Das ist Realpolitik, Blödmann

Am 14. November berichteten wir über die Verlängerung des Abkommens, das im Spätherbst 2017 zwischen Italien und Libyen geschlossen wurde und einer damals noch aufzubauenden libyschen Küstenwache die Aufgabe übertrug, Bootsflüchtlinge nach Italien einzufangen und nach Libyen zurückzubringen. Dabei ließen wir jedoch einen Gesichtspunkt außer Acht, der erst ganz verständlich macht, warum Italien an diesem Abkommen unbedingt festhalten will, obwohl es massiv gegen die Menschenrechte verstößt.

Es war Roberto Saviano, der schon Anfang November in der „Repubblica“ („Die Absichten eines grausamen Paktes“) die Frage aufwarf, ob dieses Abkommen nicht noch ein ganz anderes Interesse verfolgt als „nur“ die Eindämmung der Migrationsströme vonLibyen nach Europa, und seine Antwort war: Es ist das libysche Öl. Wenn es so ist, argumentierte er, ist das Schüren der Angst vor einer drohenden „Invasion“ nur der Rauchvorhang, um dahinter die eigentliche Realpolitik zu machen. Was auch die erstaunliche Kontinuität erkläre, welche die unterschiedlichsten italienischen Regierungen in ihrer Libyen-Politik an den Tag legen, und warum sie sich dafür sogar mit einem Kriminellen wie Bija (über den wir berichteten) an einen Tisch setzen.

Eine materialistische Erklärung

Es ist ein alter Topos linker Analysen, dass hinter vielen den Konflikten und Kriegen im Weltgeschehen oft als eigentlicher Beweggrund „der Kampf ums Öl“ stehe. Obwohl man inzwischen gelernt haben müsste, monokausalen Welterklärungen zu misstrauen, ist doch meist „was dran“ – oft mehr, als es auf den ersten Blick scheint. Dass Italien in Libyen auch die Geschäftsinteressen des Energiekonzerns ENI verfolgt, während Frankreich versucht, dort ebenfalls Fuß zu fassen, erklärt den Bürgerkrieg, der dort gerade geführt wird: Italien unterstützt den (noch) in Tripolis residierenden al-Sarraj, weil sich wichtige Förderanlagen für Erdöl und Erdgas (und eine in Sizilien endende Erdgasleitung) im tripolitanischen Raum befinden, für die die ENI Konzessionen bis 2042 bzw. 2047 hat; Frankreich unterstützt dessen Antipoden Haftar (hinter dem auch Ägypten, die Emirate, Saudi-Arabien und Russland stehen), weil es dabei an seinen Konzern Total denkt. Es erklärt zudem, warum beide Mächte dabei auch ein bisschen Schaukelpolitik betreiben: Man weiß ja nie, wer den Bürgerkrieg letztlich gewinnt. Italien unterstützt zwar Serraj, rüstet die Küstenwache auf und schickt eine Militärmission nach Misurata, aber hält vorsichtshalber auch Kontakt zu Haftar, zumal man es sich ja auch nicht mit Ägypten verderben will. Macron schickt Haftar Militärberater, ermahnt ihn aber auch öffentlich und ganz „europäisch“, die Kriegshandlungen zu beenden.

Der „Nebensinn“ des Libyen-Abkommens

Eigentlich muss man nur eins und eins zusammenzählen, um die Bedeutung des Libyen-Abkommen für Rom zu verstehen: Es sichert nicht nur Italien (und damit auch Europa) gegen die in Libyen gestrandeten afrikanischen Migranten ab, sondern hält zumindest Italien auch die Tür zu Libyen und seinen immer noch reichen Öl- und Erdgasreserven offen (das libysche Erdöl ist technisch besonders leicht zu fördern, die noch vorhandenen Reserven werden auf 50 Mrd. Barrel geschätzt, beim Erdgas sind es 75 Mrd.). Ende 2017 war zu bestaunen, wie der der damalige PD-Innenminister Minniti in Libyen auf „Ochsentour“ ging, um sich nicht nur in Tripolis mit al-Sarraj zu treffen, sondern auch mit Stammesführern und Milizenchefs. Dies geschah eben nicht nur, um sie für ihre Unterstützung seiner Eindämmungspolitik gegenüber den Migranten zu gewinnen, sondern um bei dieser Gelegenheit auch gleich gut Wetter für die italienischen Geschäftsinteressen in Libyen zu machen. Er setzte dabei die Methode der „Politik auf Zehenspitzen“ fort, mit der die ENI seit dem Sturz Gaddafis ihre libyschen Anlagen sichert. Gäbe es in Libyen noch einen Staat samt funktionierender Regierung, wäre ein Abkommen mit der Regierung der einfachere Weg. Da es aber beides nicht mehr gibt, muss man eben dorthin gehen, wo die wirkliche Macht ist: zu den Milizen und Stammesführern.

Die  libyschen Interessen von ENI

Die libyschen Interessen von ENI

Es ist müßig, darüber zu spekulieren, welches Interesse überwog, als die italienische Regierung das Abkommen schloss. Man kann sich auf die Feststellung beschränken, dass dahinter eben ein zweifaches Interesse stand und weiterhin steht. Wenn Minniti noch heute betont, dass die „Nordgrenze der Sahara die Südgrenze Europas“ sei, meint er eben auch, dass in Libyen die Türen für die ENI und die italienische Bauwirtschaft (die in Libyen schon seit Berlusconis Zeiten an verschiedenen Projekten beteiligt ist) offen gehalten werden müssen. Wenn jetzt Stimmen laut werden, die im Namen der Menschenrechte die Kündigung des Abkommens fordern, antwortet Minniti, dass dies für Italien nur bedeuten würde, einen wichtigen noch vorhandenen Hebel zur Einflussnahme aus der Hand zu geben. Nicht nur, aber auch wegen der Migranten. Aus seiner Perspektive wäre es eine riesengroße Dummheit.

Ein Geschäft mit Kollateralschaden

Wer bei alledem – im wahrsten Sinne des Wortes – auf der Strecke bleibt, sind die Migranten, die meist aus Zentralafrika kommen. Was mit ihnen in den libyschen Lagern geschieht, müsste alle Welt inzwischen wissen. Davor Augen und Ohren zu verschließen, zeigt Europas Fähigkeit zu einem monströsen Selbstbetrug, verbunden mit schlichtem Rassismus. Die IOM schätzte die Zahl dieser Migranten Ende 2018 noch auf über 600.000, viel weniger dürften es inzwischen nicht geworden sein. Salvini machte mit dem Schüren der Angst vor ihnen Karriere. Aber auch für Minniti erweist sie sich als Instrument, um in Libyen trotz des dort ausgebrochenen Chaos politisch und geschäftlich im Spiel zu bleiben. Ein Zusammenhang, an den man sich erst einmal gewöhnen muss.

That‘s Realpolitik, stupid, wird mancher sagen. Dass auch PD-Leute in diesem Sinne Realpolitiker sind, zeigt nicht nur Minniti. Anfang 2016, als er noch Außenminister war, reiste Gentiloni nach Kairo, um das dortige Regime als Italiens „strategischen Partner“ zu feiern. Er tat es in einem Moment, in dem wenige Tage zuvor die Leiche des Studenten Regeni in einem Kairoer Straßengraben gefunden hatte, mit Folterspuren, die auf das Werk von al-Sisis Geheimdienst hinwiesen (was inzwischen Gewissheit geworden ist). Gentiloni begründete es mit dem übergeordneten Interesse, den Islamischen Staat zu besiegen, wozu auch die Unterstützung Ägyptens gebraucht werde. Dass es da noch ein zweites Interesse gibt, erwähnte er nicht: Im Sommer 2015 hatte die ENI vor der ägyptischen Küste eines der größten Erdgasfelder der Welt entdeckt – und hofft seitdem, an seiner Erschließung beteiligt zu werden. Hier ging es „nur“ um die Ermordung eines italienischen Studenten, dort geht es „nur“ um das Leben von 600.000 Afrikanern. In beiden Fällen gibt es etwas anderes, das mindestens genauso wichtig ist.

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