„Es liegt an Deutschland“

Unter diesem Titel erschien am 1.12.2018 in „Kontext“, der Beilage zur Wochenendausgabe von „die tageszeitung“ (taz), ein Interview zur wirtschaftlichen Krise Italiens mit Heiner Flassbeck und Paul Steinhardt. Flassbeck war von 1998 bis 1999 unter Lafontaine Staatssekretär im Bundesfinanzministerium. Nach dem Ausscheiden Lafontaines aus der Regierung wurde er von dessen Nachfolger entlassen. Anschließend war er als Journalist tätig, von 2003 bis 2012 in leitender Position bei der UN-Organisation für Welthandel und Entwicklung (UNCTAD). Steinhardt war für deutsche Banken, u.a. die Deutsche Bank, vor allem in Auslandsgeschäften tätig. Gemeinsam geben sie das online-Magazin „Makroskop“ heraus.

Die Diagnose von Flassbeck und Steinhardt:

Italien kann unter den gegenwärtigen Bedingungen wirtschaftlich nicht auf die Beine kommen. Das musste dazu führen, dass die Italiener es leid sind und eine Regierung wählten, die verspricht, „etwas anders zu machen“.

Die Probleme Italiens liegen zum einen an der EU-Politik, an den Maastricht-Vorgaben und vor allem daran, dass es der Europäischen Zentralbank (EZB) untersagt ist, in größerem Stil Staatsanleihen von Staaten in Krisen zu kaufen. Mit kreditfinanzierten zusätzlichen Ausgaben könnte die italienische Regierung die Binnenkonjunktur anheizen. Die Zugehörigkeit des Landes zur Euro-Zone erlaubt es auch der italienischen Zentralbank nicht, in diesem Sinne tätig zu werden; dazu kommt, dass nach den Regeln der EU die Regierung gegenüber der eigenen Zentralbank nicht weisungsberechtigt ist, um sie zu einer Politik in ihrem Sinne zu zwingen.

Zum anderen – und vor allem – hat Deutschland die italienische Krise verursacht: Deutschland forciert seine Exporte und verdrängt damit massiv italienische Exporteure auf den EU- und den Weltmärkten. Das wird erreicht durch deutsches Lohndumping und durch das Bemühen, die eigene Inflationsrate im Vergleich zu der italienischen (und auch französischen) möglichst niedrig zu halten.

Italien hat die Vorgaben der EU – und die Empfehlungen aus Deutschland – schon seit 1992 befolgt: Strukturreformen vorzunehmen und zu sparen: „Und genau das hat nichts gebracht.“

Mein Kommentar:

In der Beurteilung der wirtschaftlichen Lage Italiens offenbart sich in eklatanter Weise die neoklassische Grundlage des Keynesianismus (dem beide anhängen), der sich gern als eine revolutionäre Abwendung vom wirtschaftswissenschaftlichen mainstream, d.h. der Neo-Klassik feiert: die Konzentration der Analysen auf Märkte und Geld und das Ausblenden der Bedingungen im Bereich der wirtschaftlich grundlegenden Verhältnisse in der Produktion. Dazu kommt eine Bagatellisierung der Risiken extrem hoher Staatsverschuldung (im Kontrast zu den oft pauschalen Dramatisierungen auf der Gegenseite).

Es liegt an Italien

In dem gesamten Interview findet sich kein einziges Wort über die erheblichen Schwächen in den italienischen Produktionsverhältnissen – außer der Behauptung, dass Italien seit 1992 deutliche Strukturreformen unternommen habe, ohne dass sich dadurch etwas an der Lage verbessert habe. Tatsächlich hat es seitens der Regierungen keinerlei wesentliche Strukturreformen gegeben, außer einigen vorsichtigen Ansätzen unter den letzten PD-Regierungen, die aber von den Wählern nicht honoriert und von der jetzigen Regierung wieder kassiert wurden. Wirtschaftsförderungs- und Infrastrukturreformen in Programm und Praxis der derzeitigen Regierung: weitestgehend Fehlanzeige.

Hinzu kommen die altbekannten Schwächen der Produktivität in vielen Unternehmen. Trotz relativ niedriger Löhne – Italien liegt dabei hinter fast allen entwickelten Volkswirtschaften in der EU – sind die Lohnstückkosten in der italienischen Industrie die höchsten, und sie steigen weiter. Das treibt die Verbraucherpreise; vor allem aber reduziert es die Exportchancen: Der Export lag – trotz einer leichten Erholung im letzten Jahr – 2017 noch um 8% niedriger als im Zeitraum zwischen 2011und 2014.

Daran sei – so die beiden – „Deutschland schuld“. Zum einen, weil es seine Inflation bewusst niedrig halte. Allerdings lag in den letzten Jahren die deutsche Inflationsrate ständig, z.T. deutlich über der italienischen; außerdem hat die deutsche Regierung wenig Instrumente, um die Inflation zu beeinflussen.

Heiner Flassbeck

Heiner Flassbeck

Zum andern – und vor allem – weil Deutschland durch Lohndumping die italienischen Unternehmen um ihre Exportchancen bringe. Die Realität ist eine andere: In Deutschland liegen die Löhne im produzierenden Gewerbe (um die es beim Export vor allem geht) seit langem um fast 40% über den italienischen, sie gehören zu den höchsten in der EU. Der deutsche Außenhandelsüberschuss, der zu Recht beklagt wird, beruht nicht auf einem Export-, sondern auf einem Importproblem: aufgrund der deutlich geringeren Löhne in den Dienstleistungssektoren (die allerdings immer noch über dem EU-Durchschnitt und den italienischen liegen) und aufgrund zu wenig öffentlicher und privater Investitionen ist die Binnenkaufkraft zu gering – eine höhere würde auch zu mehr Importen führen. Allerdings könnte dies nur zu bescheidenen Verbesserungen für Italien beitragen: Deutschland ist zwar das größte Zielland italienischer Exporte, knapp vor Frankreich und den USA. Trotzdem gehen nach Deutschland lediglich 12% des gesamten italienischen Exports. Die Exporterfolge der deutschen Industrie beruhen im Übrigen nicht primär auf niedrigen Preisen, sondern vor allem auf dem hohen Anteil hochwertiger Spezialprodukte.

Die Risiken hoher Staatsverschuldung

Der zweite Argumentationsstrang im Interview: Italien habe keine Staatsschuldenkrise, sondern befinde sich in einer Rezession auf Grund zu geringer Nachfrage und Massenkaufkraft. Deswegen müssten und könnten, ganz entgegen den Brüsseler (und deutschen, könnte man hinzufügen) Vorgaben, verstärkt anleihenfinanzierte Staatsausgaben eingesetzt werden. Schließlich sei trotz der Staatsschulden, die schon lange hoch sind, der italienische Staat nicht bankrott gegangen.

Hiergegen ist zunächst einzuwenden, dass die schon seit den 1990er Jahren praktizierte Ausweitung schuldenfinanzierter Staatsausgaben nicht dazu beigetragen hat, die inneren Strukturmängel zu beheben. Vielmehr wurden die Mängel dadurch eher verdeckt, indem man vor dem Beitritt zum Euro mehrmals die Lira abwertete und damit eine – jeweils nur kurzfristig anhaltende – Begünstigung der Exporte erreichte. Wieso sollte das in Zukunft anders sein – es sei denn, man würde die zusätzlichen Finanzmittel anders als bisher für verbesserte Wirtschaftstrukturen einsetzen.

Nach Meinung der Interviewten müsse der EZB erlaubt werden, mehr italienische Staatsanleihen aufzukaufen. Tatsächlich hat die EZB durch den ständigen Ankauf italienischer Anleihen dazu beigetragen, dass deren Zinsen relativ niedrig blieben. Zudem hat die EU mehrfach zugelassen, dass sich Italien (mit einigen anderen Ländern) deutlich höher als um 3% neu verschulden konnte. Von einem „Spardiktat“ kann man ohnehin nicht sprechen: Es wird ja selbst bei einer „schwarzen Null“ (wie derzeit in Deutschland) nicht gespart und die Staatsschuld abgebaut, sondern nur keine zusätzliche Verschuldung eingegangen. Die 3%- Norm bedeutet, dass zusätzliche Verschuldung zugelassen, aber in der Höhe begrenzt wird.

Latent liegt in Italien eine Staatsschuldenkrise in der Luft: Sie deutet sich darin an, dass ausländische Investoren zunehmend italienische Staatspapiere abstoßen; dass inzwischen 40% der Staatspapiere bei italienischen Banken liegen (nach deutlichem Druck von Seiten der Regierungen); und dass vor allem italienische Privatanleger nicht mehr bereit sind, solche Papiere zu halten oder zu kaufen (vor Jahren lagen bei ihnen noch 30%, heute sind es nur noch 5%); inzwischen liegt ein erheblicher Teil der Staatsanleihen bei der EZB und der italienischen Notenbank. Kursrückgänge der Papiere infolge weiterer Verschuldung würden vor allem die italienischen Banken in die Krise treiben und damit den Staat zwingen, sie entweder mit Steuermitteln oder neuen Schulden zu stabilisieren. Vor allem bedrohen steigende Zinsen den Staatshaushalt – wie sich ja aktuell in der Nervosität der Regierung angesichts des steigenden „spreads“ zeigt.

Eine Folge der Zugehörigkeit zum Euro-Raum ist es in der Tat, dass das Land keine eigenständige Geldpolitik betreiben kann. Wenn man das wollte, müsste Italien aus dem Euro austreten, mit der Folge einer drastischen Abwertung der Lira. Das lehnen beide ab, vor allem wegen des damit verbundenen Wertverlustes der Sparguthaben der Bürger – man sollte hinzufügen: auch wegen der Folgen für die Banken und wegen der Verteuerung der Importe, mit Folgen für die Verbraucherpreise: Die italienische Wirtschaft ist in ihrer Struktur – wie die aller entwickelten EU-Länder – nicht nur export-, sondern auch importabhängig. Völlig unerwähnt bleiben die großen Vorteile, die Italien von seiner Zugehörigkeit zum Euro hat: vor allem die niedrigen Zinsen für seine Staatsschulden. Vor dem Beitritt zum Euro waren die Zinsen für die schon damals sehr hohe Staatsschuld fast doppelt so hoch. Mit einem derartigen Zinsniveau wäre der italienische Staat längst bankrott.