Der neue Plan für den Süden

Leider ist Süditalien nicht nur das Traumland deutscher Italophiler, die ihm (mit Benn) „immer zuschluchzen“, sondern auch ein sozio-ökonomisches Dauerproblem, an dessen Bewältigung sich die italienische Politik seit mindestens 75 Jahren die Zähne ausbeißt. Die Liste der (mehr oder minder ernstgemeinten) Anläufe, die sie zu diesem Zweck unternahm, ist lang, ebenso wie die Liste der Misserfolge, die sie sich dabei immer wieder einhandelte. Der letzte Versuch war die Einführung eines „Bürgergeldes“ durch die Regierung Conte 1,  mit dem die 5-Sterne-Bewegung zwar einen kurzfristigen Kantersieg einfahren konnte, dem aber längst Enttäuschung folgte – der Süden droht das Auswanderungsland zu bleiben, zu dem er im Laufe seiner Geschichte immer wieder wurde.

Provenzano und der Recovery Fund

Der „rote Peppe“

Jetzt will es die Regierung Conte 2 erneut versuchen, und ihre Ausgangsposition scheint gar nicht so schlecht zu sein. Denn erstens hat ihr die EU mit dem Recovery Fund Finanzhilfen in Aussicht gestellt, wie sie in dieser Höhe noch keiner Regierung zur Verfügung standen – und zwar nicht nur, um die Wunden zuzupflastern, die die Pandemie geschlagen hat, sondern um bei dieser Gelegenheit endlich auch einige der strukturellen Probleme anzugehen, die das Land seit Menschengedenken belasten und zu denen auch „Il Sud“ gehört. Und zweitens hat sie einen zuständigen Minister, der einige dafür nötige Kompetenzen mitbringt. Der aus Sizilien stammende 38-jährige Giuseppe Provenzano ist nach seinen eigenen Worten im Schatten der Mafia-Bomben aufgewachsen: Sein erstes „politisches“ Erlebnis habe er als knapp Zehnjähriger gehabt, als die Cosa Nostra den Antimafia-Richter Falcone samt Frau, Eskorte und einem Stück Autobahn in die Luft jagte. Im Unterschied zu anderen „Provenzanos“, die Karriere bei der Cosa Nostra machten, wurde er ein militanter Mafia-Gegner, ging zur PD und wird heute nicht nur wegen seiner Haarfarbe der „rote Peppe“ genannt. Er studierte Jura, spielt Gitarre und Saxofon und wurde 2010 Mitarbeiter des Instituts SVIMEZ, das sich der Entwicklung des Südens durch staatliche Investitionen verschrieben hat und zu dessen Vizedirektor er 2016 wurde.

Der Gesamtplan und sein erster Baustein

Als er 2019 in die Conte 2-Regierung als Minister für den Süden und territoriale Kohäsion berufen wurde, war klar, dass er mehr anstrebte als eine Fortsetzung des „Assistenzialismo“, d. h. sozialer Wohltaten nach dem Gießkannenprinzip wie zuletzt das „Bürgergeld“. Aber erst die in diesem Sommer getroffene EU-Entscheidung zur Schaffung des Recovery Funds gibt ihm die Mittel an die Hand, um ein Programm in Angriff zu nehmen, das eine breitgefächerte Palette staatlicher Strukturhilfen umfassen soll: ganztägige Kindergärten und Schulen, Krankenhäuser, Ausbildung für Frauen, die berufstätig werden wollen, Gerichte, verbesserte und beschleunigte Erreichbarkeiten, Start-ups, nachhaltige Landwirtschaft, integrierte Abfallwirtschaft. Politisch werden dem „Süden“ 9 Regionen zugerechnet, die auf EU-Ebene unter die Rubrik „Gebiete mit schweren sozioökonomischen Problemen“ fallen (wichtigstes Kriterium: das regionale Bruttosozialprodukt liegt pro Kopf mindestens 25 % unter dem EU-Durchschnitt). Provenzano fordert, dass 34 % der für Italien vorgesehenen 209 Milliarden aus dem Recovery-Fund in dieses Aufbauprogramm gehen – „weil in diesen 9 Regionen 34 % der italienischen Gesamtbevölkerung leben“.

Das ist der Gesamtplan, dessen Details noch auszuarbeiten sind. Den ersten Baustein brachte er jedoch schon im sog. „August-Dekret“ seiner Regierung unter: Nicht nur um die direkten Auswirkungen der Covid-Rezession auf die Beschäftigungssituation zu verhindern, sondern um bei dieser Gelegenheit auch die Ansiedlung von Unternehmen im Süden noch attraktiver und wettbewerbsfähiger zu machen, werden ihnen 30 % der Sozialbeiträge erlassen, die sie gegenwärtig für ihre Beschäftigten zu zahlen haben (wobei mit Brüssel zu verhandeln sei, ob diese Steuererleichterungen für weibliche Beschäftigte nicht noch höher ausfallen könnten, am besten bis zu 100 %). Das August-Dekret kann diese Maßnahme zunächst nur bis zum Jahresende gelten lassen, will ihr aber eine viel langfristigere Perspektive geben, indem sie bis 2029 verlängert werden soll (mit stufenweisem Abbau ab 2026), was den Staat jährlich 5-6 Mrd. kosten wird. Zwar hatten auch schon frühere Regierungen versucht, die Ansiedlung von Unternehmen im Süden mit ähnlichen steuerlichen Entlastungen zu fördern, aber sie hatten meist sehr viel kurzatmigere Fristen, was langfristig planende Unternehmen eher abschreckte. Und sie galten nur für Beschäftigte mit unbefristeten Arbeitsverhältnissen, während bei der jetzt geplanten Steuererleichterung auch Beschäftigte berücksichtigt werden sollen, mit denen die Unternehmen nur befristete Arbeitsverträge abgeschlossen haben.

Zwei Steine des Anstoßes

In diesen Maßnahmen stecken zwei Stolpersteine. Der erste ist die steuerliche Bevorzugung einer ganzen Region, was ursprünglich auch in Brüssel auf hochgezogene Augenbrauen stieß, weil sie offenbar nicht in die bisher geltenden Lehrbücher passte. Provenzanos Antwort lautet, dass er diese Maßnahme auf jeden Fall in Abstimmung mit Brüssel weiterverfolgen werde, zumal die EU-Kommission in diesem Punkt inzwischen eine andere Position bezogen und für Italien die „territoriale Kohäsion“ zur obersten Priorität erklärt habe. Aber es gibt auch Anstoßnehmer innerhalb Italiens, von denen schon die ersten Kassandra-Rufe zu vernehmen sind: die Unternehmer des Nordens und ihre politischen Lobbyisten, zu denen nicht nur Salvinis Lega, sondern auch der frisch gewählte Gouverneur der Emilia Romagna Bonaccini (PD) gehört. Sie prophezeien,  dass so die PD zur reinen „Partei des Südens“ werde und sich im Norden politisch selbst erledige. Worauf Provenzano erwidert, dass die geplanten Maßnahmen gerade dem Ziel dienten, die territorialen Unterschiede zu vermindern und so die „nationale Einheit“ aufrecht zu erhalten. Zumal der Staat ja auch versuche, ausländisches Kapital zu Investitionen in Süditalien zu ermuntern, wovon der Norden profitieren werde, weil „von 10 Euros, die im Süden investiert werden, 4 Euros im Norden als Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen ankommen“.

Der zweite Stein des Anstoßes ist die Einbeziehung befristeter Arbeitsverträge in die steuerliche Begünstigung. Dies stört vor allem die Gewerkschaften, die schon lange gegen ihre inflationäre Ausdehnung in vielen Bereichen kämpft. Wogegen Provenzano einwendet, dass es gerade im Süden darauf ankomme, erst einmal das „Auftauchen der irregulären Arbeit“ aus der dort verbreiteten Schattenwirtschaft zu fördern. Ein Argument, dessen Stichhaltigkeit deutlich wurde, als es auf dem Höhepunkt der Pandemie zu regelrechten Hungerrevolten von Menschen kam, die sich bis dahin durch Schwarzarbeit oder andere halblegale Tätigkeiten über Wasser gehalten hatten und nun plötzlich nicht nur ohne Arbeit, sondern auch ohne jeden sozialen Schutz dastanden. Die Entlastung der Unternehmen von 30 % ihrer Sozialbeiträge auch auf die nur befristet Beschäftigten auszudehnen, könnte – so offenbar die Hoffnung – für die Unternehmen ein Anreiz sein, auch für diese Beschäftigten die Karten auf den Tisch zu legen.

Man sieht an Provenzanos Plan, welche Bewegung der Recovery Fund in Verhältnisse bringen kann, die versteinert scheinen. Auch dieser Plan ist sicherlich nicht ohne ökonomische und politische Risiken – die Demagogie, hier werde der Norden dem Süden „geopfert“, hat schon begonnen. Viel wird davon abhängen, ob und wie die gegenwärtige Regierung die nächsten Monate und die jetzt anstehenden Regionalwahlen politisch übersteht. Der gebürtige Sizilianer Provenzano hat sein Motiv schlicht ausgedrückt: Er möchte  dafür „arbeiten, dass der Süden wieder zu einem Ort wird, zu dem man zurückkehren kann – oder besser noch: an dem man bleiben kann“.