Di Maios Selbstkritik

Luigi di Maio übt öffentliche Selbstkritik. Das ist eine Nachricht wert, denn er ist nach Grillo und jetzt auch nach Conte der drittwichtigste Repräsentant einer Bewegung, die bisher die hochmoralische Schelte gegen andere groß und Selbstkritik klein geschrieben hat. Dass es eine Nachricht wert ist, liegt aber auch am Aufhänger der Selbstkritik, bei dem es um ein bisheriges Lieblingsthema der 5Sterne geht: Das Verhalten gegenüber politischen Gegnern, die ins Visier der Justiz gerieten.

Das Erbe der Empörung

Was die 5-Sterne-Bewegung groß gemacht hat, war der Kult der Empörung, für die es in Italien ein besonders empfängliches Publikum gibt. Sein Protagonist war Beppe Grillo, der Übervater der Bewegung, der als genialer Schimpfzwerg gegen „die Verbrecher da oben“ über die Marktplätze Italiens tingelte, mit einer Beifall klatschenden Anhängerschaft, die er zu ihrer Immunisierung dann auch im Chor „Siamo tutti populisti!“ schreien ließ. Und für die er, als sie immer weiter anwuchs, den „Vaffa-day“ erfand, den „Leck-mich-am-Arsch-Tag“, an dem sich das anständige und hart arbeitende Volk in seinem Protest gegen die regierende und sich bereichernde Kaste selbst feiern konnte. Zu deren Inbegriff Berlusconi wurde, so lange er am Ruder war: unermesslich reich, korrupt, immer im Clinch mit der Justiz, und mit einem Heer von Anwälten, die den Chef durch den Kauf entlastender Zeugen oder schlichte Prozessverzögerung immer wieder über die Runden zu retteten, bis alles verjährt war.

Aus dieser Zeit stammt der Hader der 5SB mit einer Justiz, die es durch eine vermeintlich allzu liberale Auslegung der verfassungsmäßig garantierten Unschuldsvermutung (Art. 27: „bis zur endgültigen Verurteilung“) immer wieder den Berlusconis dieser Welt ermögliche, sich ihrer Strafe zu entziehen. Mit der Konsequenz, Vertreter der Kaste, die auch nur in den Verdacht einer strafbaren Handlung geraten, sofort öffentlich zu stigmatisieren, zum unverzüglichen Rücktritt aufzufordern und ihnen auch das Recht auf Verjährung ihrer Verfahren und unterstellten Straftaten so weit wie möglich abzusprechen. In die Geschichte der italienischen Rechtspolitik ging das als die immerwährende Auseinandersetzung zwischen „Giustizialisti“ und „Garantisti“ ein, also zwischen denen, die den Hauptzweck der Justiz darin sehen, Gesetzesbrecher zu bestrafen und dabei niemanden durch ihre Maschen schlüpfen zu lassen, und denen, die ihn darin sehen, Gerechtigkeit zu üben, was auch die erwähnte Unschuldsvermutung für Angeklagte umfasst. Beides enthält Risiken: Der „Giustizialismo“ nimmt in Kauf, dass auch Unschuldige unter die Räder geraten, der „Garantismo“ liefert auch Schuldigen Ansatzpunkte, um straffrei zu bleiben (besonders wenn sie Geld haben). Der populistische Furor der 5-Sterne-Bewegung nährte sich einseitig aus dem „Giustizialismo“, der sich allerdings fast ausschließlich gegen die „Verbrecher da oben“ richtete, nicht gegen die vielen kleinen Sünder da „unten“, was das halbe Volk auf die Anklagebank bringen würde.

Die Bedeutung von Di Maios Selbstkritik besteht in dem Eingeständnis, dass der einseitige „Giustizialismo“ der 5SB zu menschenverachtender Illiberalität führen kann, und er dabei einen Fall aufgreift, an dem er selbst aktiv beteiligt war.

Der Fall Uggetti   

Simone Uggetti im Moment des definitiven Freispruchs

Lodi ist eine kleine lombardische Stadt mit 46.000 Einwohnern, zu deren Bürgermeister 2013 der PD-Mann Simone Uggetti gewählt wurde. 2016 geriet er aufgrund einer Anzeige in Verdacht, eine Ausschreibung manipuliert zu haben, bei der es um den Sommerbetrieb zweier städtischer Schwimmbäder ging – er habe den Auftrag mit unlauteren Mitteln einem Unternehmen zugeschanzt, an dem die Stadt beteiligt war, und dann versucht, die Spuren des Vergehens zu verwischen. Obwohl es um relativ kleine Summen ging (5000 € jährlich) und als Nutzen für Uggetti nur ein politischer Popularitätsgewinn erkennbar war, wurde er Anfang Mai auf spektakuläre Weise zu Hause verhaftet und mit großer Polizeieskorte zunächst ins Rathaus und dann in Untersuchungshaft gebracht (die 10 Tage später in Hausarrest verwandelt wurde). Di Maio von der 5SB und Salvini von der Lega, die sich zu der Zeit in vielen Kommunen im Wahlkampf befanden, reisten sofort an, um auf der Piazza von Lodi Großkundgebungen abzuhalten, in denen sie die Verhaftung zum Beweis für die Korruptheit der von Mittelinks geführten Stadtverwaltung und der gesamten PD erklärten und das Rathaus („in dem sich noch andere Betrügereien verstecken“) öffentlichkeitswirksam belagerten, flankiert durch den von ihnen angefachten shit storm in den sozialen Medien. Als Uggetti im August 2016 von seinem Amt zurücktrat, übernahm dies ein von der Region eingesetzter „Kommissar“, bis es im 2017 zur kommunalen Neuwahl kam, die von der Lega klar gewonnen wurde, und Uggetti in erster Instanz zu 10 Monaten Gefängnis verurteilt wurde. Der legte Revision ein, musste aber weitere vier Jahre warten, bis ihn vor wenigen Tagen ein Appellationsgericht freisprach, da hier kein Straftatbestand vorgelegen habe („il fatto nun sussiste“). „Nicht das Gefängnis war das schlimmste, sondern die Schande“, sagt er heute. Seine Weste ist rein, aber seine politische Existenz ist seit 5 Jahren zerstört.

Die öffentliche Entschuldigung

Nun geschah das Unerwartete: Unmittelbar nach Uggettis definitivem Freispruch schrieb Di Maio einen Brief an die Tageszeitung „Il Foglio“, in dem er sich für die Rolle entschuldigt, die er selbst nach der ersten Verhaftung Uggettis im Jahr 2016 gespielt habe, auf die er nun „mit den Augen von heute“ zurückblickt. „Die Art und Weise, mit der wir damals den ehemaligen Bürgermeister angriffen, erscheint heute, auch angesichts des Freispruchs, grotesk und ungehörig“. Wobei er auch die eigene Rolle nicht unterschlägt und dies nicht nur auf seinen Auftritt in Lodi bezieht: „Auch ich habe zur Verschärfung des Tons und des Klimas beigetragen“. Zwar sei er immer noch der Meinung,  „dass das Handeln jeden Amtsträgers für die Bürger transparent sein muss und die moralische Frage nicht auf dem Altar eines ‚blinden‘ Garantismus geopfert werden darf.“ Hier gehe es aber um anderes: „den Gebrauch des Prangers als Mittel des Wahlkampfs. Alle politischen Kräfte hatten das Recht, den Bürgermeister zum Rücktritt aufzufordern, aber die Kampagnen in den sozialen Medien, die Sit-ins auf der Piazza, die Unterstellungen, das Reden in Konditionalsätzen, die wie im Nachhinein gesagte Indikativsätze klingen, das ist zutiefst falsch. Die legitime politische Forderung ist eine Sache, die Barbarisierung der Debatte, die sich mit strafrechtlichen Fragen vermischt, eine andere… Für mich gibt ein Recht der Politik, legitime Kritiken und Forderungen vorzubringen, aber auch das Recht der Person, dass ihre Würde bis zum definitiven Urteil und auch darüber hinaus respektiert wird.“

Dem chaotischen Bild, das die 5SB gerade jetzt wieder bietet, ist damit ein Mosaiksteinchen hinzuzufügen: Sie ist – zumindest in Teilen – lernfähig. Di Maio legt in seinem Brief an den „Foglio“ selbst die Spur zu den Erfahrungen, die diesen Prozess in Gang setzten: Indem er auf die „Ironie des Schicksals“ verweist, dass er wenige Stunden nach seinem Auftritt in Lodi aus den Medien erfahren habe, dass die Justiz nun auch wegen Amtsmissbrauchs gegen den Bürgermeister von Livorno ermittele – und der war ein Mann der 5-Sterne-Bewegung. Das andere Beispiel ist die römische Bürgermeisterin Virginia Raggi, die ähnlich wie Uggetti erst nach einem 5-jährigen juristischen Kampf freigesprochen wurde (aber sich zwischenzeitlich hartnäckig weigerte, zurückzutreten, wofür die 5SB sogar ihre Regeln ändern musste). Es ist ihr eigener Erfolg, der die 5SB zum Perspektivwechsel zwingt: Solange sie nur eine Protestbewegung „gegen die da oben“ war, konnte sie ihrer „Hinrichtungsmentalität“ freien Lauf lassen; sobald sie aber selber Abgeordnete in die Parlamente schickte und Bürgermeister stellte, entdeckte sie, dass auch ihre eigenen Leute verwundbar sind – und welchen Wert Garantien haben , die die Rechtordnung auch für Leute bereit hält, die in ihr Visier geraten sind.

Contes Ja-aber

Natürlich kann man Di Maio vorwerfen – wie es z. B. Roberto Saviano tut –, dass seine Selbstkritik noch weiter gehen und sich z. B. auch auf seine perfide Diffamierung der NGO-Schiffe, die Flüchtlinge vor dem Ertrinken retten, als „Taxis des Mittelmeers“ beziehen müsste. Und man kann auch vermuten, dass er mit seiner Selbstkritik Virginia Raggi unter die Arme greifen will, die im Herbst wieder bei der römischen Kommunalwahl antritt. Ein nicht einfaches Unterfangen, weil sie eben nicht nur das Opfer einer entfesselten Staatsanwaltschaft war, das nun endlich freigesprochen wurde, sondern weil sie auch ganz unabhängig davon eine unfähige Bürgermeisterin ist.

Aber selbst wenn es für Di Maios Selbstkritik auch weniger edle Motive gibt, bliebe sie, die ja auch eine Kritik am „Giustizialismo“ ist, ein Fortschritt, der vielleicht die Chancen für ein neues besseres Justizgesetz erhöht (wofür dann der nicht weniger interessierte „Garantismo“ Berlusconis und Salvinis zum Hindernis werden könnte). Allerdings sind die Reaktionen, welche die Selbstkritik Di Maios auslöste, auch in der 5SB selbst zwiespältig geblieben. Beginnend mit Giuseppe Conte, von dem zunächst ein uneingeschränkt positives Echo kam, indem er verlauten ließ, dass „es immer eine Tugend ist, einen Fehler einzugestehen“, und er ja schon selbst „das Primat der Person und seiner Würde in die Charta der Prinzipien und Werte der neuen 5-Sterne-Bewegung aufgenommen“ habe, an der er in den letzten Wochen arbeite. Will sagen: Das könnte von mir sein. Um aber kurze Zeit später hinterherzuschicken, dass die Bewegung trotzdem auch bei der Justizreform unverrückbar an ihren Prinzipien festhalte – genau das, was der antiliberale Flügel um Di Battista, der zwar selbst ausgetreten ist, dessen Anhängerschaft in der 5SB Conte aber noch umwirbt, hören will. Di Maio ist vorgeprescht, und Conte hat ihm ein Ja-aber hinterhergeschickt.