Auf der Suche nach Halt

Am Samstag hat die „Assemblea nazionale del PD“, d. h. die Delegiertenversammlung der PD, den ersten Schritt getan, der die Partei aus dem Stimmungsloch herausführen soll, in dem sie sich seit der Niederlage im vergangen September befindet. Sie verabschiedete ein neues „Manifest der Werte“, das jedem neuen Mitglied zur Unterschrift vorgelegt und zur Grundlage der künftigen Arbeit werden soll. Die Stichworte sind soziale Gerechtigkeit; Inklusion und Gleichheit; staatliche Regulierung, wo der Markt versagt; europäische Integration; Verteidigung des Friedens, der Demokratie und der Menschenrechte („beginnend bei der russischen Invasion in der Ukraine“); Rettung des Klimas, Vereinbarung von ökonomischer, ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit; Verteidigung der Verfassung, Förderung der Partizipation, Ablehnung eines Präsidialsystems.

Lettas zweiter Fall

Ich möchte nicht in der Haut von Enrico Letta stecken, dem scheidenden Generalsekretär der PD. Er hat nun schon den zweiten Versuch hinter sich, um in der italienischen Politik die Rolle eines Nothelfers zu übernehmen. Beide Anläufe endeten bös – jetzt sogar katastrophal.

Den ersten Anlauf nahm er im Frühjahr 2013, als er zum Ministerpräsidenten einer Koalition wurde, zu der auch Berlusconis Popolo della Libertà“ gehörte. Eigentlich leistete Letta trotz dieser schwierigen Bedingungen gute Arbeit, und so war es auch nicht Berlusconi, an dem Letta ein Jahr später scheiterte, sondern Matteo Renzi. Der hatte es inzwischen geschafft, die PD mit seinem Kurs der „Verschrottung“ aufzumischen; im Direktorium setzte er den Beschluss durch, Letta zum Rücktritt aufzufordern und durch ihn selbst zu ersetzen. Nicht ohne ihm noch ein höhnisches „stai sereno“ (bleib zuversichtlich) hinterher zu twittern, zur gezielten Demütigung.

Den zweiten Anlauf nahm Letta im Frühjahr 2021, als Mattarella Draghi zum neuen Regierungschef ernannt hatte. Letta hatte sich inzwischen aus der aktiven Politik zurückgezogen, arbeitete in Paris als Lehrer und Dozent für Politik und hatte es dort zum Dekan der Paris School of International Affairs gebracht. Bis ihn der Hilferuf aus Rom ereilte (ein Gerücht besagt, dass hier auch Mattarella zum Telefon griff): Zingaretti hatte entnervt vom Gezänk der PD-internen Seilschaften („correnti“) sein Amt als PD-Generalsekretär hingeworfen und musste durch jemanden ersetzt werden, der für einen Neuanfang stand. So wurde Letta zum zweiten Mal zum Hoffnungsträger, ohne dass ihm diesmal noch ein Renzi im Wege stand, weil dieser die Partei längst verlassen hatte.

Umso tiefer ist jetzt sein zweiter Fall, der vor vier Monaten mit einer krachenden Wahlniederlage begann. Und der sich nach der Wahl fortsetzte, als die 5-Sterne-Bewegung in den Umfragen die PD als „linke Alternative“ überholte und schließlich auch noch Katargate aufflog. Seitdem liest sich die Bilanz von Lettas Amtszeit wie ein Schauerroman: Die PD liegt heute nur noch bei ca. 14 %, die Reaktion vieler ehemaliger Sympathisanten schwankt zwischen Trauer und wütender Ablehnung. Die Frustration der Mitgliedschaft ist groß, und die Angst geht um, in Irrelevanz zu enden, „wie die französischen Sozialisten“.

Letta tat, was in einem solchen Fall die ungeschriebenen Spielregeln verlangen: Er übernahm die Verantwortung für das Geschehene und kündigte seinen Rücktritt an. Wobei er meint, dass in der Partei Fundamentaleres ansteht als nur ein schlichter Wechsel des Generalsekretärs.

Lettas Fehler

Die Frage, was Letta eigentlich falsch gemacht hat, ist nicht leicht zu beantworten. Vieles spricht dafür, dass die Ursachen für den Abstieg in Fehlern zu suchen sind, die Letta fortsetzte, aber schon eine längere Geschichte haben:

  • unzureichende Analyse der mit der Globalisierung einhergehenden Veränderungen in den Lebensverhältnissen;
  • die daraus folgende Vernachlässigung der wachsenden sozialen Ungleichheit und der Zunahme prekärer Beschäftigung;
  • die Tradition, jederzeit gesamtstaatliche Verantwortung zu übernehmen, auch wenn einmal nicht Synthese, sondern parteiische Zuspitzung erforderlich wäre.

Als Lettas größte Schwäche erwies sich der letzte Punkt, da sein Amtsantritt als PD-Generalsekretär mit dem Beginn von Draghis „Notregierung“ zusammenfiel. Letta versuchte zwar, auch in Draghis Regierungszeit an einem eigenen sozialpolitischen Programm zu arbeiten (zum Beispiel die Einführung eines Mindestlohns), mit dem er in den für 2023 zu erwartenden Wahlkampf ziehen wollte. Dies wurde jedoch dadurch überdeckt, dass er Draghi vorbehaltsloser als die anderen zur Koalition gehörenden Parteien unterstützte. Was den Linkspopulisten Raum gab, sich mit dem vorzeitigen Regierungssturz als die „wahren“ Vertreter der Armen und Entrechteten zu profilieren.

Schlein und Bonaccini: Konkurrenten um Lettas Nachfolge

Die anderen Misserfolge, an denen Letta scheiterte, kann man nicht eigentlich Fehler nennen, da sie versucht werden mussten: der (schon von Zingaretti begonnene) Versuch, mit der 5SB eine strategische Allianz zu schmieden; der ebenso erfolglose Versuch, vor der Wahl eine Einheitsfront gegen die rechte Machtübernahme zustande zu bringen. Auch den Super-Gau Katargate kann man nicht auf seine Rechnung setzen – der asketische Letta ist kein Berlusconi, der Korruption vorlebte. Sein Fehler war höchstens, dass ihm zu dem Thema nur einfiel, die PD müsse bei dem anstehenden Gerichtsverfahren als „geschädigte Partei“ auftreten. Auch dass er seinen eigenen Rücktritt ankündigte, ihn aber erst vollziehen will, wenn nach gründlicher Beratung ein Nachfolger oder eine Nachfolgerin gewählt wurde, hat eine Kehrseite: Da Letta meint, bis dahin „neutral“, d. h. vor allem ein Garant des Verfahrens bleiben zu müssen, ist die PD fünf Monate lang inhaltlich führungslos – also gerade in der Zeit, in der über ihre Fortexistenz entschieden wird.

Interregnum

In dieser Phase befindet sich jetzt die PD. Dass für sie ein Prozess eingeleitet werden muss, der das Geschehene nicht nur „aufarbeitet“ (wie man neudeutsch sagen würde), sondern in dem sie sich auch wieder selbst finden muss, ist Konsens. Allerdings könnte dabei in den Hintergrund treten, dass ein solcher Neuanfang nur gelingen kann, wenn auch die Ursachen des bisherigen Niedergangs ans Licht gebracht werden. Wenn jetzt einige sogar von „Auflösung“ reden (Renzi applaudiert von außen), bei den Aktivisten aber die Parole „Neugründung“ vorherrscht, besteht die Gefahr, eine inhaltliche Besinnung durch die Flucht in die geplante Prozedur zu ersetzen: Der Prozess soll „von unten“ her, d. h. den noch vorhandenen Partei-Zirkeln vorbereitet werden, die Anfang Februar zu den Kandidaten – es sind vier – und den von ihnen vorgelegten Thesenpapieren Stellung beziehen. Aufgrund der von Zirkeln eingehenden Meldungen ermittelt dann die Zentrale die beiden Kandidatinnen bzw. Kandidaten mit den höchsten Zustimmungswerten, d. h. von dort an wird die Wahl als Duell inszeniert. Am 26. Februar ist der „Gazebo“-Tag, d. h. der Tag der Straßenstände, an denen die eigentlichen „Primarie“ stattfinden, was bedeutet, dass das Wahlverfahren auch für Nicht-Mitglieder geöffnet wird: Wer Mitglied ist oder sich mit einer Unterschrift als PD-Wähler zu erkennen gibt (und einen Euro bezahlt), entscheidet, welchem der beiden Kandidaten, die bei der PD-internen Abstimmung auf den beiden ersten Plätzen landeten, er seine Präferenz gibt. Formal ist das Ergebnis noch nicht bindend, denn ein anschließend einberufener Parteikonvent, zu dem von den Zirkeln gewählte Delegierte anreisen, muss noch sein Okay geben. Aber dies blieb bei den früheren „Primarie“ Formsache, denn wer will schon gegen die eigene Wählerschaft entscheiden?

Das Duell

Es sah lange so aus, als ob Stefano Bonaccini, der Präsident der Region Emilia-Romagna, bei seiner Kandidatur auf keinen ernsthaften Gegenkandidaten trifft. Formal gesehen gibt es neben ihm noch drei weitere Kandidaten: die Managerin Paola De Micheli, die einmal Ministerin für Infrastruktur und Verkehr war; der zum linken Parteiflügels gehörende Gianni Cuperlo; und Elly Schlein, Bonaccinis bisherige Stellvertreterin in der Regionalregierung. Sie ist die Gegenkandidatin, die ihm noch gefährlich werden könnte, auch wenn sie in allen Umfragen, in denen er weit vorne liegt, bisher nur Platz 2 einnimmt. Ihr Duell könnte interessant werden, auch wenn sie in ihren programmatischen Äußerungen nahe beieinander liegen (Elly Schlein: „Die Unterschiede? Die Haare und der Bart“). Trotzdem spaltet ihr Auftritt die PD in zwei Lager: Er ist 65 und der Phänotyp des altgedienten Apparatschiks, sie ist 38 mit dem Auftreten einer jugendlichen Klima-Aktivistin. Er ist der Inbegriff eines „Normalos“, sie eine Feministin, die sich als „bisexuell“ bekennt. Wer ihn bevorzugt, lobt die „Erfahrung“; wer für sie ist, verweist auf ihre größere „Glaubwürdigkeit“ als Vertreterin einer „neuen Generation“. Er ist ein altgedienter PD-Mann, sie trat 2015 aus der PD aus, aus Protest gegen Renzi (dem Bonaccini damals anhing), und ist erst vor wenigen Wochen wieder eingetreten. Sie stammt aus einer pazifistischen Familie und war lange gegen Waffenlieferungen an die Ukraine, hat aber diese Position jetzt korrigiert. Es gibt weitere Nuancen, die auf längere Sicht wichtig werden könnten: Sie hebt stärker die Ungleichheit hervor, die das kapitalistische „Entwicklungsmodell“ hervortreibt; er sorgt sich eher um „die Unternehmen, die den Reichtum schaffen, den es sonst nicht zu verteilen gäbe“. Der greifbarste Unterschied betrifft die Frage, mit welcher Intensität sich die PD der 5SB nähern soll. Und dann gibt es noch eine Personalie: Sie lehnt einen Mann ab, von dem sich Bonaccini unterstützen lässt: Vincenzo De Luca, den „Scherif“ von Kampanien, der sich und seine Familie mit dubiosen Mitteln an der Macht hält.

Ein Fragezeichen

Hinter dem ganzen Verfahren, das ja nebenbei auch noch auf eine „Neugründung“ der PD hinauslaufen soll, steht ein Fragezeichen. Bisher dienten die „Primarie“, auf die die PD bisher in Italien eine Art Monopol hat, auch ihrer Verankerung im Volk – zumal es dabei satzungsgemäß nicht nur um die Wahl des nächsten Generalsekretärs, sondern auch um den Kandidaten der Linken für die nächste Wahl geht. Dies setzt allerdings voraus, dass das Verfahren kein Flop wird, vor allem am 26. Februar, wenn die gesamte potenzielle Wählerschaft aufgerufen wird, sich an der Wahl zu beteiligen. Im Laufe der letzten Jahrzehnte beteiligten sich immer weniger Menschen an den „Primarie“, aber immerhin waren es bei der letzten regulären Wahl eines Generalsekretärs (Nicola Zingaretti) im Frühjahr 2019 noch 1,4 Millionen, was dem Zentralitätsanspruch der PD innerhalb der Linken noch einmal Auftrieb gab (wegen des vorzeitigen Rücktritts von Zingaretti wurde Letta ohne Primarie gewählt).

Wenn sich jetzt die PD – nach den vorzeitigen Rücktritten von Zingaretti und Letta – für eine parteiinterne Neuwahl stark macht, die noch einmal auf die „Primarie“ setzt, geht sie auch ein Risiko ein. Denn falls die Beteiligung an ihnen im Vergleich zu den letzten noch einmal dramatisch sinkt, ist zu befürchten, dass sie auch den inneren Zerfallsprozess der PD eher beschleunigen als aufhalten, geschweige denn umkehren werden. Die Aussichten, soweit sie von den Umfrage-Instituten ermittelt wurden, sind nicht ermutigend. Kurz vor Weihnachten hatte die PD in Rom eine zentrale Kundgebung gegen das neue Haushaltsgesetz der rechten Regierung angesetzt. Sie wollte damit der 5-Sterne-Bewegung zuvorkommen, die Ähnliches vorhatte. Früher wären Tausende gekommen. Diesmal waren es knapp 400. Kein Wunder, dass man in der PD beginnt, auf Wunder zu hoffen. Der Kandidatur von Elly Schlein könnte es nützen.