Vermintes Gelände

Draghi hat am Mittwoch und Donnerstag in beiden Kammern sein Regierungsprogramm vorgestellt und die folgenden Vertrauensabstimmungen grandios überstanden. Im Senat, wo die Mehrheitsverhältnisse traditionell knapp sind, sprachen sich 262 Abgeordnete für und 40 gegen ihn aus, in der Abgeordnetenkammer war das Verhältnis 535 zu 56. Ein haushoher Sieg – so scheint es – nicht nur für Draghi, sondern auch für Europa. Eine Regierung, hinter der eine so komfortable Mehrheit steht, ist krisensicher. Sollte man meinen.

Das Programm

Das Regierungsprogramm, mit dem er um Vertrauen warb, präsentierte zunächst Aufgaben, die in der gegenwärtigen Situation eigentlich selbstverständlich sind und schon Ziele der Vorgängerregierung waren: Bekämpfung der Pandemie, Impfprogramm, Reform des Gesundheitssystems, Bewältigung der wirtschaftlichen und sozialen Pandemiefolgen. Bei der Entscheidung über die Recovery-Mittel sind längerfristige Weichenstellungen notwendig: Die Perspektive sei ein „Neuer Wiederaufbau“ („Nuova Ricostruzione“) ähnlich wie der nach dem Zweiten Weltkrieg, mit dem ehrgeizigen Ziel, „unseren Kindern und Enkeln ein besseres und gerechteres Land zu hinterlassen“. Das heißt eine Bildungsreform, die besser als bisher technische Fertigkeiten und Kenntnisse vermittelt; eine Justizreform, die insbesondere auch im Bereich des Zivilrechts die Effizienz erhöht; Reformen für mehr soziale Gerechtigkeit, z. B. des Steuersystems und gegen die Benachteiligung der Frauen. Und eine ökologische Wachstumspolitik, die nicht einfach unterschiedslos alle ökonomischen Tätigkeiten unterstützt. „Wir wollen nicht nur gute Moneten, sondern auch einen guten Planeten hinterlassen“ (auf Italienisch reimt es sich besser: „Vogliamo lasciare un buon planeta, non solo una buona moneta“).

Die Abstimmungsergebnisse überdecken aber auch Probleme. Die insbesondere die beiden politischen Formationen betreffen, die bei Conte 1 Verbündete waren, sich bei Conte 2 trennten und nun wieder beide zum Bündnis gehören, ohne sich besonders zu mögen: die 5-Sterne-Bewegung und die Lega.

5-Sterne-Bewegung vor der Implosion?

Da die 5SB den Rücktritt von Conte als ihre Niederlage betrachtet, wollte Grillo im Amtsantritt von Draghi auch einen Sieg sehen, weil er die ökologische Wende in den Mittelpunkt seines längerfristigen Reformprogramms stellt. Für die 5SB bedeutet dies eine Rückkehr zu ihren Wurzeln, da zu ihren ersten Keimzellen selbstorganisierte lokale Umweltschutz-Initiativen gehörten. Als Draghi bei der Vorbereitung seiner Regierung mit Grillo über sein Reformprogramm sprach, scheint ihm dieser sofort die Einrichtung eines Ministeriums für den ökologischen Übergang vorgeschlagen zu haben, das die Wende organisieren sollte. Als sich Draghi dazu bereit zeigte, stellte dies Grillo als Erfolg seiner Bewegung dar, was er dann auch gleich ins Zentrum der Frage stellte, mit der die „Basis“ bei der obligatorischen Online-Abstimmung den Eintritt der Grillini in das Draghi-Bündnis absegnen sollte. Dass sich dann nur 60 % derer, die sich an der Abstimmung beteiligten, für den Eintritt in das Bündnis entschieden, zeigte aber auch, dass für eine starke Minderheit andere Gesichtspunkte mindestens genauso wichtig sind, z. B. die Ablehnung Berlusconis, mit dem die 5SB (im Unterschied zu Salvini) „nie“ zusammengehen wollte. Oder das Misstrauen gegen Draghi, der als ehemaliger Banker ein Exponent des Establishments sei, das die 5SB immer bekämpft habe (ein „Mann der Elite“, wie sofort Di Battista erklärte, was schon einem Todesurteil gleichkam). Und dies verband sich dann doch mit der Empörung über den Rücktritt von Conte, in dem die Grillini – nicht zu Unrecht – eine von Renzi angezettelte Palastintrige sehen.

Ettore Licheri im Senat

Aufschlussreich für ihre Seelenlage war die leidenschaftliche Rede, mit der Ettore Licheri, der grillinische Fraktionsvorsitzende im Senat, am Ende der Vertrauensdebatte seine schwankenden Fraktionskollegen für das Ja zu gewinnen suchte: Ihr habt Recht, wir wurden in den letzten 2 Jahren zweimal „verraten“, erst von Salvini, dann von Renzi, und jetzt sollen wir uns mit beiden wieder verbünden? Eine politische Aufarbeitung des Bündnisses mit Salvini hat es in Wahrheit bisher nicht gegeben: Seine Sünde war der „Verrat“, d. h. die Missachtung der 5SB, was jetzt auch die Sünde Renzis ist. Da kann die Antwort auf die Vertrauensfrage nur ein Nein oder ein Ja mit großem Vorbehalt sein.

Bisher sind es zwar nur Minderheiten, die sich in beiden Kammern für das Nein, die Enthaltung oder das schlichte Fernbleiben von der Abstimmung entschieden, aber genug (15 im Senat, ca. 30 in der Abgeordnetenkammer, wenn man die „Abwesenden“ mitrechnet), um schon von Spaltung reden zu können.

Dass sich die Krise der 5SB fortsetzt, ist vorprogrammiert. Denn nun haben die Gralshüter der direkten digitalen Demokratie ein Problem, das an ihre ideologische Substanz geht: Plötzlich gibt es Abweichler, die sich in einer Frage, die die „Basis“ entschieden hat (wenn auch nur 60 zu 40), aufs eigene „Gewissen“ berufen. In einer Bewegung, die sich dem imperativen Mandat verpflichtet hat, ist dies ein Unding – die Dissidenten müssten sofort ausgeschlossen werden. Aber werden sie es? Jetzt kommt die Lebenslüge ans Licht, in der die 5SB bisher gelebt hat. Für die größte politische Formation, auf die sich Draghi im Parlament stützt, besteht akute Implosionsgefahr.

Lega: im Angriffsmodus

Dass sich Salvini entschloss, den Aufruf des Staatspräsidenten zur Unterstützung der von ihm eingesetzten Notstandsregierung Draghi zu folgen, war eine Überraschung, mit der wohl auch Mattarella nicht gerechnet hatte. Zunächst schien es nur ein aus der Not geborenes taktisches Manöver zu sein, weil es die norditalienische Geschäftswelt Salvini nie verziehen hätte, ihr den Zugang zu den Recovery-Milliarden zu versperren, für den Draghi den Schlüssel in der Hand hält. Jetzt zeigt sich, dass Salvini aus seinem Beitritt mehr machen will.

Es ist eine Art Doppeltaktik: Auf der einen Seite spielt er alle Themen herunter, die ihn in direkten Konflikt mit Draghi bringen könnte, und deutet seine fortbestehende reservatio mentalis nur noch in Nuancen an. Wenn Draghi erklärt, zum Bündnis gehöre auch die Überzeugung von der „Irreversibilität“ des Euro, antwortet Salvini, dass Draghi erstens „immer Recht“ habe, der Euro zweitens „keine aktuelle Frage“ und drittens „nur der Tod irreversibel“ sei. Wenn Draghi sagt, dass zum Bündnis auch die Überzeugung gehöre, dass sich Europa weiter integrieren müsse, z. B. mit einem gemeinsamem Haushalt, sagt Salvini, dass er nur das Recht zur Kritik haben wolle, „wenn Europa Arbeitslosigkeit und Betriebsschließungen und Fehler bei den Bestellungen des Impfstoffs bedeutet“. Wenn Draghi eine Migrationspolitik verspricht, die den europäischen Regeln folgt, zu denen auch die Rückführung von Menschen ohne Bleiberecht gehöre, aber auch die volle Respektierung des Asylrechts, beschränkt sich Salvini darauf, die „Rückführung“ zu beklatschen, aber den Zusatz zu vergessen. Und wenn Draghi den nationalistischen  „Souveränismus“ direkt angreift, weil es „keine Souveränität in der Einsamkeit“ gebe, sondern nur im europäischen Verbund, schweigt Salvini.

Auf der anderen Seite entwickelt er wuselige Geschäftigkeit, etwa indem er

  • sich zum Sprecher der norditalienischen Organisatoren des Ski-Tourismus macht, die Entschädigungen für die finanziellen Einbußen verlangen, die sie durch das pandemiebedingte Verbot des Wintersports erlitten haben, und dabei heftig den Gesundheitsminister der PD angreift, der dies Verbot viel zu spät erlassen habe (aber erst seit einem Tag wieder im Amt ist);
  • sich der Reihe nach mit allen Ministern und Parteichefs zwecks gemeinsamer „Absprachen“ trifft;
  • und im Senat den Ministerpräsidenten hochleben lässt, weil dieser zugesagt habe, mit EU-Mitteln die Brücke über die Meerenge von Messina zu finanzieren (ein Lieblingsprojekt der italienischen Rechten, über das Draghi bisher noch kein Wort fallen ließ).

Womit er sich als eine Art playmaker und Mitgestalter der Regierung präsentiert (in Deutschland würde man sagen: Vizekanzler).  Und wenn er dann ganz nebenbei die Forderung stellt, den freien Posten eines Staatssekretärs im Innenministerium mit einer Person seines Vertrauens zu besetzen, „um die Kontinuität unserer Immigrationspolitik zu sichern“, zeigt der Wolf, dass er nicht nur Omas Nachtmütze trägt. Wogegen die PD schon ihr Veto eingelegt hat und wozu Draghi Farbe bekennen muss.

Verschiebung der Kräfteverhältnisse

Die Lage ist also nicht ganz so idyllisch, wie es das Ergebnis der Vertrauensabstimmungen erwarten lässt. Der 5-Sterne-Bewegung, die in beiden Kammern die größten Fraktionen stellt und mit der die PD eigentlich ein längerfristiges Bündnis gegen den Rechtsblock eingehen wollte, droht die Spaltung, wenn nicht gar auf längere Sicht die Auflösung. Die Lega ist dem Draghi-Bündnis beigetreten, um es von innen aufzumischen, wobei ihr die beginnende Spaltung der 5SB zugute kommt: Die beiden von Salvini und Berlusconi geführten rechten Gruppen, die sich ständig konsultieren, verfügen schon jetzt im Senat über mehr Abgeordnete als das durch die Krise der Grillini dezimierte Bündnis 5SB-PD-LeU (das in der Abgeordneten-Kammer noch die Mehrheit hat). Draghi ist realistisch genug, um sich auf diese Verschiebung der Kräfteverhältnisse einzustellen. Die Frage ist, wie weit er dabei gehen wird – auch er hat politisches Gewicht, schon aufgrund seiner Popularität. Salvinis Forderung, im Innenministerium einen Kontrollposten gegen Lamorgese zu bekommen, wird hier ein erster Prüfstein sein.

Könnte es letztlich doch leichter sein, den Euro zu retten, als Italien?

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