Antrittsbesuche mit Hindernissen

Der frisch gebackene deutsche Bundeskanzler absolviert seine europäischen Antrittsbesuche. Nachdem er Macron Ende November in Paris besuchte, machte er kurz vor Weihnachten Draghi seine Aufwartung. Der Besuch in Rom war relativ kurz, zumal das Treffen mit dem Papst fehlte, über das im Vorfeld spekuliert worden war (wozu sich einige Kommentatoren die Anmerkung nicht verkneifen konnten, dass Scholz ein ausgetretener Protestant sei, der es auch noch bei seiner Vereidigung unterlassen habe, die Hilfe Gottes anzurufen).

Zwei Streitpunkte, die auch für Scholz heikel sind

Es waren andere Begleitumstände, die den Besuchen ihre Bedeutung gaben. Denn mit ihnen trat Scholz aus dem europapolitischen Schatten heraus, in dem er sich bisher hinter Angela Merkel befand. Wobei er es gleich mit zwei Stolpersteinen zu tun bekam: Zum einen der Streit mit Macron um die Frage, ob man die Kernenergie zu den Technologien rechnen könne, die im Kampf gegen den Klimawandel förderungswürdig seien. Und zum anderen die Forderung Italiens (und anderer südeuropäischer Länder), nach dem Auslaufen des Recovery-Programms keinesfalls wieder den alten Pakt für Stabilität und Wachstum in Kraft treten zu lassen, sondern ihn durch ein flexibleres Regelwerk zu ersetzen. Für Scholz sind es Probleme, denen er sich schon aus Rücksicht auf die ihn tragende Koalition und ihre ungeklärten Widersprüche nur auf Zehenspitzen nähern kann: Für die Grünen blinken die Warnlampen beim Thema Kernkraft, für die FDP beim Thema Stabilitätspakt.

Wer hat das europäische Sagen?

Während man sich bisher angewöhnt hatte, in Deutschland die Hegemonialmacht Europas zu sehen, scheinen die Karten seit dem Abgang von Angela Merkel neu gemischt zu werden. Mit Macron und Draghi treten zwei Akteure in den Vordergrund, deren politische Gefährdung im jeweiligen Heimatland paradoxerweise zu einer Machtressource geworden ist: Hinter der Kernenergie steht Macron, den man schon deshalb nicht links liegen lassen kann, weil er demnächst gegen europafeindliche Konkurrenten um seine Wiederwahl kämpfen muss. Und hinter der Kritik am Stabilitätspakt steht Draghi,  dem man zuhören muss, da niemand weiß, ob er nicht der letzte Garant gegen ein weiterhin mögliches „italienisches Chaos“ ist, das die gesamte EU in Bedrängnis bringen könnte. Zwischen beiden kam es Ende November zum Schulterschluss, als sie einen italienisch-französischen Bündnisvertrag unterschrieben, von dem manche glauben, er könne die Rolle übernehmen, die früher einmal der deutsch-französischen  „Achse“ zugeschrieben wurde. Damit entstehe in Europa ein neues „Dreieck“ („Triangolo“) der Macht, zu dem nun auch Italien gehöre. Das neue Selbstbewusstsein hat sein Positives: Mitverantwortung fühlt man für das, was man mitgestalten kann – Italien erlebte sich lange genug nur als Europas Objekt, von der Schuldenbremse bis zu den in Italien angelandeten Flüchtlingen.

Streitpunkt Kernenergie

Schon bei seinem Antrittsbesuch in Paris wurde Scholz mit der neuen Realität konfrontiert, indem ihn dort Macron nicht nur mit seiner These von der „grünen Kernenergie“ begrüßte, die Scholz noch mit der kühlen Antwort konterte, „dass nun einmal jedes Land im Kampf gegen den Klimawandel seine eigene Strategie verfolgt“ – eine ausweichende Antwort, weil Scholz damit die Frage umschiffte, welche Förderungswürdigkeit ihr im Rahmen des EU-Programms gegen den Klimawandel zukommen soll. Was die Frage brisant macht, sind zum einen harte wirtschaftliche Interessen – Frankreich hat in die Entwicklung einer neuen Generation von KKWs Milliarden investiert. Und zum anderen soll es eine angebliche Zusage von Merkel geben, sie in das „grüne Paket“ aufzunehmen, das in Kürze von der EU verabschiedet werden soll. Daran fühlt sich nun Scholz, mit den Grünen im Nacken, nicht gebunden, wogegen Macron  schon Verbündete innerhalb der EU sammelt, auch bei den Visegrad-Staaten. Ob es ihm gelingt, in dieser Frage auch Italien auf seine Seite zu ziehen, ist nicht entschieden. Zwar gab es hier 1987 und 2011 zwei Referenden gegen die Kernkraft, aber angesichts des Klimawandels ist dies Nein offenbar „weicher“ geworden. Mit dem Physiker Cingolani machte Draghi einen offenen Kernkraftbefürworter zu seinem Minister für den ökologischen Übergang, ohne dass sich dagegen nennenswerter Widerstand regte. Man darf gespannt sein, auf welchen Kompromiss sich die EU hier einigen wird.

Streitpunkt Stabilitätspakt

Zumal sich Macron in der Frage, die Rom besonders interessiert, rückhaltlos auf die italienische Seite geschlagen hat. Schon im Vorfeld des Paris-Besuchs von Scholz brachte Macron ein Dokument in Umlauf, das man als Entwurf für eine gemeinsame Erklärung von Macron, Draghi und möglichst auch Scholz betrachten konnte, in der konkrete Vorschläge für eine Änderung des Stabilitätspakts gemacht wurden: (1) sollen aus den 3 %, die der alte Stabilitätspakt zur Grenze der jährlichen Neuverschuldung der einzelnen Staatshaushalte gemacht hatte, die Investitionen herausgerechnet werden, die dem „grünen Übergang“ und der Digitalisierung dienen („goldene Regel“); (2) soll die Verpflichtung entfallen, die Staatsverschuldung, die 60 % des BSP übersteigt, jährlich um ein Zwanzigstel zu vermindern; und (3) soll es künftig jedem Mitglied erlaubt sein, mit der EU-Kommission einen eigenen Mehrjahresplan zum Abbau der Staatsverschuldung zu vereinbaren.

Schon während der abschließenden Pariser Pressekonferenz wurde deutlich, dass sich Scholz hier auf keine detaillierte Diskussion, geschweige denn Zusage einlassen will. Seine Taktik bestand bisher darin, einerseits auf den  europäischen Recovery-Plan als „großartiges“ Beispiel für die europäische „Flexibilität“ zu verweisen, die doch auch im Rahmen des Stabilitätspaktes möglich sei: „Wir müssen am Wachstum festhalten, das der Plan für den Wiederaufschwung ermöglichte, und gleichzeitig für die Solidität unserer Finanzen kämpfen. Hier gibt es keinen Widerspruch, das sind zwei Seiten der gleichen Medaille, und ich bin sicher, dass wir uns hier auf ein gemeinsames Konzept einigen können“. Die gleiche Linie verfolgte Scholz drei Wochen später in Rom, als er dort in der abschließenden Pressekonferenz unter Verweis auf den europäischen Recovery-Plan erklärte, Europa habe „doch längst gezeigt hat, was es kann“. Was man auch so auslegen könnte, dass er im Aussetzen der rigiden Regeln des alten Stabilitätspakts kein singuläres Ereignis sieht, allerdings ohne sich schon auf eine konkretere Zusage im Hinblick auf das Wie und Wann einzulassen. Dass Scholz in Rom gleichzeitig ankündigte, beide Länder würden von nun an „in allen größeren europäischen Dossiers nur noch mit einer Stimme sprechen“, lässt sich auch als Weichenstellung für die Berliner Koalition lesen: Wer sich verpflichtet, mit einem anderen Land einen dauerhaften Konsens anzustreben, muss auch bereits sein, häufiger als bisher die eigene Position zu relativieren.

Verliert Scholz aus Rücksicht auf seine Koalition die Initiative?

Macron und Draghi

Am 23. Dezember veröffentlichte die „Financial Times“ einen von Macron und Draghi unterschriebenen Brief, der eine Art Kondensat des Dokuments darstellt, das Scholz schon Ende November in Paris vorgelegt worden war, ohne noch dessen Einzelheiten zu nennen. Der Brief fordert eine Änderung des noch bestehenden Stabilitätspakts, der „eigentlich schon vor der Pandemie reformiert werden musste“, weil er „nicht die richtigen Anreize für eine zukunftsorientierte Ausgabenpolitik enthielt, die unsere (gemeint ist: europäische, HH) Souveränität stärkt“. Wohinter auch die Erfahrung Italiens stehen dürfte, dass sein BSP die höchsten Wachstumsraten Europas aufweist, seitdem der alte Stabilitätspakt durch das europäische Recovery-Programm (zeitweilig) außer Kraft gesetzt wurde. Nun die Nachricht, die einen deutschen Pro-Europäer ins Grübeln bringen sollte: Macron soll sich im Vorfeld auch sehr um die Unterschrift von Scholz bemüht haben. Aber sie fehlt, allen Ankündigungen der Einstimmigkeit zum Trotz. Hat sich hier Lindner durchgesetzt? Während dieser Koalitionsverhandlungen soll er geäußert haben, dass er sich als neuer Finanzminister als Vermittler mit den „frugalen“ nordeuropäischen Ländern sieht – demnach könnte man in der Nicht-Unterschrift auch einen Akt der Klugheit sehen. Aber soll sich Deutschlands Rolle in Europa künftig auf wieder auf die des Vermittlers beschränken? Zumindest in ihren letzten Amtsjahren verhielt sich da Angela Merkel anders.

Neue Unsicherheit: die Wahl des italienischen Staatspräsidenten

Es gab ein weiteres vorweihnachtliches Ereignis, das daran erinnert, dass Politik manchmal dem Versuch gleicht, feste Pflöcke in Wanderdünen zu schlagen. Eigentlich schien Mario Draghi schon in dem einen Jahr, in dem er bisher italienischer Ministerpräsident war, zu einer festen Größe nicht nur Italiens, sondern auch Europas geworden zu sein. Aber die im Januar anstehende Neuwahl des Staatspräsidenten könnte alles wieder ins Rutschen bringen. Bei der  traditionellen Pressekonferenz des Regierungschefs zum Jahresende, die Draghi am 22. Dezember abhielt, äußerte er sich endlich zu der schon lange diskutierten Frage, ob er bereit sei, dieses Amt zu übernehmen. Seine Antwort: Im Prinzip sei er bereit, sowohl sein bisheriges Amt als Ministerpräsident bis zum Frühjahr 2023 fortzuführen, als auch für die nächsten 7 Jahre das Amt des Staatspräsidenten zu übernehmen – jedoch in beiden Fällen unter der Bedingung, dass die bestehende Regierungskoalition bis zum Ende der Legislatur (auch mit einem anderen Ministerpräsidenten, aber mit dem gleichen Programm) durchhält. Was wiederum voraussetze, dass sie nicht schon im nächsten Monat bei der Wahl des Staatspräsidenten zerbricht. Die bisherige Reaktion der Parteien ist zwiespältig.

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