten, als sie den Putinfreund Salvini in ihr Kabinett aufnahm, auch wenn sie ihn dort in außenpolitischen Fragen an der kurzen Leine hielt

Katalysator AfD

Aber auch das ist noch nicht der letzte Stand der Dinge. Vor ein paar Tagen hat sich etwas ereignet, was auf der europäischen Bühne noch einmal die Verhältnisse zum Tanzen bringen könnte. In ihrem Zentrum steht ausgerechnet die deutsche AfD, die bisher auf dieser Bühne eher ein Schattendasein führte, aber nun plötzlich zum Katalysator für Entwicklungen werden könnte, die mit ihr eigentlich gar nichts zu tun haben. Dies hat sie vor allem der Eingebung von Maximilian Krah zu verdanken, ihrem Spitzenkandidaten für das Europaparlament, dem sich Pfingsten offenbarte, dass man der SS nicht nachsagen könne, schon als Organisation verbrecherisch gewesen zu sein, sondern man solches erst im Einzelfall behaupten könne.

Eine Eingebung, an der sich schon ganze Kohorten von Historikern abgearbeitet haben, meist mit gegenteiligem Ergebnis. Umso heftiger war ihre Wirkung innerhalb der Rechten, die immer noch mit ihrer Zersplitterung zwischen (Melonis) Konservativen und (Salvinis) Identitären zu kämpfen hat. Hier löste sie eine Kettenreaktion aus, die plötzlich eine Überwindung dieser Zersplitterung möglich erscheinen läßt, indem sie eine neue rote Linie markiert, hinter der sich nun spontan alle – die AfD ausgenommen – versammeln können: Bei der SS hört auch für die Rechte der Spaß auf. Mit dem Segen Marine Le Pens und – in ihrem Gefolge sofort auch von Salvini – schlossen die Identitären im EU-Parlament alle sechs AfD-Parlamentarier aus. Nun scheint plötzlich das bisher Unmögliche möglich: die Vereinigung aller souveränistischen Parteien Europas, von Orban bis Le Pen und mit Meloni als Geburtstagshelferin. die ja immer wieder auf das italienische Beispiel verweist, wo ja schon alle in einer Regierung vereint seien, die man nur dazu bewegen muss, nach italienischem Vorbild auch in Europa zusammenzuarbeiten.

Einige Hindernisse sind da noch zu überwinden. Denn vor allem auf internationaler Ebene gibt es noch ein paar kleine Differenzen, die nicht so leicht aus der Welt zu schaffen sind: das Verhältnis zu Russland, zur Nato und zum Ukraine-Krieg. Dann gibt es die Prognosen, die zwar der Rechten Gewinne vorhersagen, die aber doch nicht groß genug sein werden, um die bisherige Mehrheit von EVP, Sozialisten und Liberalen aus dem Sattel heben zu können.

Illusion des Umsturzes

Melonis Hoffnung, zumindest die Sozialisten aus dem einstigen „Ursula-Bündnis“ herausdrängen und durch eine der beiden rechten Gruppen – oder beide – ersetzen zu können, scheint sich aus drei Gründen nicht erfüllen zu können:

  • Erstens werden sich die in der Renew-Gruppe versammelten Liberalen nicht zum Steigbügelhalter einer solchen Verschiebung nach rechts machen lassen – ihr Spitzenkandidat Gozi hat es gerade noch einmal bekräftigt.
  • Zweitens setzt Melonis Rechnung voraus, die gesamte EVP-Gruppe in diesen Schwenk nach rechts einbeziehen zu können, was vielleicht bei den von Weber kontrollierten deutschen Abgeordneten möglich, aber außerhalb Deutschlands abwegig erscheint. Selbst wenn sich nach der Wahl Melonis EKR und Le Pens Identitäre zu einem Bündnis zusammenschließen würden, gilt in der EVP immer noch die Verabredung: kein Bündnis mit den Identitären.
  • Drittens haben die europäischen Regierungschefs bei der Auswahl des/der nächsten Kommissionspräsidenten/in ein gewichtiges Wörtchen mitzureden – sie haben sogar das Vorschlagsrecht. Meloni hat sich zwar eine Zeitlang um die Gunst von Macron bemüht, um ihm eine Kompensation für die lädierte deutsch-französische Achse anzubieten. Wenn sie sich aber gleichzeitig Macrons größter innenpolitischer Gegenspielerin, Marine Le Pen, nähert und den ultrarechten Zemmour in ihre EKR aufnimmt, hat dieser Flirt keine Zukunft. Und der nächste Kampf um die französische Präsidentschaft steht erst 2017 an.

Welche Rolle bei alledem noch Ursula von der Leyen spielen kann? Da sie bekanntlich flexibel ist, sind verschiedene Szenarien denkbar, in der sie sich noch ins Spiel bringen kann. Aber ob in dieser Flexibilität immer ein Vorteil gesehen wird, muss sich noch zeigen. Macron hatte schon mal vor ein paar Monaten einen neuen Versuchsballon namens Mario Draghi steigen lassen, den vermutlich niemand vergessen hat. Für die – vereinigte oder nicht vereinigte – Rechte dürfte diese Möglichkeit der Alptraum sein, der sie wieder ihre Sympathien für Ursula von der Leyen entdecken lässt.

Diese steht bereit – lächelnd wie immer.


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