Korruptionsskandal im Europa-Parlament

Am 21. November hält im Straßburger Europaparlament Eva Kaili, die griechische Vizepräsidentin, die zur Gruppe Sozialismus und Demokratie gehört, eine Rede. Auf der Tagesordnung steht die Menschenrechtssituation in Katar, die durch die Fußball-WM ins Gerede gekommen ist – der superreiche Golfstaat steht im Verdacht, die futuristische Skyline seiner Hauptstadt und die WM-Stadien mit Methoden aus dem Boden gestampft zu haben, die den Menschenrechten Hohn sprechen. Umso überraschender ist die positive Einschätzung, die Eva Kaili zum Thema vorträgt: „Frau Präsidentin, die heutige WM in Katar ist der Beweis dafür, wie die Diplomatie des Sports in Wahrheit zur historischen Transformation eines Landes durch Reformen beitragen kann, welche die ganze arabische Welt inspirieren.“ Dabei beklagt sie, dass es immer noch Leute gebe, die Katar „mobben“ und „diskriminieren“. Endlich jemand, konnte man meinen, der nicht nur in europäischer Arroganz alles schwarz in schwarz malt, sondern differenziert, und das von jemandem, von dem (bzw. der) eher Parteilichkeit für die Arbeiter als gegen sie zu erwarten ist.

Die Hausdurchsuchungen vom 9. Dezember

Aber dann ging 18 Tage später, am 9. Dezember, eine Meldung durch die Medien, die alles in ein anderes Licht rückt: Der belgische Richter Michel Claise (Spezialgebiet: Korruption) verfügt in Brüssel Hausdurchsuchungen und Festnahmen bei einer Reihe von (jetzigen oder ehemaligen) Parlamentsabgeordneten samt Assistenten, so auch bei Eva Kaili und ihrem italienischen Lebenspartner Francesco Giorgi. Sie stehen im „Verdacht, dass ihnen ein Golfstaat bedeutende Geldsummen zahlte und Geschenke anbot, um die wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen des europäischen Parlaments zu beeinflussen“.

Die Beamten wurden fündig: In der Wohnung von Kaili fanden sie 150.000, bei ihrem Vater 600.000 € (750.000, laut FAZ), in gebündelten Scheinen. Die Eltern von Eva Kaili waren ein paar Tage zuvor aus Griechenland nach Brüssel gereist (hatten sie Wind von der olizeiaktion bekommen?). Ergebnis: Der von der Polizei überwachte Vater wird erwischt, als er aus seinem Hotel rennt und einen Trolley voller Geld hinter sich herzieht.

Panzeris „Fight Impunity“

Gleichzeitig wird in Brüssel der Mann verhaftet, der zur Schlüsselperson wurde, aber anfangs über jeden Zweifel erhaben schien: Antonio Panzeri. der aus der italienischen Gewerkschaftsbewegung kam und von 2004 bis 2019 Abgeordneter im Europarlament war, zunächst für die PD, dann (ab 2017) für eine linke Splittergruppe. Sein Schwerpunkt war Arbeit und Menschenrechte, ab 2014 leitete er die entsprechende Parlamentskommission. Da er bei den Europawahlen 2019 sein Abgeordneten-Mandat verlor, gründet der damals 64-Jährige die NGO „Fight Impunity“ (Kampf der Straflosigkeit), die verkündet, sich weltweit für die Menschenrechte einsetzen zu wollen – und scheinbar ganz auf dieser Linie die Zustände in Ägypten (Regeni), Saudi-Arabien und im Iran angreift. Panzeri ist ein begabter Netzwerker, der renommierte Leute für den Beirat seiner NGO gewinnt: u. a. Emma Bonino, ehemalige italienische Außenministerin und EU-Kommissarin; Federica Mogherini, EU-Außenbeauftragte; Dimitris Avramopoulos, ehemaliger EU-Kommissar für Migration; Bernard Cazeneuve, ehemaliger französischen Premier. Eine Sekretärin Panzeris berichtet, dass er gerade in diesen Wochen dabei war, auch Klaus Welle (CDU), den demnächst aus dem Amt scheidenden deutschen Generalsekretär des Europarlaments, für den Beirat zu gewinnen. Mit ihm hatte Panzeri noch im Juni dieses Jahres ein Kooperationsabkommen zwischen Europaparlament und „Fight Impunity“ unterzeichnet, das die Veranstaltung gemeinsamer Events vorsah, die aus dem Parlamentsetat bezahlt würden. Die Sache hatte nur einen Pferdefuß: Panzeri hat die NGO niemals registrieren lassen (was ihr die Vorlage von Bilanzen ersparte).

Als die belgischen Beamten am 9. 12. Panzeris Brüsseler Wohnung durchsuchten (die er nach dem Ende seiner Abgeordnetentätigkeit behalten hat), fanden sie auch in seiner Wohnung in zwei Säcken 600.000 €.

Die Geldgeber: nicht nur Katar, sondern auch Marokko

Die Ermittlungen sind im Gang, noch ist vieles unklar. In ihrem Zentrum stehen vor allem die italienischen Abgeordneten der Gruppe Sozialismus und Demokratie; wer von ihnen wirklich eingeweiht war, wird noch untersucht. Sicher sind sich die Brüsseler Ermittler vor allem bei Panzeri, bei dem die Fäden zusammen liefen. Unklar ist noch die Nummer 2: Zunächst schien es Eva Kaili zu sein, aber zuletzt hat sich hier ihr Lebenspartner Francesco Giorgi in den Vordergrund gedrängt, der lange Panzeris persönlicher Assistent war. Er hat zu „singen“ begonnen und könnte zum Kronzeugen werden, wobei er sichtlich bemüht ist, seine Lebenspartnerin zu entlasten, indem er möglichst alle Schuld auf sich lädt. Eva Kaili behauptet nun, von dem Geld in ihrer Wohnung „nichts gewusst“ bzw. sich „gewundert“ zu haben – (wenn sie wieder über ein paar Bündel stolperte). Giorgi soll ihr erzählt haben, dass es von einem „Freund“ stammte, der es zeitweise bei ihm parken wollte.

Abderrahim Atmoun, Francesco Giorgi, Antonio Panzeri

Auch die Frage, von wem die anderthalb Millionen stammen, welche die belgischen Beamten am 9. 11. fanden, ist noch nicht ganz geklärt. Etwas voreilig gaben die Medien dem Fall den Namen „Qatargate“. Was plausibel schien: Katar hat viel Geld, aber auch ein Image-Problem, vor allem in Europa, was sich noch einmal bei der Fußball-WM zeigte. Da es hier auch wirtschaftliche und religiöse Interessen verfolgt (von den Quatar Airways bis zum Bau von Moscheen), muss es sein Image aufpolieren.

Aber dann kam die Nachricht, dass es einen weiteren Akteur gibt, der seine Finger in dieser Angelegenheit hat: Marokko und dessen Geheimdienst Dged. Hier geht es um Handfesteres als Image-Verbesserung: Marokko hat sich in der Westsahara ein Gebiet einverleibt, in dem es reiche Phosphatvorkommen gibt, aber das den Sahrauis gehört, die um den Erhalt ihrer Unabhängigkeit kämpfen und jetzt in algerischen Lagern vegetieren. Gegen Europa, das bisher die Annexion aus völkerrechtlichen Gründen nicht anerkennt, hat Marokko allerdings ein Druckmittel: die über Marokko laufende Migration. Ergänzend widmet sich der Dged dem Aufbau und der Pflege eines „Netzes“, das im marokkanischen Interesse auf das Europaparlament einwirken soll. Daher die wiederholten Einladungen von Panzeri und Genossen in die Luxushotels von Rabat und Marrakesch, von denen sie mit Geschenken beladen nach Europa zurückkehrten, und nach Warschau, wo der marokkanische Diplomat Abderrahim Atmoun offenbar zur Schaltzentrale für Transferleistungen nach Brüssel wurde. Mit anderen Worten: Die knapp anderthalb Millionen, welche die belgischen Beamten in den Brüsseler Wohnungen fanden, stammen offenbar aus beiden Quellen.

Vom Paulus zum Saulus

Bleibt die Frage: Wie konnte sich Antonio Panzeri, der einstige Kämpfer für die Menschenrechte, so ins Gegenteil verwandeln? Im Hinblick auf Katar kann man sich mit Mühe ein paar Gründe zusammenreimen: Ansätze zu Reformen hat es dort gegeben, z. B. bei der Abschaffung des Kafala-Systems, das die aus dem Ausland rekrutierten Arbeitskräfte versklavte, obwohl die Frage offen ist, inwieweit diese Reformen tatsächlich umgesetzt werden. Daraufhin Katar ein paar Erleichterungen einzuräumen, z. B. in der Visa-Frage, konnte man noch mit dem alten pädagogischen Grundsatz rechtfertigen, dass man jemanden nicht nur kritisieren, sondern auch „an die Hand nehmen“ solle. Bleibt das Rätsel, was sich Panzeri dabei dachte, als die Geschenke und Säcke voller Geld kamen. Völlig unverständlich ist jedoch, warum er sich darauf einließ, Marokkos Annexion der Westsahara zu unterstützen, auf Kosten des Rechts eines ganzen Volkes auf Leben und Selbständigkeit (wozu mischte sich Europa in den Ukraine-Konflikt ein?). Seine NGO „Fight Impunity“ hatte sich das Gegenteil auf ihre Fahne geschrieben. Hier scheint es nur noch die trostloseste aller Antworten zu geben: Geldgier. (Dass sich Panzeri von diesem Geld auch persönlich bediente, zeigt ein abgehörtes Telefongespräch mit seiner Frau über den bevorstehenden Weihnachtsurlaub: Es dürfe diesmal, meinte seine Frau, „nicht wieder so teuer werden wie letztes Jahr, wo wir dafür fast 100.000 ausgaben“).

Die Auswirkungen

auf das Europaparlament sind verheerend. Als erstes beschloss es fast einstimmig, Eva Kaili von ihrem Amt als Vizepräsidentin zu suspendieren und alle ins Auge gefassten Abkommen mit Katar, zum Beispiel die Befreiung von Visapflicht, erst einmal auf Eis zu legen. Präsidentin Metsola: „Hier darf es keine Straffreiheit geben, das Parlament ist nicht käuflich“. Nun ist die Angst groß, dass der Ansehensverlust alle europäischen Institutionen und auch die Europäische Kommission erfassen könnte. Die in den Skandal involvierten Personen gehören der Gruppe „Sozialismus und Demokratie“ an und sind auch fast ausnahmslos Italiener. Orban, dem die EU erst vor wenigen Wochen wegen Korruption einige Milliarden € strich, kommentierte: „Und da macht sich die EU Sorgen um die Korruption in Ungarn…“.

Die PD will sich „neu gründen“. Der Sumpf, aus dem sie sich dafür herausziehen muss, ist jetzt noch tiefer geworden. Denn nun muss sie auch noch die Frage nach dem Warum dessen beantworten, was in Brüssel geschah.