Momentaufnahmen eines Landes unter Quarantäne

Es ist derzeit sehr schwierig, konkrete Angaben über die dramatische Entwicklung des Coronavirus in Italien zu erstellen, da die Zahl der (festgestellten) Erkrankungen und der Todesopfer – zumindest bisher – stündlich wächst. Heute am 14. März (Stand 18.00 Uhr) lag sie bei 21.157 Infektionsfällen, darunter 1.518 Intensivpatienten und 1.441 Toten. Um die rasante Ausbreitung zu verlangsamen, hat die Regierung seit dem vergangenen Wochenende die Restriktionen fast täglich verschärft.

Das erste Gesetzesdekret mit drakonischen Maßnahmen trat am vergangenen Sonntag in Kraft. Damit wurden die ganze Lombardei und 14 Provinzen in den Regionen Piemont, Emilia-Romagna, Venetien und Marken zu „Orangenen Zonen“ erklärt. Mit Verboten von Veranstaltungen jeglicher Art, der Schließung von kulturellen und sportlichen Einrichtungen, der Einschränkung von Öffnungszeiten bei Geschäften und Lokalen und der Aufforderung an die Einwohner, zu Hause zu bleiben und die Wohnung nur für notwendige Einkäufe und Gänge zum Arzt zu verlassen. Eine Entfernung vom eigenen Wohnort ist nur aus beruflichen und gesundheitlichen Gründen erlaubt, die von den Betroffenen schriftlich zu attestieren sind.

Ein Dekret jagt das nächste

Kaum ein Tag später, am späten Montagabend, dann eine neue Ankündigung von Ministerpräsident Conte: Die Schutzmaßnahmen werden auf ganz Italien ausgeweitet. Es gibt ab sofort keinen Unterschied mehr zwischen „orangenen“ Zonen und dem Rest des Landes. Ganz Italien wird unter Quarantäne gestellt – oder, wie Conte sagte – zum “Schutzgebiet“ („zona protetta“) erklärt.

Die kurzfristige Entscheidung zu diesem Schritt fällte die Regierung nicht allein wegen des besorgniserregenden Weiterwachsens der Infektionsfälle, sondern auch des verantwortungslosen Verhaltens eines Teils der Bevölkerung, die in Missachtung der realen Gefährdungslage genau das Gegenteil dessen taten, was ihnen abverlangt wurde. Dazu nur zwei Beispiele:

Noch bevor am 8. März von der Regierung das Dekret zur Einrichtung „orangener Zonen“ bekanntgegeben wurde, veröffentlichten einige Medien den Entwurf schon am Samstagabend. Laut CNN waren es Regionalpolitiker der Lega, die den Entwurf gleich an sie weitergeleitet hatten (die Regierung hatte ihn zuvor an die Regionen zur Abstimmung vorgelegt). Kurz danach gab es einen Massensturm auf Bahnhöfe in Norditalien, besonders in Mailand: Tausende von Menschen, die aus Süditalien stammen bzw. dort Familie und Verwandte haben, pferchten sich – mit oder ohne Fahrschein – in die Nachtzüge, um den für Norditalien verhängten Restriktionen zu entfliehen. Nach Kalabrien, Kampanien, Apulien oder Sizilien. Und nahmen damit in Kauf, damit auch in diesen – bisher noch – weniger betroffenen Regionen, in denen die gesundheitlichen Infrastrukturen prekärer als im Norden sind, dem Coronavirus aktiv zur Weiterverbreitung zu „verhelfen“. Die südlichen Regionalverwaltungen erließen Eilanordnungen, um die Reisenden zu stoppen oder zumindest dazu zu bringen, sich in Quarantäne zu begeben. Angesichts der Kurzfristigkeit und der chaotischen Verhältnisse allerdings nur mit mäßigem Erfolg.

Ein weiteres abschreckendes Bild boten am Wochenende, an dem das Dekret in Kraft trat, die großen abendlichen Ansammlungen in zahlreichen Orten, bei denen sich vor allem junge Leute zu ihren beliebten „Aperitivrunden“ trafen. Bars und Lokale waren drinnen wie draußen voll, die Menschen saßen eng zusammen, sich fröhlich zuprostend, sich umarmend und küssend. Gefragt, ob ihnen die Folgen dieses Verhaltens klar seien, lauteten die Antworten: „Ich bin 25! Soll ich mich etwa zu Hause einsperren lassen?“, „Ich lebe einfach so weiter und tue so, als ob nichts wäre!“, „Wir Jungen werden nicht krank, nur die Alten!“.

Inzwischen hat die Regierung mit einem dritten Dekret – vor allem auf Druck der norditalienischen Regionen, deren Gesundheitssystem gerade kollabiert – die Schrauben noch enger angezogen: Alle Lokale und Geschäfte, die bisher bis 18 Uhr öffnen durften, werden nun komplett geschlossen. Ausgenommen sind nur Supermärkte, Lebensmittelgeschäfte, Zeitungskioske, Drogerien, Apotheken … und Tabakgeschäfte (!).

Gespenstische Leere und Stille in den Städten

Was den Chinesen möglicherweise entscheidend half, die weitere Ausbreitung zu bremsen und fast zu stoppen – eiserne Disziplin bei der Beachtung der erlassenen Restriktionen, begünstigt durch ein autoritäres Regime, dass keinen Widerspruch bzw. Alleingang duldet –, schien zunächst an dem Hang der Italiener, Regeln nicht zu beachten und im Zweifelsfall die eigenen Bedürfnisse über alles zu stellen, zu scheitern.

Wohlgemerkt: zunächst. Denn das Erstaunliche ist, dass sich nach Ausweitung des Ausnahmezustandes auf das ganze Land zwar nicht alle, aber doch die meisten Menschen inzwischen an die Vorgaben der Regierung halten. Ohne merkliches Murren. Zumindest bisher. Die Städte im Norden wie im Süden, von Mailand bis Rom, Neapel und Palermo sind menschenleer, die Rolladen von Geschäften und Lokalen heruntergelassen. Vor den Supermärkten halten die Menschen den markierten vorgeschriebenen Abstand ein und warten geduldig, bis sie in kleinen Grüppchen hineingelassen werden. Auch wenn es hier und dort immer wieder zu Ermahnungen der Ordnungskräfte und auch zu Geldstrafen wegen der Verstöße einzelner Bürger oder Geschäftsinhaber kommt: im Großen und Ganzen „funktioniert“ es landesweit.

Meine Verwandten und Freunde in Rom berichten mir mit einer Mischung von Genugtuung und Verwunderung von der gespenstischen Leere und Stille in den sonst überfüllten, lauten Straßen und Plätzen. Und erzählen, dass jetzt Stadtviertel wie Trastevere, wo sonst die „movida“ (das jugendliche Nachtleben) tobt, jetzt die Ruhe eines Benediktinerklosters ausstrahlen (allerdings wagt niemand eine Prognose, wie lange das halten wird).

Vor allem in Norditalien, wo die Lage besonders dramatisch ist, aber auch in anderen Regionen sind inzwischen Belegschaften in Streiks getreten, weil sie gegen die unzureichenden Schutzmaßnahmen vor Ansteckungen in den Betrieben protestieren und sogar deren zeitweise Schließung fordern. „Wir sind kein Schlachtvieh!“ rufen die Arbeiter vor den Werkstoren. Ministerpräsident Conte hat jetzt versprochen, für die Betriebe Atemschutzmasken und Handschuhe in ausreichender Menge kostenlos zur Verfügung zu stellen. In einer Videokonferenz von Regierung, Unternehmerverbänden und Gewerkschaften wurden Standards zum Gesundheitsschutz im Zusammenhang mit der Corona-Krise vereinbart.

Zum Ausgleich: Musik und Gesänge aus offenen Fenstern

Man kann „den Italienern“ – diese Pauschalbezeichnung sei mir als Dazugehörige gestattet – mit gutem Grund viel Negatives anlasten. Aber eins muss man ihnen lassen: Sie sind kreativ, erfindungsreich und zäh. Oft gerade in düsteren Zeiten.

So kam es, dass an vielen Orten die unter häuslicher Quarantäne gestellten Bürger am Abend ihre Fenster und Balkone zu „musikalischen flashmobs“ der besonderen Art öffnen, bei denen der mangelnde persönliche Kontakt durch verbindende Lieder und Musikinstrumente kompensiert wird. Das „Programm“ ist vielfältig: von der Nationalhymne bis zu Opernarien und Klassik, von Jazz bis zu bekannten Stücken beliebter Liedermacher wie Celentano, Pino Daniele oder Venditti. Auf Terrassen und Balkonen mit Gitarren, Geigen, Trompeten und Saxophonen, mit Trommeln und manchmal auch Pfannen und Töpfen und hier und da begleitet von Tanzschritten und rhythmischen Bewegungen. „Wir gehören zusammen, auch wenn wir voneinander getrennt sind“ und „Wir werden es schaffen“ lauten die Botschaften.

Deutschland hat es verpasst, von Italien zu lernen

Ich drücke so heftig wie ich kann die Daumen, dass es so sein wird. Und hätte mir als eine im föderalen Deutschland Lebende gewünscht, dass man hier von den Erfahrungen in Italien (und in China) gelernt und frühzeitig zu ähnlich drastischen und einheitlichen Maßnahmen gegriffen hätte – und zwar nicht nach der epidemischen Explosion, sondern bevor es zu ihr kommt. Sie wird kommen, auch hier, wie nicht nur schon lange die Experten warnen, sondern wie auch die aktuelle Entwicklung zeigt. Diese Chance hat Deutschland verpasst: Erst jetzt, wo sich der Anstieg exponentiell beschleunigt, beginnen hier die Regierenden und viele Menschen zu begreifen, was auf dem Spiel steht. Zu lange haben die politisch Verantwortlichen wie die Kaninchen auf die Schlange nur auf die wirtschaftlichen Auswirkungen gestarrt, nur in diese Richtung gehandelt und kostbare Zeit vergeudet, die zur Eindämmung der Epidemie hätte genutzt werden konnte. Ein Versäumnis, dass nicht nur die Folgen für die Wirtschaft vergrößern, sondern auch viele Menschenleben kosten wird.